«Das Volk steht bisher mehrheitlich hinter Nicolás Maduro»

«USA und ihre Verbündeten werden alles unternehmen, um die Wahlen am 22. April zu verhindern»

Interview mit alt Botschafter Walter Suter

Walter Suter (Bild thk)
Walter Suter (Bild thk)

In unseren Medien hört man wenig von Venezuela und wenn, dann nur schlechte bis verheerende Nachrichten. Es wird so ein einseitiger Informationsteppich gelegt. Sich ein objektives Bild von der Situation im Land zu machen, ist schlicht unmöglich. Walter Suter, ehemaliger Schweizer Botschafter in Venezuela und Kenner der Situation, legt im folgenden Interview die Zusammenhänge, die dahinterstehen, dar.

Zeitgeschehen im Fokus Wie sind die Schlichtungsgespräche zwischen der Regierung und der Opposition in der letzten Zeit verlaufen?

Walter Suter Leider sind die Schlichtungsgespräche, der sogenannte Dialog, zur Erarbeitung eines Abkommens, wie man friedlich miteinander umgehen und die schwierige wirtschaftliche Situation lösen will, vorerst gescheitert. In erster Linie hatte man vereinbart – dies die Forderung der Regierungsseite – dass man die wirtschaftliche Situation meistert und gemeinsam löst. Dass man die ausländischen Sanktionen beseitigt und dass die Opposition dazu beiträgt, dass die Behinderungen, die von aussen das Land schwächen, aufgehoben werden, weil dies eine wichtige Ursache der schwierigen wirtschaftlichen Situation darstellt. Ein weiterer Punkt war, dass die Souveränität geschützt wird und man sich nicht an ausländische Mächte anlehnt.

Was hat die Opposition gefordert?

Dass es noch dieses Jahr Präsidentschaftswahlen gibt, die sauber sein müssten, überprüfbar und gerecht. Es dürften keine einseitigen Propaganda- oder Publizitätsmittel zur Verfügung gestellt werden, und die Wahlen müssten auf glaubwürdigen internationalen Wahlbeobachtern beruhen. Hier war die Uno im Gespräch, die das zum ersten Mal gemacht hätte.

Warum hat man sich nicht einigen können?

Das ist eine langwierige Sache. Die ersten Gespräche haben bereits vor zwei Jahren begonnen, unter der Leitung des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero. Die letzten entscheidenden Gespräche wurden im Herbst 2017 in Santo Domingo unter seiner Leitung fortgesetzt. Vor ein paar Tagen hat man dann endlich eine Übereinkunft von etwa 90% der strittigen Punkte erzielt.

Dann ist dieses Abkommen in Kraft getreten?

Nein. Man hat danach beschlossen, dass beide Seiten nochmals nach Caracas zurückgehen und über das Wochenende die letzten Punkte bereinigen. Das ist auch geschehen. Wie vereinbart, haben sich die zwei Delegationen zwei Tage später wieder in Santo Domingo getroffen, um gemeinsam das endgültige Abkommen zu unterzeichnen. Kurz vor der Unterzeichnung erhielt Julio Borges, der Leiter der oppositionellen Delegation, einen Anruf. Der Anruf, so berichten unterschiedliche Quellen, kam direkt aus Bogotá. Am Apparat war US-Aussenminister Rex Tillerson, der gerade einen offiziellen Besuch beim kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos abstattete.

Hatte der Anruf etwas mit dem Vertrag zu tun?

Ja. Kurz nach diesem Anruf und Gespräch mit Tillerson verweigerte Julio Borges unverhofft seine Unterschrift. Trotz des zuvor in Caracas beidseitig ausgehandelten Vertragstextes blockierte die Opposition nun diesen Vertrag mit der Begründung, man müsse einzelne Aspekte nochmals überdenken.

Was waren das für Themen?

Insbesondere ging es um das Datum der Präsidentschaftswahlen. Noch letztes Jahr hatte die Opposition wiederholt die Vorverlegung der regulär für Ende 2018 vorgesehenen Wahlen verlangt. Als nun die Regierung einverstanden war, die Wahlen früher durchzuführen, und vorschlug, sie anfangs März abzuhalten, forderte die Opposition einen Termin für Ende Juni. Unter der Vermittlung von Zapatero einigten sich beide Seiten dann auf den 22. April. Das Datum war Bestandteil der letztlich in Caracas gegenseitig beschlossenen Vereinbarung, welche die Opposition in allerletzter Minute doch nicht respektiert hat.

Was hat das jetzt für Folgen?

Präsident Nicolás Maduro, der an den Verhandlungen selbst nicht anwesend war, entschied, das Dokument dennoch zu unterzeichnen, in der Hoffnung, dass die Opposition sich dadurch umstimmen liesse. In dieser Situation, und das ist öffentlich bekannt geworden, hat Zapatero und der zweite Verhandlungsführer, Danilo Medina, Präsident der Dominikanischen Republik, einen Brief an die oppositionelle Delegation geschickt, in dem sie noch einmal betonen, dass man zwei Jahre verhandelt habe und dass eine Lösung ausschliesslich über den Dialog möglich sei, und hat sie mit eindringlichen Worten aufgefordert, mit der Unterschrift diese Vereinbarung anzuerkennen. Sowohl der Brief als auch die Vereinbarung sind öffentlich zugänglich. Damit bestätigt Zapatero, dass die Opposition in dieser Situation eine friedliche Lösung boykottierte.

Was bedeutet das jetzt in Bezug auf den Wahltermin?

Die Regierung will bei diesem 22. April bleiben, da dieser Termin einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition darstellt. Die verfassungsgebende Versammlung hat dem Wahlrat bereits den Auftrag gegeben, die Wahlen für den 22. April zu organisieren. Diese Vorbereitungen laufen bereits. Es ist die 24. Wahl oder Abstimmung in 19 Jahren. Die Urnengänge waren bisher, wie hinlänglich bekannt, immer transparent und rechtmässig.

Was geschieht jetzt im Vorfeld des Wahlgangs?

Wie immer sind bei den Vorbereitungen sämtliche politische Parteien eingeladen mitzumachen, insbesondere auch bei den Überprüfungsschritten. Dieser Ablauf ist gestartet, und die Regierung hat betont, dass sie an diesem Termin festhalten werde. Die Kandidaten für die Präsidentschaft können dann am 22. April gewählt werden. Der Partido Socialista Unido wie auch die kommunistische Partei sowie einzelne linke Parteien unterstützen die Kandidatur von Nicolás Maduro.

Wie sieht das auf Seiten der Opposition aus?

Teile der Opposition haben wissen lassen, dass sie bei den Wahlen nicht mitmachen wollen, weil es «unlautere Wahlen» seien. Unterstützt werden sie von den dominanten internationalen Medien, die jetzt wider besseres Wissen eine Kampagne gegen die Rechtmässigkeit der Wahlen gestartet haben. Kleinere Parteien hingegen haben angekündigt, dass sie an den Wahlen teilnehmen wollen. Es zeichnet sich also in der letzten Zeit eine Spaltung innerhalb der Opposition ab, ähnlich wie bei den kürzlichen Regional- und Munizipalwahlen.

Wie lässt sich das erkennen? Bei uns hört man darüber eigentlich nichts.

Die vier grössten Parteien, «Primero Justicia» mit ihrem langjährigen Vorsitzenden Julio Borges sowie «Voluntad Popular» mit dem unter Hausarrest stehenden Führer Leopoldo López, aber auch «Acción Democrática» (AD) unter der Führung von Ramos Allup sowie «Un Nuevo Tiempo» (UNT) mit Manuel Rosales treten nicht zur Wahl an. Es gibt jedoch Parteien, die mitmachen, wie z. B. die traditionellen Parteien «COPEI» (Christdemokraten) und «Movimiento al Socialismo» (MAS) sowie «Avanzada Progresista». Letztere hat bereits einen eigenen Präsidentschaftskandidaten nominiert, nämlich Henry Falcon, der bis vor kurzem Gouverneur des Teilstaats Lara in Barquisimeto war und ehemaliger Kampfgefährte von Hugo Chávez ist.

Welche Chancen haben diese einzelnen Kandidaten?

Wenn sich die Opposition nicht auf einen einzigen Kandidaten einigen kann, und so sieht es im Moment aus, hat sie nur eine geringe Chance, die Wahlen zu gewinnen. Wahrscheinlich ist diese Chancenlosigkeit der hauptsächliche Grund für die Nicht-Unterzeichnung des «Friedens»-Abkommens. Die Oppositionsführer ahnen, dass sie auch trotz Unterstützung von aussen, die sie bisher immer hatten, nur geringe Chancen haben. Unter diesen Umständen wollen sie nach drei massiven Wahlschlappen im zweiten Halbjahr 2017 keine erneute Niederlage und den damit verbundenen Reputationsverlust riskieren.

Hat sich denn die soziale und wirtschaftliche Lage zugunsten der Regierung verbessert?

