«Die Menschen in der Ukraine wollen Frieden»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

«Eine grosse Mehrheit der Ukrainer fordert eine diplomatische Lösung»

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus Wie hat sich die militärische Lage in der Ukraine in den letzten Monaten und Wochen entwickelt?

General a. D. Harald Kujat Die militärische Lage ist nach dem Scheitern der Offensive im vergangenen Jahr für die Ukraine sehr kritisch geworden und wird mit jedem Tag schwieriger. Die ukrainischen Streitkräfte haben die Fähigkeit zu einer offensiven Operationsführung verloren und versuchen auf amerikanischen Rat hin, in der strategischen Defensive die hohen personellen Verluste zu reduzieren und das noch von ihnen kontrollierte Territorium zu halten. Dagegen haben die russischen Streitkräfte bereits im Oktober die Initiative übernommen und setzen verstärkt an mehreren Stellen der über eintausend Kilometer langen, personell ausgedünnten Front zu Vorstössen an. Bisher halten sich die russischen Geländegewinne in Grenzen. Das taktisch geschickte russische Vorgehen bei der Eroberung von Awdijiwka und der chaotische Rückzug der ukrainischen Streitkräfte könnten jedoch symptomatisch für den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen sein.

Welches Ziel verfolgen die russischen Streitkräfte?

Es deutet alles darauf hin, dass Russland die vier annektierten Regionen in den Grenzen der ehemaligen Verwaltungsgebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, vollständig erobern und die Eroberungen konsolidieren will. Ob auch Charkiw und Odessa zu den strategischen Zielen Russlands gehören, ist bisher nicht eindeutig zu erkennen. 

Man kann also sagen, die hohen Verluste der Ukrainer sind ein wichtiger Grund, warum sie das kontinuierliche Vorwärtsschreiten der russischen Armee nicht verhindern können.

In drei für eine erfolgreiche strategische Defensive wichtigen Bereichen ist die Ukraine gegenwärtig äusserst verwundbar: in der Luftverteidigung, wegen des Mangels an Artilleriemunition und insbesondere aufgrund der grossen Defizite an ausgebildeten Soldaten. Wobei sich diese Defizite in ihren negativen strategischen Auswirkungen wechselseitig verstärken. 

Aber das ukrainische Parlament hat doch inzwischen ein Gesetz verabschiedet, das die Personallücke schliessen soll.

Das hat jedoch fast ein Jahr gedauert, und es wird noch einige Zeit vergehen, bis das Gesetz umgesetzt ist und die neuen Soldaten ausgebildet sind. Das Mobilisierungsgesetz ist ein Kompromiss zwischen dem Ziel, einerseits die hohen Verluste zu ersetzen und die in zwei Jahren Kampfeinsatz erschöpften Soldaten abzulösen sowie anderseits dem zunehmenden Widerstand der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Das ukrainische Volk will endlich Frieden. Deshalb verlangt eine grosse Mehrheit – das zeigen die jüngsten Umfragen – eine diplomatische Lösung. Das Alter der Wehrpflichtigen wird von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt. Hinzu kommt eine Mischung aus finanziellen Anreizen und Strafen für diejenigen, die in zunehmender Zahl versuchen, sich dem Dienst mit der Waffe zu entziehen. 

Wird das der Ukraine helfen?

Die Ukraine hat grosse demographische Probleme. Ob die angestrebte Zahl von 400 000 neuen Soldaten erreicht wird, ist wegen der Altersstruktur der männlichen Bevölkerung fraglich. Die Jahrgänge der Zwanzig- bis Dreissigjährigen sind zahlenmässig sehr schwach; sie betragen im Durchschnitt weniger als 200 000 junge Männer, von denen viele bereits sehr früh das Land verlassen haben.

Die Angriffe auf die Ölinfrastruktur Russlands werden weiterhin im Westen als grosser militärischer Erfolg bezeichnet. Ebenso, dass die Ukraine immer noch grosses militärisches Potential habe. Wie ist es wirklich?

Weil die Ukraine zu einer initiativen Landkriegsführung nicht mehr in der Lage ist, versucht sie militärische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, indem sie Ziele in Russland angreift. Deshalb sollte Deutschland den Marschflugkörper «Taurus» liefern, denn damit können strategische Ziele in der Tiefe Russlands erfolgreich zerstört werden. Durch Angriffe mit Drohnen auf fast die Hälfte der russischen Raffinerien hat die Ukraine bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist. Doch seit Ende März übt Russland Vergeltung, indem es die ukrainische Energieinfrastruktur angreift, Kraftwerke, Elektrizitätswerke und so weiter. Das Gleiche geschah im Winter 2022/23, als Russland nach dem Anschlag auf die Brücke von Kertsch wochenlang Angriffe auf die ukrainische Versorgungsinfrastruktur durchführte. Denn die Verbindung über die Brücke von Kertsch mit Russ­land war zu diesem Zeitpunkt nicht nur wichtig für die Versorgung der russischen Streitkräfte, sondern auch die Lebensader für zwei Millionen Krimbewohner. 