Die Situation ist noch immer sehr angespannt. Nach wie vor unterliegt das Land massiven internationalen Sanktionen, die USA unterbinden Geldflüsse, und Konsumgüter für den täglichen Bedarf werden oft nicht oder nur mit grosser Verzögerung geliefert. Es herrscht weiterhin Hyper-Inflation, und ein grosser Teil der Bevölkerung leidet trotz der Verteilung subventionierter Lebensmittelpakete durch die Regierung immer noch unter der Versorgungsknappheit.

Wirkt sich das nicht auf das Verhalten der Wähler aus?

Wie die letzten Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen bewiesen haben, steht das Volk bisher mehrheitlich deutlich hinter der Regierung Maduro, und das passt vielen nicht. Angeführt von den USA wird die Opposition versuchen, rechtsgerichtete südamerikanische Staaten und die Europäer auf ihre Seite zu ziehen, um entweder die Wahlen im Vorfeld zu diskreditieren oder nachher für ungültig zu erklären, was das Land weiter in die Isolation treibt. Wenn Nicolás Maduro jedoch wiedergewählt und erneut legitimiert wird, fällt es international schwerer, mit einer «humanitären Intervention» in das Land einzugreifen, was in letzter Zeit von den USA ja immer wieder thematisiert und gefordert wurde.

Wie sind die Wahlchancen für die amtierende Regierung?

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Nicolás Maduro wiedergewählt wird. Und das soll mit allen Mitteln verhindert werden, denn es würde die ganze Propaganda betreffend angebliche Diktatur entkräften. Darum werden die USA und ihre Verbündeten alles unternehmen, um die Wahlen am 22. April zu verhindern. Man muss sich deshalb auf alle möglichen Szenarien einstellen.

In den grossen Medien liest man, dass die Wahlen nicht demokratisch seien, weil die Regierung angeblich gewisse Parteien nicht zulasse. Wie ist hier der Sachverhalt?

Das beruht auf Gesetzen und Verordnungen, die schon länger Gültigkeit haben und nicht neu eingeführt worden sind. Das Oberste Gericht hat im Jahre 2016 verfügt, dass sich Parteien, die bei der jeweils letzten Wahl nicht teilgenommen bzw. diese boykottiert haben, sich für die nächste wieder neu einschreiben müssen, damit sie wieder teilnehmen können. Wer an den letzten Wahlen teilgenommen hat, muss dieses Prozedere nicht durchlaufen. Der Wahlrat hat die Fristen für die Registrierung publik gemacht, damit sich diejenigen, die das letzte Mal nicht dabei waren, rechtzeitig anmelden können. Die Partei Acción Democrática z. B. hat die letzten Wahlen boykottiert, hat sich aber für die Präsidentschaftswahlen neu akkreditiert. Die beiden grossen Parteien, «Primero Justicia» und «Voluntad Popular» haben die erneute Akkreditierung verweigert und sind somit für die Präsidentschaftswahlen nicht zugelassen. Sie haben sich also selbst ausgeschlossen.

Was ist mit der «Mesa de la Unidad Democrática» (MUD), nimmt sie an den Wahlen teil?

Die MUD ist keine Partei, sondern eine Wahl-Allianz einzelner Parteien. Das Oberste Gericht, das Hüter der Verfassung ist, hat jüngst mit einem Beschluss die Frage wie folgt geklärt:

Es ist verfassungswidrig, dass ein Kandidat zweimal aufgestellt wird, d. h., er tritt entweder für die MUD als Partei oder als Vertreter einer Einzelpartei an. So darf sich die MUD also als einzelne Partei einschreiben, aber nicht als Allianz.

Herr alt Botschafter Suter, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Bern

«USA wollen führende Weltmacht bleiben»

Interview mit Gotthard Frick, Economist & Business Administrator Dipl. Sciences Po & Sorbonne, Paris.

Gotthard Frick (Bild zvg)
Gotthard Frick (Bild zvg)

Die Münchner Sicherheitskonferenz wurde zur Bühne der Kriegstreiber. Anstatt dass die Staaten aufeinander hätten zugehen können, wurden bereits im Vorfeld die Positionen abgesteckt. Nachdem der US-amerikanische Präsident Donald Trump ca. zwei Wochen vor der Konferenz die zukünftige Strategie der USA bekanntgegeben hatte, nämlich eine Abkehr vom Krieg gegen den Terror hin zum Kampf um die Weltmacht. In dem man bei einer militärischen ­Auseinandersetzung auch auf sogenannte Mininukes (kleine Atomwaffen) setzt, bleibt den mächtigen Staaten wie Russland oder China kaum eine andere Wahl, als ihre Position zu bekräftigen, ebenfalls ihre Interessen auf dieser Welt verteidigen zu wollen, indem sie mit eigenen Rüstungsanstrengungen reagieren. Dass in unseren Medien vor allem Russland als Aggressor dargestellt wird, war zu erwarten. Kaum jemand ruft zur Vernunft auf. Die allgemeine Lage wird immer ungemütlicher, man fühlt sich an das machtpolitische Gerangel im Vorfeld des Ersten Weltkriegs erinnert. Es muss alles daran gesetzt werden, dass dieser strategische Poker beendet wird und Vernunft Einzug hält, um so den Weg der Verhandlungen einzuschlagen. Im folgenden Interview, das bereits vor der Münchner Sicherheitskonferenz geführt worden ist, entwirft der weltgereiste Schweizer Sicherheitsexperte, Gotthard Frick, ein differenziertes Bild der heutigen Sicherheitslage und überlegt, wie man das Verhältnis der Grossmächte verbessern könnte.

Zeitgeschehen im Fokus Wie beurteilen Sie die internationale Sicherheitslage, besonders in bezug auf Russland und die USA, wobei sich auch die Frage nach der Rolle Chinas stellt?

Gotthard Frick Trump hat in seinem Wahlkampf gesagt, er möchte mit Russland ein einvernehmliches Verhältnis aufbauen. Er wurde dann sogleich vom Kriegslager, z. B. Senator John McCain, Vorsitzender des Streitkräfteausschusses, und Victoria Nuland, Vizeaussenministerin der letzten Regierung, zurückgepfiffen. Heute besteht eine unklare Lage. Auf der einen Seite ist die US-Politik mit den Sanktionen sehr aggressiv, auf der anderen Seite ist Trump z. B. mit Nord-Korea plötzlich wieder für Gespräche, nachdem er vorher sagte, er wolle das Land zerstören. Man muss einmal beobachten, was sich daraus entwickelt. 

In welche Richtung geht diese Politik?

Grundsätzlich kann man festhalten, die USA wollen die führende Weltmacht bleiben. Das wird mit Trumps «America first» ausgedrückt, geht aber auch aus allen Verlautbarungen der höchsten US- Militärs hervor. Russland will als wichtige Macht anerkannt werden, als gleichwertiger Gesprächspartner. Das hat der Westen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion völlig ignoriert und im Gegenteil aggressiv ehemalige Länder der Sow­jetunion oder des Warschauer Paktes, eines nach dem anderen, zu sich hinübergezogen. Der letzte Fall ist die Ukraine. Auf der Webpage der US-Navy wurde mitgeteilt, dass die US-Flotte in der Ukraine am Schwarzen Meer, nur 300 km von der Krim entfernt, am Bau einer Marinebasis ist. Eine weitere, ungeheure Provokation Russlands, dessen wichtigster Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim liegt.

Wer war für den Staatsstreich in der Ukraine verantwortlich?

Der Sturz der Regierung wurde vom Westen orchestriert, und zwar von US-Regierungsvertretern wie z. B. Victoria Nuland, damals zuständig für die Beziehungen der USA zur Ukraine. Sie war zu Beginn des Entstehens der Opposition zusammen mit Catherine Ashton, der Aussenbeauftragten der EU, vor Ort und sprach mit den Oppositionsführern und den Menschen in Kiew.  Laut Nuland sollen die USA 5 Milliarden Dollar in den Aufbau demokratischer Strukturen gesteckt haben. Meinte sie damit den Aufbau einer Opposition im Dienste der USA?  Senator John McCain war auch in Kiew und hielt sogar eine Rede auf dem Maidan Platz (!), in der er die Opposition gegen die gewählte Regierung der Unterstützung durch die USA versicherte. («America stands with you!»). George Soros, der US-Milliardär, hat nach geglücktem Putsch damit geprahlt, seine dortige Stiftung habe bei den Ereignissen in der Ukraine massgeblich mitgewirkt. Nach dem erfolgreichen Putsch wurde der von der US-Aussenministerin bestimmte Arsenij Jazenjuk ohne Wahl zum Ministerpräsidenten ernannt.

Gab es noch andere, ausser strategische Gründe, für die starke Einmischung der USA?

Die Ukraine verfügt über wichtige Ressourcen, darunter 32 Millionen Hektaren der fruchtbarsten Schwarzerdeböden der Welt. Schon vor dem Aufbau der Opposition haben die grossen US-Konzerne Cargill, Monsanto, DuPont grosse Teile der Agrarwirtschaft, darunter 2 Millionen Hektar Böden gepachtet und später gekauft sowie Saatgutfirmen, Getreidesilos bis hin zu Teilen des Getreideverladehafens aufgekauft. Die USA kontrollieren heute einen grossen Teil der Agrarlieferkette der Ukraine. Nach gelungenem Coup wurde auch noch Hunter Biden, der Sohn des damaligen Vizepräsidenten der USA(!), in den Verwaltungsrat des grössten privaten Gaskonzerns, Ukraine Burisma Holdings, aufgenommen. Dort war neben anderen Amerikanern auch schon der Wahlkampfleiter des Aussenministers John Kerry im Verwaltungsrat. 

Was ist auf Seiten der USA passiert? Welche Rolle spielt Russland?

Fangen wir beim Ende der Sowjetunion an. Gorbatschow hatte ein einvernehmliches Verhältnis mit dem Westen gesucht, die Armee war praktisch zerschlagen, er wollte keine Konfrontation. Auch Jelzin verfolgte eine dem Westen genehme Politik. Mit Putin hat sich die Lage geändert. Er hat zwar versucht, mit dem Westen ein einvernehmliches Verhältnis aufzubauen, aber auch dem Land wieder eine Bedeutung zu geben. Als er sich eingestehen musste, dass Russ­land vom Westen schroff zurückgewiesen wurde, hat er vor rund 10 Jahren begonnen, massiv aufzurüsten, und grosse Verbände (bis zu 155 000 Mann) in kurzen Intervallen aus dem Stand zu Manövern, oft über sehr grosse Distanzen, aufgeboten, sehr oft auch zu Manövern mit den Streitkräften Chinas. Das gemeinsame Scharfschiessen von 2015 der chinesischen und russischen Flotten im Mittelmeer und das gemeinsame Flottenmanöver in der Ostsee gegen Ende 2017 hat wohl jedermann zur Kenntnis genommen. Russland baut gegenwärtig 2400 Armata-Panzer einer neuen Generation, hat die einst berühmte 1. Garde-Panzerarmee wieder aufgebaut, zusätzlich zu vielen anderen mechanisierten Verbänden, verfügt über 4 Luftlandedivisionen, eine starke Flotte mit vielen U-Booten, eine bedeutende Luftwaffe und eine sehr starke Nuklearstreitmacht. 

Warum macht Russland das? Für die Mainstreammedien ist es klar, Russ­land betreibt eine aggressive Politik. Muss man das so beurteilen?

Statt von Mainstreammedien rede ich eher von Manipulationsmedien. Russland betreibt keine aggressive Politik. Die Krim hat es erst nach dem gelungenen Putsch in der Ukraine annektiert, wie bereits 2008 am Russland-Nato-Ratstreffen für den Fall einer westlichen Übernahme der Ukraine angekündigt. Jedermann müsste an sich verstehen, dass es nicht zulassen konnte, dass die USA die Kontrolle über Sewastopol, seinen wichtigsten Flottenstützpunkt erlangen. Es hat seit mehreren Jahren deutlich gesagt, dass es die militärische Präsenz der Nato an seiner Grenze nicht akzeptieren kann. Sollte hier keine gütliche Einigung möglich sein, behält sich Russland ein militärisches Vorgehen vor. Wenn keine Vernunft auf Seiten der Nato einkehrt, sehe ich hier eine grosse Gefahr.

Wie müssen wir uns das denn konkret vorstellen? 

Russland könnte gegen die amerikanischen Truppen in den baltischen Staaten oder gegen die US-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien mit gezielten Schlägen vorgehen. Wenn dann die USA überreagieren, könnte daraus ein grösserer Konflikt entstehen.

Warum treiben die USA mit ihren Verbündeten dieses Spiel? In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hat Putin dem Westen ein Angebot für eine gemeinsame Sicherheitspolitik gemacht. Dimitrij Medwedew hat das bei seinem Besuch in der Schweiz wiederholt. Warum wird hier keine einvernehmliche Lösung angestrebt?

Seit der Kolonialzeit findet es «der Westen», heute angeführt von den USA, ganz normal, sich in ­andere Länder einzumischen mit ­Kriegen, Bombenkampagnen, ­wirtschaftlicher Erpressung, Sanktionen, Entwicklungshilfe etc., um seine Interessen durchzusetzen und ihm genehme politische Systeme und Regierungen zu installieren. Das ist eine konventionelle Kriegspolitik. Der Westen muss diese Einmischungspolitik aufgeben, sonst wird es einen Konflikt geben.

Was heisst das konkret? 

Die USA wollen die führende Weltmacht bleiben. Die Nato ist ein Instrument der USA zur Durchsetzung von deren strategischen Interessen. Dagegen kann kein Nato Mitglied aufmucken. Es wird gemacht, was die USA wollen. Es ist ein Teil der Weltmachtsstrategie, militärisch immer näher an die potentiellen Konkurrenten heranzurücken. Die USA haben ca. 900 Basen weltweit. Ich zitiere hier eine Tageszeitung der KP Chinas, die Global Times, die 2013 über die Nato und deren «Partnerschaft für den Frieden» schrieb, es seien Instrumente der USA zur Durchsetzung von deren strategischen Inte­ressen. (Dort ist die «neutrale» Schweiz Mitglied, wie seit 2014 auch bei der Interoperabilitätsplattform der Nato, bei der die Harmonisierung der Streitkräfte vorangetrieben und der gemeinsame Kampf geübt wird.) Ich möchte daran erinnern, dass die USA 1962 unter Kennedy in der umgekehrten Situation waren. Die UdSSR hatte 50 Atomraketen auf Kuba stationiert, an der Türe der USA. Präsident Kennedy drohte offen mit Krieg, wenn die Waffen nicht abgezogen würden. Chruschtschow zog sie dann zurück.

Wie sehen Sie die Rolle von China in der weltpolitischen Entwicklung?

In China ist die Lage etwas anders. China war nahezu 150 Jahre lang ein gedemütigtes, besetztes, kolonialisiertes und von den europäischen Mächten, Japan und den USA beherrschtes Land.  An den heute von uns bewunderten Gebäuden aus dieser Zeit am Fluss Huangpu in Schanghai stand: «Zutritt für Hunde und Chinesen verboten.» Das hat bei den Chinesen eine tiefe Wunde hinterlassen. Das wollen sie nie mehr erleben. Mao Zedong hat diesen Zustand beendet und begonnen, China als wichtige Macht aufzubauen. Heute will die neue Führung, dass China als globale Macht anerkannt wird. Mit historischen Gegebenheiten versucht sie, heutige territoriale Ansprüche zu legitimieren. Von Indien bis Südkorea hat es deshalb Grenzstreitigkeiten, die in jüngerer Zeit auch schon zu Kriegen geführt haben (mit Indien und Vietnam).

Es geht doch wohl auch um die Kontrolle der Transportrouten?

Das Südchinesische Meer ist die wichtigste Wasserstrasse der Welt. Der grösste Teil des Welthandels geht über diese Route. Die wollen die Chinesen unter ihre Kontrolle bringen und bauen auf dortigen Inseln Flug- und Flottenstützpunkte. Nicht verwunderlich, dort sollen auch grosse Rohstoffreserven liegen. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Staaten im Umfeld Chinas, von Südkorea über Japan bis Indonesien und Indien sich damit abfinden, dass diese für ihre Versorgung und ihren weltweiten Handel so wichtige Verbindung ganz von China beherrscht wird. Diese konkurrierenden territorialen Ansprüche könnten zu einem grösseren militärischen Konflikt führen. Solange keine neue Lösung für derartige Konflikte gefunden wird, ist ein solcher fast unausweichlich. Am 4. Februar 2018 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» unter dem Titel «Wir werden alle zur Hölle fahren» einen ganzseitigen Artikel zu dieser Möglichkeit. 

Worin sehen Sie die Ursachen, dass sich China so verhält und sein Territorium rundherum absichert?

Im Gegensatz zur heutigen Schweiz im Konsumrausch sind die Chinesen Realisten und wissen, wie die Welt funktioniert. Wie schon gesagt, die langen Jahre des Leidens sind dort im kollektiven Bewusstsein noch sehr präsent, und sie wissen, welche Folgen Wehrlosigkeit für ein Volk hat. Die meisten Länder, mit denen China Grenzkonflikte gehabt hat, sind Verbündete der USA. Hätte China einen Konflikt mit Japan um die Diaoyu/Senkaku-Inseln, dann wäre das mit einem Verbündeten der USA. In der chinesischen Presse wurde ganz klar gesagt, wenn die USA glaubten, einen regionalen Konflikt mit taktischen Atomwaffen gewinnen zu können, würde China sein gesamtes Atomwaffenarsenal auf die USA abfeuern. Man darf auch nicht vergessen, dass China Taiwan als Teil seines Territoriums sieht und ganz offen und offiziell mit Krieg droht, sollte sich Taiwan für unabhängig erklären. Beide Seiten rüsten stark auf, Taiwan mit Hilfe der USA.