Wenn man den Berichten der Medien folgt, sind die mangelnden Waffenlieferungen aus Europa an dem bisherigen Scheitern der Ukraine schuld. Deutschland wird ein weiteres Patriot-Luftverteidigungssystem liefern, und eine Gruppe anderer europäischer Länder unter der Führung Tschechiens kauft weltweit Artilleriemunition auf. Wenn dazu 400 000 weitere Soldaten rekrutiert werden, gäbe das der Ukraine nicht neue Kraft, die russischen Truppen zurückzudrängen? Wäre sie dann in der Lage, die strategische Situation zu ihren Gunsten zu wenden, oder ist das illusorisch?

Das ist in der Tat die entscheidende Frage. So bitter es ist, trotz umfassender finanzieller und materieller Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und Europa ist es der Ukraine nicht gelungen, die strategische Lage zu ihren Gunsten zu wenden. Im Gegenteil. Im letzten Jahr wurden für die grosse, mit hohen Erwartungen begonnene Offensive zwölf ukrainische Brigaden von Nato-Staaten ausgebildet und mit modernen Waffen ausgerüstet, um die russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Die Offensive ist mit grossen Verlusten gescheitert. Da die Lage der ukrainischen Streitkräfte seitdem immer kritischer wird, steigt der Druck auf den Westen, die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und finanziellen Zuwendungen zu verstärken. Zugleich beginnen bereits Schuldzuweisungen für den Fall, dass die Ukraine eine militärische Niederlage erleidet. In diesem Sinne hat ein deutsches Regierungsmitglied kürzlich in Kiew kritisiert, die Entscheidungen über Waffenlieferungen hätten zu lange gedauert und seien zu spät erfolgt. Er schäme sich zutiefst dafür. Welche Waffensysteme zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise den Kriegsverlauf hätten ändern können, hat er allerdings nicht erklärt.

Wenn die Unterstützung noch länger fortgesetzt oder sogar verstärkt wird, werden die Länder des Westens wohl ziemliche Probleme bekommen.

Die Bundesregierung und die Europäische Union wollen die Ukraine finanziell und materiell bedenkenlos «so lange wie nötig unterstützen», ohne über eine eigene sicherheitspolitische Strategie zu verfügen oder zumindest eine politisch-strategische Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen. Das politische Ziel der Ukraine ist es, die territoriale Integrität des Landes in den Grenzen von 1991 wieder herzustellen. Voraussetzung dafür wäre ein militärischer Sieg in dem Sinne, dass die russischen Streitkräfte alle von ihnen eroberten Gebiete einschliesslich der Krim aufgeben müssten. Einige westliche Politiker, die sich darüber im Klaren sind, dass der Krieg mit einer diplomatischen Lösung enden muss, fordern dagegen, die Ukraine militärisch so massiv zu unterstützen, dass sie zumindest aus einer Position der Stärke in Verhandlungen mit Russland eintreten könnte. Für beide Fälle gilt, dass die verfügbaren Mittel in keinem rationalen Verhältnis zum jeweiligen Zweck stehen. Dies scheint auch die Lagebeurteilung der Vereinigten Staaten zu sein. Sie haben deshalb der Ukraine zu einer strategischen Defensive geraten, um das noch von ihren Streitkräften kontrollierte Territorium zu halten und so die Voraussetzungen für eine künftige wirtschaftliche und militärische Stärkung des Landes zu schaffen. De facto bedeutet dies jedoch die Aufgabe der ukrainischen politischen Ziele – jedenfalls für die vorhersehbare Zukunft. Wegen der wachsenden Gefahr einer militärischen Niederlage der Ukraine sowie vor dem Hintergrund des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs und der Möglichkeit, dass Trump erneut gewählt wird, sollen nun die Europäer sowohl die amerikanischen Lasten als auch die Verantwortung für eine sichere Zukunft der Ukraine übernehmen. Anders als in Europa mehren sich amerikanische Stimmen, die sich für eine diplomatische Lösung einsetzen. Das renommierte amerikanische Quincy Institut veröffentlichte im Februar einen Beitrag mit dem Titel «The diplomatic path to a secure Ukraine». Darin heisst es, dass Waffenstillstandsverhandlungen für die Ukraine dringlich seien, da «der Krieg zu keiner stabilen Pattsituation an der Front, sondern zu einem Kollaps der Ukraine führen würde». Bereits vor einiger Zeit hatten einflussreiche aussenpolitische Berater der amerikanischen Regierung in einem Artikel eine Verhandlungslösung gefordert: «The West needs a new strategy for Ukraine: from the battlefield to the negotiating table».

Gibt es eine plausible Erklärung dafür, dass insbesondere die Europäer auf die Fortsetzung des Krieges setzen, obwohl Sie und auch andere hochrangige Militärs von Anfang an das so eingeschätzt haben, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei? Ihre Prognosen bestätigen sich offensichtlich immer mehr. 