Inwieweit sorgt auch das Projekt der Chinesen, die Wiederbelebung der Seidenstrasse, bei den USA für Unmut? Es erinnert an das Projekt der Deutschen mit der Berlin-Bagdad-Bahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wettlauf mit Grossbritannien um die Ölvorkommen.

Das sehe ich auch so. Die chinesische Führung scheint mir aussenpolitisch sehr fähig und taktiert sehr geschickt. Mit dem Projekt der Seidenstrasse geht es ganz klar um den Aufbau eines neuen grossen Marktes mit intensivem Handel, auf dem China der primus inter pares wäre. Damit würde längerfristig eine festere Verbindung zwischen China, Russland und Europa und anderen Ländern hergestellt. Damit holen sie natürlich Nationen, die hauptsächlich mit den USA wirtschaftlich verbunden sind, mindestens teilweise auf ihre Seite.

Wenn Sie das so zeichnen, dann sind die Ursachen eines möglichen Konflikts schon jetzt klar auf dem Tisch. Die Frage stellt sich natürlich, wie man es verhindern kann, dass es hier zu einer grossen Auseinandersetzung kommt. Wie könnten die Staaten friedlich koexistieren, dabei ihre Souveränität behalten und sich im Positiven unterstützen?

Die Atommächte müssten – das wäre eine Aufgabe für die Schweiz – zu einer Konferenz einberufen werden, um die Fragen zu diskutieren, wie man diese Konflikte beenden und eine dauerhafte Lösung finden könnte. Dazu gehörte es, weltweit die westliche Einmischungspolitik zu beenden. Jedes Land soll für sich selber verantwortlich sein. In der genannten «Global Times» und der «Asian Review» konnte ich vor einiger Zeit am Beispiel der Diaoyu/Senkaku Inselchen vorschlagen, China solle im Atomwaffenzeitalter der Welt ein Beispiel geben. Es solle versuchen, mit Japan für die Inselgruppe eine neue Form der Souveränität zu entwickeln, eine gemeinsam ausgeübte Souveränität, mit z. B. einem chinesischen und einem japanischen Gouverneur, die abwechselnd amtieren bzw. still sitzen. In diesem Rahmen müsste ein Schlüssel entwickelt werden, gemäss welchem die dort vermuteten grossen Ressourcen aufgeteilt werden. Dazu könnten Grössen wie die Bevölkerung, die Wirtschaftsleistung und andere Parameter herangezogen werden. Ein hoher chinesischer General wurde zu meinem Artikel befragt und sagte natürlich, die chinesische Souveränität gehe vor. Mein Artikel und das Interview mit ihm wurden dann gleichzeitig veröffentlicht. Die Staaten, die Welt und ihre Menschen müssten sich bewusst werden, was es für Folgen haben wird, wenn man die Politik der Konfrontation so weiter betreibt, wie seit Anfang der Menschheit. 

Herr Frick, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Basel

Das Schweizer Staatswesen basiert auf dem freiwilligen Engagement seiner Bevölkerung

von Thomas Kaiser

Kaum ein Land unserer Erde hat ein so fein austariertes politisches System wie die Schweiz. Wenn man vom Bürgerstaat sprechen will, dann ist es die Schweiz, die dieses Prädikat als erste verdient hat. Ein Staat, der von der Anlage her vollständig von seinen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird.

Besonders mit der direkten Demokratie, dem Föderalismus sowie der Gemeindeautonomie haben die Urväter der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein filigranes Staatswesen geschaffen, das den Bürgerinnen und Bürgern ein ausserordentliches Mass an politischer Mitbestimmung ermöglicht und ihnen eine entsprechend hohe Verantwortlichkeit überträgt. Der ehemalige Schweizer Diplomat und Autor Paul Widmer schreibt in seinem lesenswerten Buch «Die Schweiz, ein Sonderfall»: «Die Bürger setzen das, was sie als ihr gemeinsames Interesse erkennen, selbständig um und übernehmen dafür die Verantwortung, statt diese in die Hände von Repräsentanten oder eines Funktionärsstaates zu legen.» (S. 182)

Entscheidend ist das Milizwesen

Dass unser Staat so funktionieren kann, wie er es bisher getan hat, dafür sind das reibungsfreie Ineinandergreifen von staatlichen Institutionen, verbunden mit dem hohen Mass an Freiwilligenarbeit, ausschlaggebend. Das Schweizer Staatswesen, also unsere direkte Demokratie, der Föderalismus bis hin zur Gemeindeautonomie, basiert letztlich auf dem freiwilligen Engagement seiner Bevölkerung. Fällt dieses Engagement weg, wird es zwangsläufig zu einem sukzessiven Abbau unserer direkten politischen Einflussnahme und damit zum langsamen Ende der direkten Demokratie kommen. 

Ganz entscheidend für unseren «Bürgerstaat» ist das Milizwesen, das ohne Not seit längerer Zeit unter Druck geraten ist, nicht weil es sich in der Sache nicht bewährt hätte, sondern weil es nicht in das neoliberale Wirtschaftsdenken passt, das seit über zwei Jahrzehnten auch in unserem Land immer mehr um sich greift. Alles soll zu Geld gemacht werden, der Profit steht an erster Stelle, und was nicht auf irgendeine Art Gewinn abwirft, soll abgeschafft werden. Was heute die Bürgerinnen und Bürger in Freiwilligenarbeit erledigen, wollen Menschen, die dem Neoliberalismus ergeben sind, irgendwelchen, meist selbsternannten «Profis» übergeben, die damit gutes Geld verdienen könnten, letztlich auf Kosten der Allgemeinheit. Damit würde die Verbindung der Bevölkerung zu ihrem Gemeinwesen verloren gehen. 

«Professionalisierung gegen unsere Tradition und Kultur»

Der Ruf nach «Professionalisierung» ist völlig gegen unsere Tradition und Kultur. Vieles in der Schweiz funktioniert deswegen so reibungslos, weil nicht irgendein Büro oder sonst eine Consulting-Company die Aufgaben verteilt und erledigt, sondern weil die Bürger oder Bürgerinnen zupacken, wo es mangelt.

Neben den vielen Tätigkeiten in einer Gemeinde, die durch das Milizwesen günstig, qualitativ hochstehend und zuverlässig erledigt werden können wie das Samariterwesen, die freiwillige Feuerwehr, die Stimmenzähler bei Abstimmungen, die Versorgung älterer Gemeindebewohner mit Mahlzeiten und teilweise auch in der Kinderbetreuung, sind auch die Gemeinderäte nebenamtliche Behördenmitglieder, die hauptsächlich einer Berufstätigkeit nachgehen.

«Milizpolitiker sind volksnäher als Beamte oder Berufspolitiker»

Die immer häufiger zu beobachtende Tendenz, die Zahl der Gemeinderäte verringern zu wollen und dafür den bezahlten Beamtenstaat zu vergrössern, ist mit grösster Wachsamkeit zu betrachten. Alles, was von der Verwaltung übernommen und entschieden wird, muss transparent sein und immer der demokratischen Kontrolle unterliegen.

Nicht nur auf Gemeinde-, sondern auch auf kantonaler Ebene gibt es das Milizwesen, selbst unser nationales Parlament ist als Milizparlament organisiert. Abgesehen von Liechtenstein (vgl. Interview mit Landrat Christoph Wenaweser), ist das im Vergleich mit anderen Staaten aussergewöhnlich. Und die Vorteile liegen so klar auf der Hand. Paul Widmer bringt es auf den Punkt: «Milizpolitiker sind volksnäher als Beamte oder Berufspolitiker.» (S. 182) Wenn unsere Nationalräte mit einem jährlichen Betrag entschädigt werden, der weit höher ist als der Durchschnittsverdienst eines Schweizers, hängt das damit zusammen, dass sich unsere Milizparlamentarier einen Assistenten zur Seite nehmen könnten, der sie bei ihrer anspruchsvollen Arbeit unterstützt und dafür auch entlöhnt werden müsste. Doch die Stimmen mehren sich, die die Entschädigungen für die Parlamentarier als zu hoch empfinden.

Der «Professionalisierung» eine Absage erteilen

Auch unsere Landesverteidigung beruht auf der Milizarmee. Zwar hat man sie in den letzten Jahren aus naiven Friedensvorstellungen immer mehr verkleinert, so dass vor allem von linker Seite der Ruf nach einer Berufsarmee immer lauter wurde. Doch die Schweizer Bevölkerung hat dieses Ansinnen in einer Volksabstimmung abgelehnt und damit der Milizarmee den Rücken gestärkt.