Richtig, auch der damalige amerikanische Generalstabschef, General Mark A. Milley, hatte schon Anfang November 2022 erklärt, die Ukraine habe auf dem Schlachtfeld erreicht, was man vernünftigerweise von ihr erwarten konnte. Sie sollte sich nun an den Verhandlungstisch begeben, denn eine diplomatische Lösung sei möglich. Aber die amerikanische Regierung war offensichtlich überzeugt, Russland, neben China der wichtigste geopolitische Rivale, könnte in diesem Krieg dauerhaft politisch, wirtschaftlich und militärisch geschwächt werden. Eine von mehreren Fehleinschätzungen des «kollektiven Westens»: Als dieser Anfang April 2022 die Ukraine unter Druck setzte, die weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand und eine friedliche Lösung nicht zum Abschluss zu bringen, wurde der Ukraine offenbar zugesagt, sie für die Dauer des Krieges unkonditioniert zu unterstützen. 

Können Sie die weiteren Fehleinschätzungen beschreiben? 

An der kritischen Lage der Ukraine trägt der Westen durch falsche Lagebeurteilungen und Fehlentscheidungen ein erhebliches Mass an Mitverantwortung. Obwohl die Vereinigten Staaten bereits Monate vor dem russischen Angriff auf die Ukraine warnten, waren weder sie noch die Nato bereit, ernsthaft über die russischen Vertragsentwürfe vom 17. Dezember 2021 zu verhandeln. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte der Ukraine-Krieg verhindert werden können.

Bereits kurze Zeit nach Kriegsbeginn fanden Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russ­land über die Einstellung der Kampfhandlungen und eine friedliche Beilegung des Konflikts statt. Zunächst in Weissrussland und dann in Istanbul. Auf Druck des Westens liess die ukrainische Regierung die Verhandlungen scheitern, obwohl das bis dahin erzielte Ergebnis weitgehend ihrer Verhandlungsposition entsprach, das bereits im sogenannten Istanbuler Kommuniqué von beiden Seiten paraphiert worden war. Im weiteren Verlauf des Krieges hat sich für die Ukraine nie wieder eine derart vorteilhafte Ausgangslage für ein Verhandlungsergebnis ergeben, das ihren Interessen so weitgehend Rechnung trägt. Obwohl die Medien diese Tatsache bis heute weitgehend ignorieren, setzt sich zumindest in den Vereinigten Staaten die Wahrheit immer stärker durch. Mitte April veröffentlichte das amerikanische Magazin Foreign Affairs einen Beitrag mit dem zutreffenden Titel «The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine».

Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass umfassende westliche Sanktionen Russland zur Einstellung der Kampfhandlungen zwingen sollten, ohne eigene wirtschaftliche Nachteile. Dieses Ziel war zu keiner Zeit auch nur in greifbarer Nähe, denn das wirtschaftliche Durchhaltevermögen Russlands wurde völlig unterschätzt, und die negativen Auswirkungen der Sanktionen haben vor allem die europäischen Staaten zu tragen. 

Als besonders gravierend hat sich die Fehleinschätzung der militärischen Stärke Russlands erwiesen. Den russischen Streitkräften wurde eine geringe Kampfmoral attestiert; sie wurden als unmotiviert, schlecht ausgebildet und aufgrund veralteter Ausrüstung und Waffen als wenig durchsetzungsfähig, die militärische Führung als unprofessionell und unerfahren in moderner Operationsführung abgewertet. Dagegen wurde taktischen Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte strategische Bedeutung beigemessen und jedes vom Westen gelieferte Waffensystem hatte angeblich eine kriegsentscheidende Bedeutung. 

Ob die weiter aufrechterhaltene Fiktion eines militärischen Sieges der Ukraine auf einer falschen Lagebeurteilung beruht oder den Durchhaltewillen und die Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges sicherstellen soll, wird sich noch erweisen. Es ist jedoch ein fataler Irrtum zu glauben, dass sich die Zukunftsaussichten der Ukraine verbessern, je länger der Krieg dauert. Im Gegenteil: Die katastrophalen Folgen dieses Irrtums können nur abgewendet werden, wenn eine militärische Niederlage verhindert wird, indem die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt werden und es zu Friedensverhandlungen der beiden kriegführenden Staaten kommt.  

Hat man das in der Nato und den USA tatsächlich nicht gewusst, welche militärische Stärke die russische Armee besitzt?