Wenn wir die Schweiz als einziges direktdemokratisches Land der Erde erhalten wollen, dann müssen wir das Milizwesen stärken und den Pseudoverlockungen einer wie auch immer gearteten «Professionalisierung» eine klare Absage erteilen. Denn was wir Bürger einmal aus der Hand gegeben haben, kann nur mit grösster Anstrengung wieder zurückgewonnen werden. Nichts ist mit unserer Demokratie und mit unserer Tradition mehr verbunden als das Milizwesen als Ausdruck des Bürgersinns.

«Triebfeder für eine Tätigkeit im Milizwesen ist die innere Überzeugung»

Interview mit dem Landtagsabgeordneten Christoph Wenaweser, Fürstentum Liechtenstein

Landtagsabgeordneter Ch. Wenaweser (Bild thk)
Landtagsabgeordneter Ch. Wenaweser (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Alles soll sich Richtung «Professionalisierung» entwickeln. Man versucht, das Milizwesen immer weiter zurückzudrängen und Freiwilligenarbeit durch sogenannte Professionalisierung zu ersetzen. Wie sehen Sie das in Bezug auf den Parlamentarismus?

Christoph Wenaweser Ich bin ein absoluter Verfechter des Milizparlamentarismus. Ein Milizparlamentarier geht in der Regel noch einer Berufstätigkeit oder einer anderen Aufgabe nach. Er ist mit den Realitäten des täglichen Lebens vertraut. Er weiss, was es heisst, im Berufsalltag zu bestehen, Geld zu verdienen, von dem dann Steuern und damit auch der Lohn des Politikers bezahlt werden. Er weiss auch, was es beispielsweise bedeutet, in einer leitenden Funktion für ein Unternehmen und seine Angestellten unmittelbar Verantwortung zu übernehmen, für Entscheidungen gerade zu stehen. Politiker, die sich nur unter ihresgleichen bewegen, leben unter einer Käseglocke und laufen Gefahr, sich von gewissen Realitäten und von der Bevölkerung fern zu halten, deren Sprache zu verlernen. 

Wie kommen Sie zu dieser Beurteilung?

Wenn wir Liechtensteiner und Schweizer mit Berufsparlamentariern aus anderen Staaten zusammentreffen, dann spürt man das. Es prallen unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Bei Milizionären herrscht in der Regel hoher Pragmatismus und der Wunsch nach Fokussierung auf das Wesentliche. Der Berufsparlamentarier läuft eher Gefahr, seine Daseinsberechtigung, die Wichtigkeit und Bedeutung von Person und Funktion in einer letztlich auch unnötig heisse Luft produzierenden Betriebsamkeit äussern zu wollen. 

Dann sehen Sie den Vorteil eines Milizparlamentariers auch in der finanziellen Unabhängigkeit?

Wer noch ein Standbein im Berufsleben, idealerweise sogar in der Privatwirtschaft hat, ist per se unabhängiger und braucht bei seinen Entscheidungen grundsätzlich weniger auf die nächsten Wahlen zu schielen. Er sollte sich eigentlich freier fühlen in seinem Tun und Lassen, authentischer sein können in seinem Auftreten, wenn er zumindest wirtschaftlich nicht auf sein politisches Mandat angewiesen ist. 

Kann der demokratische Auftrag in einem Milizparlament erfüllt werden?

Dadurch, dass der Milizparlamentarier nicht nur über ein politisches, sondern parallel dazu in der Regel auch über ein beträchtliches sozioökonomisches Umfeld verfügt, ist er mit seiner Wählerschaft eng verbunden. Er weiss, was die Bürger­innen und Bürger denken und wo sie der Schuh drückt. Er kennt den Willen seiner Wählerinnen und Wähler, den umzusetzen zu seinen Pflichten als Volksvertreter gehört.

Ein Kritikpunkt, der immer wieder zu hören ist, heisst, dass ein Milizparlamentarier sich vor allem dort einsetzt, wo der Einsatz zu beruflichem Erfolg führt. Wie sehen Sie das?

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich der Milizparlamentarier nicht nur, aber auch für jene Belange einsetzt, denen er sich durch seine fachliche und persönliche Prägung besonders verbunden sieht. Genau das ist aber eine ­Stärke des Milizparlamentarismus. ­Damit haben Berufsstände, Verbände und Interessengruppen jeglicher Art eine Chance im Parlament kompetent vertreten zu sein. Die parlamentarische Arbeit hat mich im beruflichen Fortkommen letztlich weder begünstigt noch behindert. Beruf und Politik sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Inwiefern ist es angebracht, einen Milizparlamentarier zu entschädigen?

In Liechtenstein geht man davon aus, dass die Tätigkeit als Parlamentarier ungefähr einem 30 Prozent Pensum entspricht. Dass ein damit  verbundener Erwerbsausfall in gewisser Weise entschädigt werden muss, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Überhaupt ist eine Tätigkeit als Parlamentarier zu bezahlen wie jede andere Arbeit auch, aber eben angemessen. Wesentlicher Motivator und Triebfeder für eine Tätigkeit im Milizwesen generell und somit auch als Milizparlamentarier ist jedoch die innere Überzeugung, eine bestimmte Zeit seines Lebens nach seinen Möglichkeiten einen Dienst an der Allgemeinheit leisten zu wollen.

Was ist aus Ihrer Sicht eine angemessene Entschädigung?

Bei der Festlegung einer angemessenen Entschädigung ist wohl ein gewisser Spagat zu machen. Einerseits sollte die Einbindung gut qualifizierter Persönlichkeiten in die politische Arbeit nicht allein schon an der Bezahlung scheitern, andererseits sollte sich durch die Höhe der Entschädigung das Milizsystem nicht selbst gefährden. 

Welche Vorteile sehen Sie insgesamt im Milizwesen?

Die Vorteile sind zusammengefasst nochmals: Höhere Unabhängigkeit, Pragmatismus, Fokussierung und die in der Regel weit über die Politik hinausgehende Vernetzung. In der Schweiz kommt zusätzlich häufig noch die mir gefallende Vernetzung aus dem Militärdienst hinzu. Man kennt sich, kann sich gegenseitig einschätzen, ohne stets einer Meinung sein zu müssen, und das hat eine hohe Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Effizienz in der Zusammenarbeit zur Folge. 

Führt das Milizwesen zu Deprofessionalisierung?

Milizwesen, sei das in der Armee, in der Politik, im Sozialen oder wo sonst auch immer, muss unter dem Strich zu keiner Deprofessionalisierung führen. Wo spezifisches Expertenwissen erforderlich ist, kann es beigezogen werden, aber Milizionäre sind dafür in der Regel sehr gute Generalisten, die gelernt haben, über den eigenen Gartenhag hinaus zu schauen. Das war noch nie ein Nachteil.

Welche Bedeutung hat im Milizwesen der Aspekt der Freiwilligkeit?

Freiwilligkeit ist immer der beste Antrieb. Diese Freiwilligkeit ergibt sich aus innerer Überzeugung. Ist diese nicht mehr gegeben, muss Schluss sein. Gerade auch in der Politik sollte man nicht mangels Alternativen zum Sesselkleber werden. Dieses Risiko ist bei einem Milizionär ungleich geringer als beim Berufsparlamentarier.   

Wie sehen Sie die Zukunft des Milizwesens?

Wir werden es erleben, dass das Milizwesen noch weiter steigende Bedeutung bekommen wird, nicht nur in der Politik, sondern gesamtgesellschaftlich. Das unselige Rufen nach dem Staat bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wird immer mehr ins Leere laufen. Der Staat wird auf längere Sicht gar nicht alle Aufgaben übernehmen können, die man ihm heutzutage gerne andienen möchte. Das wird sich im Rahmen des bevorstehenden demografischen Wandels akzentuieren. Der Staat alleine wird es nicht richten können und in Zukunft mehr denn je in vielen Bereichen auf Freiwilligenarbeit leistende Milizionäre angewiesen sein.

Herr Landtagsabgeordneter Wenaweser, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser,
Strassburg

«Die Samariter sind im Katastrophenfall das Rückgrat des Zivilschutzes»

Das Samariterwesen darf nicht neoliberalem Profitstreben geopfert werden!

von Susanne Lienhard

Im Artikel «Dem Schweizer Samariterwesen als Teil des Milizwesens gilt es, Sorge zu tragen» (Nr. 17/4.12.2017) haben wir die Entstehungsgeschichte des Samariterwesens und dessen grosse Bedeutung für das Zusammenleben in den Gemeinden dargelegt. Leserinnen haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass das Samariterwesen radikal umstrukturiert werde, und viele kleinere Vereine daran zugrunde gingen. Alarmiert durch diese Rück­meldungen sind wir in einem zweiten Artikel «Samariterwesen im neoliberalen Zangengriff» (Nr. 2/13.1.2018) den Hintergründen genauer nachgegangen und mussten feststellen, dass der Schweizerische Samariterbund (SSB) aus Angst, im neoliberalen Gesundheitsmarkt nicht mehr bestehen zu können, «seine Seele an den Interverband für Rettungswesen (IVR) verkauft und die rund 1000 über das ganze Land verteilten Samaritervereine verraten hat», so eine empörte Samariterin. Die Umstrukturierung der Aus- und Weiterbildung der Samariter hat nicht nur den SSB in die roten Zahlen, sondern auch zahlreiche Samaritervereine an den Rand ihrer Existenz gebracht. Der Unmut in den Vereinen ist gross, bringt doch die IVR-Zertifizierung ausser Kosten und einem immensen zeitlichen Mehraufwand fachtechnisch kaum etwas Neues. Die Flut an neuen Vorschriften droht aber, das auf dem Milizgedanken basierende Samariterwesen empfindlich zu schwächen.