Offensichtlich haben zu Beginn des Krieges beide Seiten Fehler gemacht. Russland begann die Invasion mit relativ schwachen Kräften, etwa 190 000 Mann, gegen eine ukrainische Armee, die mit über 400 000 Mann mehr als doppelt so stark und vom Westen jahrelang ausgebildet und ausgerüstet worden war. Da ein erheblicher Anteil der ukrainischen Streitkräfte im Süden und Südosten des Landes konzentriert war, ging die russische Führung anscheinend davon aus, es könnte gelingen, Kiew im Handstreich einzunehmen und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Dass dieses Unternehmen unter hohen Verlusten scheiterte, hat sicherlich zur russischen Verhandlungsbereitschaft beigetragen. Wegen des sehr positiven Verlaufs der Istanbul-Verhandlungen wurden die russischen Streitkräfte sogar als Zeichen des guten Willens – parallel zu einem beginnenden ukrainischen Gegenangriff – aus den besetzten Gebieten um Kiew abgezogen. Die Vereinigten Staaten und die ukrainische Regierung hatten die Kampfkraft der russischen Invasionskräfte in den ersten Tagen des Krieges offenbar überschätzt, weshalb auch die Ukraine sehr schnell bereit war, sich mit Russland an den Verhandlungstisch zu setzen. 

In unseren Medien heisst es, Putin, weigere sich zu verhandeln.

Dass Putin nicht verhandeln will, kann man nicht sagen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass er verhandelt hat. Aber auch die öffentlichen Äusserungen zeugen vom Gegenteil.  Allerdings haben beide Staaten nach dem Abbruch der Istanbuler Verhandlungen grosse Hürden für weitere Gespräche errichtet. Im Oktober 2022 hat Selenskyj in einem Dekret Verhandlungen mit Putin ausgeschlossen. Russland hat vier ukrainische Regionen annektiert und diese zu russischem Staatsgebiet erklärt. Das erschwert die Aufnahme für Verhandlungen. China hat jedoch bereits vor einem Jahr einen Vorschlag gemacht, der den Weg für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen öffnen könnte. Danach sollen die Verhandlungen ohne Vorbedingungen an der Stelle fortgesetzt werden, wo sie im April 2022 abgebrochen wurden. Ein chinesischer Sondergesandter, der dazu vor kurzem Gespräche in Moskau und Kiew sowie in anderen europäischen Hauptstädten führte, erklärte diplomatisch, dass er von den Ergebnissen nicht enttäuscht sei. Inzwischen liess auch der türkische Aussenminister verlauten, die Türkei sei bereit, die Friedensgespräche vom März/April 2022 wiederzubeleben. Ich sehe darin eine realistische Chance für Friedensverhandlungen und würde mir wünschen, dass die Bundesregierung diese Initiative unterstützt.

Die Nato hat auf ihrem Treffen in Brüssel zur Feier des 75jährigen Bestehens eine «special mission to help Kiev» vorgeschlagen. Worum geht es dabei? 

Der Nato-Generalsekretär hat eine aus drei Punkten bestehende Initiative angekündigt, die auf der nächsten Nato-Gipfelkonferenz im Juli von den Staats- und Regierungschefs gebilligt werden soll. Teile davon sind allerdings schon im Februar in amerikanischen Medien veröffentlicht worden.

Der erste Punkt ist, ein Nato-Budget in Höhe von 100 Milliarden Euro für die kommenden fünf Jahre zur Unterstützung der Ukraine aufzulegen. Stoltenberg geht also davon aus, dass der Ukraine-Krieg noch fünf Jahre dauern wird. Die gegenwärtige militärische Lage spricht nicht dafür, dass dies eine realistische Einschätzung ist. Zudem haben einzelne Mitgliedsstaaten, die bereits hohe bilaterale Verpflichtungen gegenüber der Ukraine eingegangen sind und beträchtliche Zahlungen in den Unterstützungsfond der Europäischen Union leisten, Vorbehalte, weitere langfristige finanzielle Verpflichtungen einzugehen. Denn hinzu kommen die Kosten für die Lieferung von Waffensystemen, Munition und militärischer Ausrüstung. 

Künftig soll nach Stoltenbergs Meinung die Nato auch die Koordination der Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten übernehmen. Eine Aufgabe, die bisher von den Vereinigten Staaten im sogenannten Ramstein-Format durchgeführt wird.  

Schliesslich soll ein Nato-Rahmen für die bilateralen, auf zehn Jahre angelegten «Vereinbarungen über Sicherheitszusammenarbeit und langfristige Unterstützung» zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und der Ukraine gebildet werden.

Ich kenne nur die am 16. Februar 2024 abgeschlossene und sofort in Kraft getretene deutsch-ukrainische Vereinbarung, gehe aber davon aus, dass die Vereinbarungen anderer Nato-Mitgliedsstaaten ähnlich abgefasst sind. Interessant ist, dass in der deutsch-ukrainischen Vereinbarung einzelne Elemente des 10-Punkte-Plans (die sogenannte «Friedensformel») des ukrainischen Präsidenten aufgenommen wurden und Deutschland die «Prinzipien der ukrainischen Friedensformel» ausdrücklich als Grundlage für eine künftige Friedensregelung begrüsst.

Bedeutet diese Entwicklung, dass die Nato die Vereinigten Staaten als Hauptakteur im Ukraine-Krieg ersetzen wird und die Europäer die damit verbundenen Lasten allein übernehmen?

Der amerikanische Kongress hat zwar das seit Oktober vergangenen Jahres blockierte Finanzpaket von 61 Milliarden US-Dollar freigegeben, aber ob die Vereinigten Staaten die Ukraine auch weiterhin im gleichen Umfang wie bisher unterstützen werden, ist nicht sicher. Grundsätzlich wollen die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung zurückfahren und die Verantwortung für die Zukunft der Ukraine auf die Europäer verlagern. Das zeigt auch Stoltenbergs Vorschlag sehr deutlich. 

Aber diese bilateralen Vereinbarungen sind doch kein Ersatz für eine Nato-Mitgliedschaft. Die Ukraine will Mitglied der Nato werden, und der amerikanische Aussenminister Blinken hat erst kürzlich wieder erklärt, dass sie der Nato beitreten wird. Ist das nicht ein Widerspruch?

Der Nato-Vertrag enthält sehr präzise Voraussetzungen für eine Nato-Mitgliedschaft. Ich will nur zwei nennen. Zum einen muss ein Staat von allen Mitgliedsstaaten eingeladen werden, Mitglied zu werden. Zum anderen muss dieser Staat konkrete Voraussetzungen erfüllen. Die Ukraine erfüllt keine der in Artikel 10 des Nato-Vertrages genannten Kriterien für eine Mitgliedschaft. Allgemein heisst es beispielsweise, ein Staat möchte Mitglied werden, weil er den Schutz der Beistandsklausel gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrages anstrebt. Das entspricht auch der Motivation der ukrainischen Regierung, die gegen künftige Bedrohungen oder gar Angriffe Russ­lands den Schutz der Nato-Verbündeten sucht. Die Nato ist jedoch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Dementsprechend muss ein künftiges Mitglied die Gewähr bieten, dass es einen konkreten Beitrag zur Sicherheit aller (bisherigen) Mitgliedsstaaten leisten kann. Im Falle der Ukraine trifft das Gegenteil zu. Mit der Ukraine würde die Nato das Risiko eines Konflikts mit Russ­land in das Bündnis importieren und so die Sicherheit aller Mitgliedsstaaten gefährden. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine muss deshalb für die vorhersehbare Zukunft unter den vorherrschenden sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen werden.

Falls das zutrifft, stellt sich die Frage, welche Bedeutung diese Verträge haben.

Die bilateralen Verträge der Nato-Staaten mit der Ukraine können im Zusammenhang mit dem von Stoltenberg angestrebten Nato-Rahmen durchaus de facto als Nato-Mitgliedschaft durch die Hintertür interpretiert werden.  Artikel 4 des Nato-Vertrages regelt einen Konsultationsmechanismus, wenn nach Auffassung eines Mitgliedsstaats die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit bedroht ist. Die deutsch-ukrainische Vereinbarung enthält eine vergleichbare Regelung, die durch die Verpflichtung zur Konsultation innerhalb von 24 Stunden, sogar über die Nato-Regelung hinausgeht. 

Artikel 5 des Nato-Vertrages besagt, dass ein Angriff auf einen oder mehrere Verbündeten als Angriff gegen alle Mitgliedsstaaten angesehen wird. Allerdings entscheidet jeder Verbündete selbst, welche Form des Beistands er für erforderlich hält. 

Habe ich das richtig verstanden? Angenommen Land A wird angegriffen, dann könnte Land B sagen, wir geben logistische Unterstützung, aber mehr nicht…

Grundsätzlich ist es so, denn die Allianz ist ein Bündnis souveräner Staaten, und bei den meisten haben die Parlamente in Fragen von Krieg und Frieden das ausschliess­liche Entscheidungsrecht.

In der deutsch-ukrainischen Vereinbarung findet sich keine dem Artikel 5 des Nato-Vertrages vergleichbare Regelung. Vielmehr soll die Zusammenarbeit dazu dienen, «tragfähige Kräfte aufzubauen, die dazu in der Lage sind, die Ukraine in der Gegenwart zu verteidigen und künftige Aggression in der Zukunft abzuschrecken». Mehrfach wird jedoch das Ziel betont, die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte mit denen der euro-atlantischen Partner zu fördern. Das ist insofern von Bedeutung, weil Interoperabilität ein besonders wichtiger Aspekt ist, wenn Streitkräfte verschiedener Staaten gemeinsam eingesetzt werden sollen.

Ist das nicht brandgefährlich?

Wegen der weitreichenden, langfristigen Verpflichtungen und der Auswirkungen auf unsere nationale Sicherheit wäre es meiner Meinung nach geboten, diese Vereinbarung durch den Deutschen Bundestag zu ratifizieren. 