Die Kantonalverbände Aargau und Solothurn fordern nun vom SSB eine Rückkehr zur bewährten Aus- und Weiterbildungspraxis des SSB. Werner Bolliger vom Aargauer Samariterverband sagt: «Wir haben bis jetzt eine sehr gute Aus- und Weiterbildung gehabt vom Schweizerischen Samariterbund. Man hat jetzt den Bogen überspannt, man will viel zu viel Professionelles. Die Zertifizierung ist zu wenig mit den Vereinen abgesprochen worden.» Deshalb fordert er vom SSB: «Nur Projekte starten, wenn sie auch sorgsam begleitet und von der Basis getragen werden können.»1 

 

Samaritereinsatz bei einem Grossanlass (Bild SSB)

Die zahlreichen unnötigen IVR-Vorschriften drohen die Freude am Helfen, die intrinsische Motivation, freiwillig einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, zu ersticken. Das darf nicht sein! Samariterinnen und Samariter orientieren sich an den sieben Grundsätzen des Roten Kreuzes, bilden sich stets weiter, um medizinisch auf dem neusten Stand zu sein. Mit ihrer Tätigkeit säen sie Samenkörner der Menschlichkeit, in einer Welt, die zunehmend von Konkurrenz, Wettbewerb, Gewinnstreben und dem «Survival of the fitest» geprägt ist. Wir haben allen Grund, uns mit vereinten Kräften auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen für den Erhalt des Samariter- und damit auch des Milizwesens einzusetzen. 

Die folgende Auswahl von Leserzuschriften langjähriger Samariterinnen und Samariter geben Einblick in die verzweifelte Lage vieler Vereine. 

«Ich will kein Marktteilnehmer sein – ich will schlicht Erste Hilfe leisten»

Ich danke der Redaktion ganz herzlich für diesen offenen Artikel. Ich bin dem Samariterverein seinerzeit beigetreten, um mein in der Sanitäts-RS und den WKs erworbenes Wissen zu erhalten und zu trainieren. Was hingegen jetzt läuft, hat nicht mehr viel damit zu tun. Ich will kein Marktteilnehmer sein und irgendwelche (private?) Rettungsdienste konkurrenzieren. Ich will schlicht Erste Hilfe leisten und dabei moderne Mittel für Verbände, Festhaltungen und lebensrettende Sofortmassnahmen benutzen können. Dafür brauche ich eine Tasche mit Basis-Material und allenfalls bei grösseren Anlässen etwas mehr. Ich kann Herzmassage und Defi anwenden, auch ohne dass mir jemand einen Fahrausweis dafür gibt. Schliesslich gilt bei der Ersten Hilfe «nur Nichtstun ist falsch».

Mich interessieren keine Zertifikate und schon gar nicht, ob jetzt das S beim Samariter-Logo mit dem Kreuz zusammenhängen kann oder nicht (wegen dieser kleinkarierten Logo-Diskussion sind Tausende von Franken für neue T-Shirts, Jacken und Pullover ausgegeben worden!).

Aber anscheinend sind wir unter anderem dank unserer Politiker diesem neoliberalen Denken im Gesundheitswesen hilflos ausgeliefert. Was nützt unser Protest, wenn diese Ideologie sich dank der Rahmenbedingungen fröhlich ausbreiten darf? Das haben wir davon, wenn wir Menschen in Parlamente und Regierungen wählen, die an den Markt glauben und nicht an Menschen.

Pfarrer Dr. Joachim Finger, Beringen, SH

Unmöglicher Spagat zwischen IVR-Vorgaben und Realität 

Einer der Gründe, warum der Samariterverein Hausen aufgelöst wurde, ist beim IVR zu suchen. Er­stens muss jeder lokale Samariterverein 200 Franken Jahresprämie an den IVR zahlen. Dann sind die Vorgaben des IVR für kleine Samaritervereine schlicht nicht umsetzbar. Unsere Samariterlehrerin hat bisher Firmen-, Bevölkerungs- und Samariterkurse erteilt. Nun hat der IVR die Anzahl der jährlich zu erteilenden Kursstunden für Kursleiter und Samariterlehrer massiv erhöht. Schon grosse Vereine mit Samariterlehrern im Pensionsalter können das fast nicht mehr leisten. Da unsere Samariterlehrerin als Berufstätige eines kleinen Vereins unmöglich die 50 Stunden Kurse erteilen kann, ist sie nun abgestuft worden und darf viele Kurse gar nicht mehr geben. Die ­Einnahmen durch Firmen- und Bevölkerungskurse fallen also für unseren Verein weg, und gleichzeitig entstehen immense Mehrkosten für Zusatzausbildung, neues Kursmaterial, Umschulung, Jahresprämie für den IVR etc. Ich bin von Pontius zu Pilatus geweibelt, habe unsere Situation beim Kantonalverband und beim SSB vorgebracht, bin aber auf keinerlei Echo, geschweige denn Hilfe gestossen. Ich bin seit 38 Jahren Samariter, seit 15 Jahren Präsident unseres Vereins und habe im Zivildienst die Sanitätshilfestelle von vier Gemeinden geleitet. Von Beruf bin ich Chauffeur und habe diese Milizarbeit mit Herz und aus Überzeugung gemacht. Da kein Vorstandsmitglied unseres Vereins den Spagat zwischen IVR-Vorgaben und Realität machen kann, haben wir den Verein schweren Herzens aufgelöst. 

Mein Sohn ist kürzlich von einer Einführungsveranstaltung des Zivilschutzes nach Hause gekommen und hat gesagt: «Du Papi, die haben uns erzählt, dass in einem Katastrophenfall die Samariter das Rückgrat des Zivilschutzes seien. Da haben wir nun aber ein handfestes Problem, unseren Verein gibt es ja schon nicht mehr!» Er hat recht, der Samariterverein Hausen ist nur einer von vielen kleinen Vereinen, die unter der Last der IVR-Vorgaben zusammenbrechen. Ich kann es nicht anders sagen, der IVR ist ein Gangsterverein! 

Rolf Braunschweiler, Präsident Samariterverein Hausen, AG

«Viele gute Lehrer haben aufgehört»

Ich bin selbst Samariterlehrerin im Weinfelder Verein. Ich kann Ihnen nur zustimmen. Es war ein riesen Fehler, dass wir mit dem IVR und der ganzen Zertifizierung mitgemacht haben. Es ist ein riesen Aufwand, der schlussendlich nichts bringt und sehr teuer ist. Es ist wirklich so, dass viele gute Lehrer aufgehört haben, da der Aufwand für jeden von uns enorm zugenommen hat. Die Kontrolle und die Vorschriften sind enorm. Wenn jemand noch berufstätig ist, ist es bald nicht mehr möglich, seinem «Hobby Samariter» zu frönen. Wir gelten immer noch als Laien und müssen doch professionell immer mehr Kurse absolvieren. Das geht nicht auf. Der bürokratische Aufwand ist ebenfalls enorm. Und leider stimmt es auch, dass vieles im Internet nicht so läuft, wie es sollte. Wenn ich z. B. auf die Lehrmittelplattform gehe, muss ich mindestens zweimal ein Passwort eingeben, wenn ich noch mehr Infos haben will, muss wieder ein Passwort eingegeben werden … Es ist sehr mühsam. Auch wird von uns verlangt, dass wir immer wieder auf diese Plattformen gehen, da die Kurse ständig erneuert werden und wir nicht benachrichtigt werden, wenn es Änderungen gibt. Wir sind immer in der «Holschuld». Danke, dass Sie den Artikel geschrieben haben.

Caroline Brauchli, Samariterlehrerin Weinfelden, TG

«Ist Nächstenliebe so veraltet…?»