In der Schweiz soll ein Friedenskongress ohne Russland stattfinden. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Staatschefs treffen, um über einen Frieden in der Ukraine zu verhandeln, ohne dass einer der beiden Hauptakteure mit am Tisch sitzt?

Die Teilnehmer an dieser Konferenz sollten sich fragen, ob Selenskyjs 10-Punkte-Plan die Ukraine dem Frieden auch nur einen Schritt näher bringt. Unabhängig davon, wieviele Staaten den Plan unterstützen, ist entscheidend, ob Russ­land bereit wäre, ihn als Verhandlungsgrundlage zu akzeptieren, denn das Ergebnis jeder Verhandlung ist ein Interessensausgleich, ein Kompromiss. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich, denn der Plan enthält eine Reihe von Forderungen, deren Erfüllung durch Russland völlig unrealistisch ist. Ausserdem werden die Ursachen des Krieges ebenso ignoriert wie die entstandene militärische Lage. Ohne die Beteiligung Russlands ist die Konferenz deshalb in erster Linie eine PR-Veranstaltung der Ukraine. In dieser Situation müsste jedoch Selenskyjs vorrangiges Ziel eine Zukunftschance für das ukrainische Volk sein. Ich möchte deshalb noch einmal betonen: Wir dürfen nicht die Augen davor verschliessen, dass die Menschen in der Ukraine Frieden wollen. Die letzten Umfragen zeigen, dass eine grosse Mehrheit der Ukrainer eine diplomatische Lösung fordert. Diese Tatsache sollte westlichen Politikern zu denken geben. Denn wer die Ukraine retten will, muss sich dafür einsetzen, dass die Kampfhandlungen möglichst bald eingestellt und wieder Friedensverhandlungen zwischen den beiden kriegführenden Staaten aufgenommen werden.

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a. D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

veröffentlicht 25. April 2024

Die «weisse Flagge hissen» und Verhandlungen führen

Zehntausende Menschenleben wären so gerettet

von Thomas Kaiser

Vor 79 Jahren war das Deutsche Reich geschlagen. Den Hauptanteil am Sieg über Nazi-Deutschland lieferte die sowjetische Armee mit unvorstellbaren Verlusten. Jeder vierte Sowjetbürger war im Krieg gegen Deutschland gefallen. Ein unglaubliches Gemetzel, das Millionen von Toten zurückliess. Der von Hitler und seiner Propagandamaschinerie geschürte Hass gegen die slawischen Völker und den Bolschewismus entlud sich im Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. Ein traumatisches Erlebnis, das nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird, auch über Generationen hinweg nicht.

Umso verheerender ist es, wenn heute wieder deutsche Panzer und weiteres Kriegsmaterial gegen die russische Armee eingesetzt werden und noch vermehrt eingesetzt werden sollen.

Die Sowjetarmee stand am 23. April 1945 vor den Toren der deutschen Reichshauptstadt, nachdem sie in grausamen Schlachten gegen die deutsche Militärmaschinerie tief ins Innere des Deutschen Reichs vorgedrungen war. Der letzte mörderische Kampf stand bevor. Anstatt das Unabänderliche zu akzeptieren und Menschenleben zu erhalten, wurden auf deutscher Seite die letzten Kräfte mobilisiert, um Berlin zu verteidigen. Der sogenannte Volkssturm, für den Hitler und seine Schergen in der Endphase des Krieges auch 16- und 60jährige rekrutierten, sollte die Wende bringen und die Russen aufhalten oder ihnen zumindest grosse Verluste bescheren. Hitler zeichnete in den letzten Tagen noch Hitlerjungen mit dem Eisernen Kreuz aus. Am 21. April, kurz vor Beginn des Kampfs um Berlin, liess sich Propagandaminister Goebbels nochmals vernehmen: «In heldenhafter Abwehr haben unsere tapferen Divisionen und Volkssturmmänner in den vergangenen Tagen den Sowjets schwerste Verluste zugefügt. Ihr aufopferungsvoller Einsatz hat jedoch nicht verhindern können, dass die Bolschewisten an die äusseren Verteidigungslinien der Reichshauptstadt herangekommen sind. Damit ist Berlin zur Frontstadt geworden. Mit allen Mitteln werde ich die Verteidigung der Reichshauptstadt aktivieren.»¹

Abartig. Verheerend und das menschliche Leben zutiefst verachtend. Man geht davon aus, dass bei der Schlacht um Berlin auf beiden Seiten jeweils nahezu 100 000 Menschen ums Leben kamen. Junge Menschen, deren Leben sinnlos ausgelöscht wurde.

Deutsche Offiziere, die in den letzten Wochen dem Sterben ein Ende setzen wollten und sich weigerten, weiterzukämpfen, wurden erschossen, zu einem Zeitpunkt, als die sowjetische Übermacht schon so gross war, dass ein sofortiger Waffenstillstand angebracht gewesen wäre.

Hitler stellt auf Kriegswirtschaft um

Ab Mitte der 30er Jahre stellte Hitler die Wirtschaft des nationalsozialistischen Deutschen Reichs immer mehr auf Kriegswirtschaft um.² Die Rüstung wurde angekurbelt, um die Kriegsziele zu erreichen. Deren wichtigste waren: die Schaffung von «Lebensraum im Osten und die Zerstörung des Bolschewismus».

Deutsche Panzer gen Osten

Am 22. Juni 1941 begann Hitler, diesen mörderischen Plan umzusetzen. Er lenkte die geballte Macht seiner Kriegsmaschinerie Richtung Osten. Mit 3,5 Millionen Mann sowie Tausenden von Panzern und anderem Kriegsgerät griff die Wehrmacht auf breiter Front die UdSSR an.³ Mit diesem Schritt war der Untergang Deutschlands endgültig besiegelt. «Die Niederlage vor Moskau im Dezember 1941 bedeutete für das Deutsche Reich, dass es diesen Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Ein Waffenstillstand, eine Liquidation des Krieges oder ein Friedensschluss kamen für Hitler aber nicht in Frage. Für ihn musste Deutschland Weltmacht oder gar nicht sein – entsprechend sollte sich der Zweite Weltkrieg weiterentwickeln4

Hitlers Plan endete nach anfänglichen militärischen Erfolgen in einem Desaster. Die deutsche Armee brandschatzte und zerstörte alles, was sich ihr in den Weg stellte. «Spätestens das Jahr 1943 zeigte, dass Deutschland den Krieg verloren hatte: Der Verlust der 6. Armee in Stalingrad, die Kapitulation in Nordafrika und die verlorene Atlantikschlacht, jeweils mit Hunderttausenden Toten, Vermissten und in Kriegsgefangenschaft geratenen eigenen Soldaten markierten die endgültige Wende. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 mussten dennoch Millionen Menschen sterben5

Was hat das alles gebracht?

In einer Film-Dokumentation⁶ schildern Überlebende auf beiden Seiten, wie die Grausamkeiten auf sie gewirkt haben. Ehemaligen Offizieren steht das Grauen, das sie erlebt hatten und an dem sie auch beteiligt waren, noch nach Jahrzehnten in den Augen, und sie verlieren die Fassung, wenn sie an damals denken. Soll sich das alles nochmals wiederholen, wieder mit deutscher Beteiligung? Soll das, was der Schriftsteller Paul Celan in seiner Todesfuge von 1947 anklagte, erneut Realität werden: «Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.»?

Uwe Timm versucht in seinem Werk «Am Beispiel meines Bruders» nachzuvollziehen, warum sein 16 Jahre älterer Bruder, Karl Heinz, sich freiwillig bei der SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte.6 Er war im Sommer 1943 im Osten der Ukraine stationiert, zur Zeit der Operation Zitadelle, der grössten Panzerschlacht im Zweiten Weltkrieg mit Hunderttausenden von Opfern, und der nachfolgenden sowjetischen Sommeroffensive.

«75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG»

Das Tagebuch seines Bruders und noch erhaltene Briefe an die Eltern geben einen Einblick in seine Gedanken und Erlebnisse: «März 21. Donez Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.» (S. 17) In einem Brief an seinen Vater vom 11. August 1943 kommentiert er die wohl aussichtslose Lage: «Wenn nur Russland bald kaputt wäre. Man müsste das 10fache an SS-Divisionen haben wie jetzt. Ich glaube, es wäre dann schon so weit, aber wir schaffen es eben noch nicht dieses Jahr.» (S. 25) Eine weitere Notiz im Tagebuch, die vor seiner Verwundung geschrieben sein musste, beendet die Aufzeichnungen: «Hiermit schliesse ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.» (S. 122)

Am 19. September 1943 wird Karl Heinz Timm schwer verwundet und stirbt etwa vier Wochen später auf russischem Boden.
Karl Heinz Timm war gerade einmal 19 Jahre, als er seiner Verwundung erlag. 1943 war der Krieg bereits verloren. Vielleicht gab es da und dort noch kleine Nadelstiche der Deutschen, man zerstörte auf dem Rückzug die Infrastruktur oder zündete Dörfer und Getreidefelder an, konnte auch kleinere Schlachten für sich entscheiden, aber die deutsche Armee war seit Februar 1943 kontinuierlich auf dem Rückzug. Dabei machte die Sowjetarmee viele Kriegsgefangene, die froh waren, dass sie überlebten, oder es gab viele Überläufer, die der Hölle entkommen wollten.