Wir kleineren Agglomerationsvereine kämpfen ums Überleben. Die Lehrmittelabgaben sind ein Paradebeispiel dafür: Früher gab es Kursabgaben, welche pro Teilnehmer an den SSB abgegeben wurden (für Kursunterlagen, Zertifikat). Die neuen Lehrmittel können ausschliesslich digital auf einer Plattform benutzt werden. Da wir kein WLAN im Kurslokal haben, müssen wir alles ausdrucken. Die Fallbeispiele, Puzzles, Planspiele … müssen ebenfalls alle selber ausgedruckt und teilweise laminiert werden – nichts mehr wird zur Verfügung gestellt oder könnte im Warenshop bezogen werden. Trotzdem kostet das neue Lehrmittel den SSB jährlich 700 000 Franken. Ab 2018 werden diese ­Lehrmittelkosten weniger über Teilnehmerabgaben finanziert, sondern auf die Anzahl Kursleiter 1 und 2, Samariterlehrer und Jugendtrainer abgewälzt. Unser Verein mit zwei Kursleitern/Samariterlehrern im Doppelamt muss alleine für die Lehrmittelbenutzung, unabhängig davon, wie viele Kurse erteilt werden, jährlich einen Pauschalbetrag von 1044.70 Franken dem SSB bezahlen. 

Rechnet man die obligatorischen Weiterbildungen der Kursleiter und Samariterlehrer und die 200 Franken Jahresabgabe an den IVR dazu, so entstehen unserem Verein nun fast 6-mal höhere jährliche kursbezogene Abgaben als vor 2017. Waren die Kurse bis anhin eine wichtige Einnahmequelle, müssen wir heute schauen, dass sie wenigstens kostendeckend sind. 

Wir sind der Meinung, dass seitens des SSB rascher Handlungsbedarf besteht. Warum geht es schlussendlich nur immer ums Geld – auch bei Tätigkeiten am und für Mitmenschen? Ist Nächstenliebe so veraltet, obwohl sie z. B. im Gründungsprotokoll unseres Vereins schriftlich festgehalten wurde, und wir nach den Richtlinien des Roten Kreuzes arbeiten?

Rita Unternährer, Kursleiterin 2 SSB, Samariterlehrerin, Root, LU

«Ich hoffe, dass die Schweiz aufgerüttelt wird»

Sie sprechen mir wirklich aus dem Herzen. Ich hoffe, dass die Schweiz etwas aufgerüttelt wird durch diesen Artikel und auch höhere Verantwortliche aus dem Bereich des Samariterwesens und des Bevölkerungsschutzes von dieser Situation Kenntnis bekommen.

Es macht wirklich nicht mehr so viel Spass wie auch schon, sich im Samariterwesen zu betätigen. Auch in unserem Verein hat eine langjährige Kursleiterin aufgehört, und die zwei verbleibenden Kursleiterinnen drehen teilweise wirklich fast «im roten Bereich». Zum ganzen Ärger kommt auch noch die finanzielle Belastung. Ein Verein braucht einen Kursleiter zum Erteilen von Bevölkerungskursen und zusätzlich einen Samariterlehrer für die Vereinsübungen. Obwohl die Aus- und Weiterbildungen gleich sind, darf ein Kursleiter nicht die Übung durchführen und ein Samariterlehrer keine Kurse erteilen. Beide kosten jährliche Abgaben, und zwar nicht wenig. Viele kleine Vereine haben sich nicht nur aus personellen, sondern auch aus finanziellen Gründen aufgelöst. 

Denise Widmer, Präsidentin SV Mägenwil, AG 

«Auf freiwillige Nachbarschaftshilfe absolut angewiesen!» 

Der Artikel «Samariterwesen im neoliberalen Zangengriff» spricht «unserem Verein» völlig aus dem Herzen. Wir sind eine Randregion und auf die freiwillige (non-profit) Nachbarschaftshilfe absolut angewiesen! In unserem Verein stelle ich die mittelalterliche Gruppe (45-jährig) dar. Wir sind aber gut durchmischt, und auch die jungen Mitglieder sehen die Notwendigkeit des Samaritergedankens in der kleinen Berggemeinde!

Wir hoffen immer noch, dass die Einsicht kommen wird. Gedanken, den SSB zu verlassen, stehen auch schon in der Luft.

Denise Minnig, Oberwil im Simmental, BE

 

Eines wird aus diesen Zuschriften klar: Damit die Samariter im Kata­strophenfall auch weiterhin das Rückgrat des Bevölkerungsschutzes bilden, brauchen sie jetzt die tatkräftige Unterstützung von Gemeinden, Zivilschutz und all den lokalen Vereinen, die gerne ihre Dienste in Anspruch nehmen. Die grossen und kleinen, städtischen und ländlichen Samaritervereine dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen, sondern müssen mit vereinten Kräften den Schweizerischen Samariterbund wieder auf seine ursprüngliche Aufgabe verpflichten, nämlich die Samaritervereine in ihrem Wirken zu unterstützen. Denn ohne Samariter kein SSB. Es gilt, Bilanz zu ziehen, Fehlentscheide einzugestehen und gemeinsam mit den lokalen Vereinen und den Kantonalverbänden zu überlegen, wie der Karren wieder aus dem Dreck gezogen werden kann. Noch ist es nicht zu spät! 

1 www.srf.ch/play/radio/regionaljournal-aargau-solothurn/audio/samariter-wehren-sich-gegen-zu-viele-vorschriften?id=df055651-0ada-4b72-be2a-52d609e94b94

Soziale Verbundenheit – Wie eine Gruppe von Schülern zur Klasse wurde

von Judith Schlenker

Was macht ein Lehrer, der eine neu zusammengestellte Klasse pubertierender Jugendlicher im Alter von 13 oder 14 Jahren als Klassenlehrer bekommt? Stellt er sich der Aufgabe und macht daraus eine Klasse, oder wählt er den einfacheren Weg und lässt mit Hilfe der «neuen Lernmethoden» die Kinder als ein Haufen von Individualisten vor sich hin arbeiten?

Die Schulleitung übergab mir die Aufgabe, eine neu gebildete 7. Klasse als Klassenlehrerin zu führen. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich freiwillig für die neue Klasse gemeldet, ohne zu wissen, wer ihr Klassenlehrer sein würde und wer von den Parallelklassen sich ebenfalls gemeldet hatte. Gerne übernahm ich die Aufgabe, diese Gruppe zu einer Klasse zu machen, nicht ahnend wie schwierig das sein würde.

Am Anfang vier Gruppen

Was traf ich am ersten Schultag an? Eine äusserst inhomogene Schülerschar mit etwa vier Untergruppen: Da war eine starke Mädchengruppe, leistungsorientiert und motiviert. Eine weitere Mädchengruppe kam dazu, genau das Gegenteil. Sie interessierten sich eher für alles Ausserschulische, weniger für den Schulstoff. Bei den Jungs waren es ebenfalls zwei Gruppen: eine eher stille Gruppe, etwas lethargisch ohne Leistungsmotivation, denen alles egal zu sein schien, Hauptsache, sie hatten mit den anderen nichts zu tun. Und eine weitere Gruppe mit ziemlich unruhigen, lauten, unaufmerksamen Jungs, die eher Spass suchten, als gute Noten schreiben zu wollen. Genau das Spektrum, das jeder Lehrer in seiner Klasse vorfindet. Mit einem Unterschied: jeder wollte in «seiner» Gruppe bleiben und mit den anderen nichts zu tun haben. Natürlich setzten sich im Klassenzimmer alle am Anfang dementsprechend, sodass sie in «ihren» Gruppen waren. Untereinander kommunizierten sie heftig, nicht aber mit «den anderen». Bald schon war auch das im Unterricht zu spüren: die starke Mädchengruppe schmiss den Unterricht, die anderen liessen sich bestenfalls berieseln, oder sie verlegten sich aufs Stören, um irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Das merkte man auch an den Klassenarbeiten. Im Durchschnitt waren (fast alle) Mädchen eine Note besser als die Jungs, und das durchgängig in allen Fächern.

Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren

So kann das nicht weitergehen, dachte ich mir, vor allem auch weil ich beobachtete, dass sie untereinander kaum kommunizierten. Auf dem Pausenhof standen sie in Grüppchen zusammen und liefen aneinander vorbei, als ob sie sich nicht kennen würden. Also beschloss ich nach der ersten Klassenarbeit, die Sitzordnung zu ändern. Ich begründete dies den Schülern damit, dass es in einer Klasse darum ginge, einander auch zu helfen und niemanden auf der Strecke zu lassen, und setzte jeweils einen guten Schüler (zumeist Mädchen) neben einen weniger guten Schüler (zumeist Jungs). Dies traf auf erheblichen Protest der Schüler, sie merkten aber, dass ich mir viele Gedanken gemacht hatte, wer sinnvollerweise neben wem sitzen könnte. Und sie gaben mir den Kredit, das Ganze einmal ausprobieren zu wollen.

Das klappte am Anfang in manchen Fällen gar nicht. Es mussten viele Gespräche geführt werden, vor allem mit den Mädchen, die neben den unruhigen und eher schwierigen Jungs sassen. Sie fühlten sich gestört und in ihrem Leistungsverhalten behindert. Ihre Einwände waren berechtigt, aber sie waren bereit, dies eine Weile auszuprobieren. Schliesslich hatten sie ja eine «Aufgabe», nämlich die, den Jungs zu besseren Leistungen zu verhelfen. Gleichzeitig wandten wir Lehrer im Unterricht verstärkt Aktivitäten wie Partner­arbeit oder Kleingruppenarbeit an, sodass sie gezwungen waren, miteinander zu kommunizieren, anfangs wenigstens über den Unterrichtsinhalt, später auch über andere Dinge. Die Eltern holte ich mit ins Boot, indem wir am Elternabend ausführlich über die Situation in der Klasse sprachen und ich ihnen erklärte, was ich mit der neuen Sitzordnung bezwecken wollte. Auch sie waren nach anfänglicher Skepsis einverstanden.

Gemeinschaftsfördernde Aktivitäten ausserhalb des Unterrichts

Nach wenigen Schulwochen machten wir den ersten gemeinsamen Ausflug: Wir fuhren in einen «Adventure-Park», dessen Leiter damit werben, sportliche Elemente mit gruppenbildenden Aktivitäten zu verbinden: «Vertrauen, Respekt und Unterstützung sind weitere wichtige Elemente. Die Trainer unterstützen diesen Prozess im positiven Sinne.» Ich besprach mit ihnen, was bei meiner Klasse das Problem und was mein Ziel für diesen Tag sei, und wir suchten die entsprechenden Team-Übungen aus. Trotz relativ kalter Witterung verbrachten wir einen ganzen Tag im Freien, an dem die Schüler mit kleineren oder grösseren Aufgaben, die sie wirklich nur als Gruppe lösen konnten, viel Spass hatten. Wir Lehrer beobachteten genau, um Rückschlüsse auf weitere integrative Massnahmen in der Schule ziehen zu können. Zum Schluss durften alle noch einen Sprung am Seil aus luftiger Höhe absolvieren. Natürlich konnten nicht alle das «cool» finden, aber sie gingen zufriedener nach Hause als sonst. Es folgten weitere gemeinsame Aktivitäten wie das Catering für den Theaterabend unserer Theater-AG, an dem ausnahmslos alle mithalfen und der ziemlich viel Geld einbrachte als Spende für die Kinderkrebsklinik in Freiburg. Die Spende an die Kinderkrebsklinik übergaben wir persönlich in Freiburg und verbanden dies mit einem Bummel über den Weihnachtsmarkt. Im Sommer machten wir einen Ausflug nach Konstanz und liessen uns von einem als Landsknecht verkleideten Stadtführer Sprichwörter wie «die Sau rauslassen» an verschiedenen Plätzen erklären. Ausserdem besuchten wir gemeinsam ein englisches Theaterstück an der PH Freiburg. Bei all diesen ausserunterrichtlichen Aktivitäten stellte ich fest, dass die Schüler immer selbstverständlicher miteinander umgingen und die frühere Gruppentrennung längst aufgehoben war. Die ­Schüler hatten sich miteinander befreundet.

Mädchen und Jungs und ein überraschendes Problem

Im Verlauf des Schuljahres hatte ich noch ein besonderes Erlebnis. Aufgrund einer Umstellung im Stundenplan unterrichtete ich in einer Stunde nur die Jungs, alle Mädchen mussten zu einer Sportlehrprobe der Referendarin. Ich machte eine englische Grammatik-Wiederholung und stellte dabei fest, dass meine Jungs – im Gegensatz zu sonst – sich am Unterricht rege beteiligten, gute Leistungen zeigten und aufgeweckter als üblich waren. Nach Abschluss der Übungen fragte ich sie, was denn das für eine «Vorstellung» gewesen sei, warum sie solches Verhalten nicht im normalen Schulalltag zeigen würden. Was dann kam, war für mich sehr bewegend. Sie schilderten ganz offen, dass die Mädchen ihnen viel zu schnell seien, immer die richtigen Lösungen wussten und sie gar keine Chance zum Nachdenken hätten, denn die Lehrer würden sowieso immer nur die Mädchen drannehmen. Ich sagte ihnen, sie seien doch angehende Männer, und fragte sie, ob sie sich wirklich von den Mädchen die Butter vom Brot nehmen lassen wollten. Sie könnten doch auch zeigen, was sie könnten und sich so eine positive Rückmeldung vom Lehrer holen. Sie versprachen mir, das in Zukunft stärker zu tun. In der folgenden Stunde erzählte ich den Mädchen von diesem Erlebnis. Sie waren echt betroffen, denn das hatten sie sich noch nie überlegt. Ich fragte sie, welche Lösung sie für dieses Problem sähen, und sie sagten unisono, es wäre doch gut, wenn sie sich etwas zurückhielten und erst mal sehen, was die Jungs zu sagen hätten. Eine sehr reife Stellungnahme mit einer guten Auswirkung. Einige Jungs legten sich jetzt echt ins Zeug, um den Mädchen zu zeigen, dass sie auch etwas können. Es entstand eine richtig nette Stimmung, getragen von gegenseitigem Wohlwollen, und der Unterricht wurde viel lebendiger, weil er von den Beiträgen aller lebte.

Filmprojekt zur Klassengemeinschaft

Nachdem der Deutschlehrer und ich in diesem Schuljahr schon recht früh mit dem Pflichtstoff fertig waren, entschlossen wir uns, fächerübergreifend ein Projekt zu machen: Wir drehen einen Film! Die Schüler überlegten in Gruppen eine Story. Natürlich kamen dann solche Vorschläge wie: Wir drehen einen Horrorfilm, wir drehen einen Film nach Vorbildern aus Fernseh-Serien – eben das Zeug, was sie sonst im Fernsehen anschauten. Eine Gruppe aber schlug vor, sie könnten doch einen Film machen, der die Entwicklung der Klasse zeigen würde. Sie stellten die verschiedenen Themen vor, und mein Kommentar war nur, dass sie intellektuell zu mehr in der Lage seien als einen Horrorfilm zu drehen, der dann doch nur ein müder Abklatsch von dem sei, was sie im Fernsehen sähen. Kein Wunder, dass sie sich dazu entschlossen, einen Film darüber zu machen, wie sie zur Klasse wurden! Schnell waren die Themen für die einzelnen Szenen verteilt, und sie einigten sich darauf, genau die Stationen zu zeigen, die zur Bildung einer Klasse geführt und was sie auf dem Weg dahin erlebt hatten. Dazu gehörte natürlich auch ein «Best of …» aller lustigen Ereignisse der letzten Jahre.

Auf meine Frage am Ende der Schulzeit, was denn ihrer Meinung nach die Klasse zur Klasse gemacht hätte, antworteten sie, dass es die Mädchen-Jungs-Sitzordnung und unser Gruppenbildungstag gewesen seien, die die Initialzündung gegeben hätten. Alle, ohne Ausnahme, fühlten sich wohl in der Klasse, trafen sich auch ausserhalb des Unterrichts zu gemeinsamen Aktivitäten und wollten weiterhin dazu beitragen, dass das so bleibt. Einige wünschten sich sogar die Sitzordnung zurück.

Das Verbundensein stärkt die Schüler

Aus meiner persönlichen Sicht muss ich sagen, dass es meine jahrelange Schulung in pädagogischen Fragen und die feste Überzeugung, dass das Verbundensein miteinander die Menschen stärkt, die mich nie daran zweifeln liessen, dass es möglich ist, aus einem inhomogenen Haufen eine Klasse zu machen. Nicht um des Selbstzwecks willen, sondern weil es wichtig für ihr zukünftiges Dasein als Mitbürger in einer Demokratie ist. Ich war mir sicher, dass jeder gerne mit dem anderen auskommen wollte, dass jeder gerne einen Beitrag leisten wollte und dass sie sich in der Schule nur wohlfühlen würden, wenn sie sicher waren, dass man keinen untergehen lässt, und jeder Beitrag wichtig ist. Und die Schüler brauchen und wollen eine Klassengemeinschaft; sie ist das gesellschaftliche Modell, an dem sie üben und wachsen können. 

Ich habe sie oft recht gefordert, sowohl menschlich als auch intellektuell, und sie haben mitgemacht. Niemals liess ich zu, dass jemand ausgelacht oder beleidigt wurde. Unangemessenes Verhalten und unangemessene Bemerkungen einzelner Schüler über andere wurden von mir immer als solche charakterisiert, und die Schüler mussten einen Vorschlag zur Wiedergutmachung vorlegen. Auch meine jungen Kollegen haben mich dabei unterstützt, obwohl ich am Anfang Bedenken hatte, eine ganze «Boygroup» (lauter junge Männer) in meiner Klasse als Fachlehrer unterrichten zu sehen – mit mir als «alter» Klassenlehrerin. Aber es war wohl genau diese Mischung, die der Klasse auch gut getan hat. Eines weiss ich sicher: Diese Klasse hat mich viele Nerven gekostet, aber es hat sich absolut gelohnt – sie sind zu einer «klasse Klasse» geworden! 

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