«Der furchtbare Betrug an unserem Volk»

Ein deutscher Soldat in russischer Gefangenschaft schrieb in seinem Tagebuch am 25. und 28. März 1945: «Minus 22 Grad. Ich erwache froh und zuversichtlich, da nachts erstmalig ohne Durchfall. Hoffentlich ist das jetzt geschafft. Gewaschen, rasiert. Die Sonne scheint, Mahlzeiten ganz ordentlich. Täglich politische Schulung. Wann endlich geht das Morden zu Ende? Der wahnsinnige Hitler. Und daheim? Bei diesen Luftangriffen? … Vorträge von Heinze: Die Ursachen des 1. und 2. Weltkriegs und über die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik. Man staunt über den furchtbaren Betrug an unserem Volk. Findet sich denn niemand, dem Spuk ein Ende zu machen?» Am 9. Mai 1945, einen Tag nach Kriegsende, ist folgender Eintrag zu lesen: «Die ganze Welt feiert den Sieg, unser Vaterland erlebt den tiefsten Punkt seiner Geschichte und doch: Das Blutvergiessen hört endlich auf. Ach, könnte man doch nur zu Hause sein! Von heute an zähle ich neu.» (unveröffentlichtes Kriegstagebuch meines Grossvaters)

Eines der vielen Schicksale, die der Krieg hervorbrachte. Es steht stellvertretend für Hunderttausende auf beiden Seiten, die häufig die Gefangenschaft aufgrund körperlicher oder seelischer Verwundung oder schlechter Behandlung nicht überlebten. Der Verfasser des Tagebuchs kam im Sommer 1946 bereits mit dem ersten Gefangenentransport zurück nach Deutschland.

Jahrzehntelange Versöhnungsarbeit zunichte gemacht

Die Sowjetunion, die in schwersten Schlachten Hitlers Wehrmacht besiegen konnte, hatte den höchsten Blutzoll zu leisten. Die offiziellen Zahlen sprechen von 27 Millionen Toten, wahrscheinlich waren es mehr, wobei über die Hälfte Zivilisten waren, Opfer eines brutalen Kriegs, angezettelt vom Deutschen Reich. Marschiert sind deutsche Soldaten. Sollen heute die Menschen wieder solchen Qualen ausgesetzt sein, um am Ende erkennen zu müssen, dass man einem «furchtbaren Betrug» aufgesessen ist?

Wie viele Generationen braucht es, bis eine so grosse Wunde, die der Krieg bei der russischen und deutschen Bevölkerung hinterlassen hat, langsam zu verheilen beginnt. Wieviel Wut und Hass auf beiden Seiten müssen überwunden werden, damit sich die Menschen wieder näherkommen. Hat man das alles vergessen?

Mit Willi Brandts Entspannungspolitik und mit den Ostverträgen begann 1972 ganz langsam ein Versöhnungsprozess mit der Sowjetunion, der begleitet war von Rückschlägen. Der Fall der Mauer und die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik waren letztlich dieser Entspannung geschuldet. Der Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der mit seinen Reformen das alles ermöglichte, wurde bei seinem Besuch 1989 in der Bundesrepublik Deutschland mit «Gorbi, Gorbi»-Rufen empfangen. Die Menschen spürten, dass hier ein Mensch stand, der die Vergangenheit überwinden und die Spannungen zwischen beiden Ländern beenden will. Sein Plan eines «gemeinsamen Hauses» in Europa verfolgte das Ziel, die Spaltungen zwischen Ost und West zu überwinden. Unter seiner Führung wurden Abrüstungsgespräche mit den USA intensiviert, und es schien, als ob die Welt etwas friedlicher werden könnte.

Deutsche Panzer wieder gegen russische Soldaten

Als der neugewählte Präsident Russ­lands, Wladimir Putin, am 25. September 2001 in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag 12 Jahre später die Idee Michail Gorbatschows aufgriff, erntete er Standing Ovations: «Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf, und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses8 Das war vor nahezu 23 Jahren. Das Angebot Russlands zu einer engeren Zusammenarbeit innerhalb Europas verhallte jedoch ungehört. Stattdessen wurde Russland immer mehr von der Nato eingekreist, und die Politik gegen das Land verschärfte sich, so dass Michail Gorbatschow bereits im Herbst 2008 an einer Pressekonferenz im schweizerischen Ermatingen den frisch gewählten US-Präsidenten aufforderte, «den erneuten Kalten Krieg zu beenden».⁹ Obwohl er das zu Recht gefordert hatte, kümmerte es niemanden. Leider muss man feststellen, dass aus dem Kalten Krieg im gewissen Sinne ein Heisser Krieg geworden ist, wie ihn sich Gorbatschow wahrscheinlich nicht vorgestellt hat.

Was man 2008 noch primär als einen Konflikt zwischen Russland und den USA betrachtete, sind bei der heutigen Auseinandersetzung die Nato und die EU mit an vorderster Front.

Deutschland steht nach den USA an zweiter Stelle der Waffenlieferungen an die Ukraine.10 Deutsche Leopard-Panzer werden schon lange gegen russische Soldaten eingesetzt. Unbegreiflich, nach dem, was Deutsche in der Sowjetunion, insbesondere im russischen und ukrainischen Teil angerichtet haben. Und was machen Deutsche Panzer in der Ukraine heute? Laut der Bundesregierung sind sie für den Frieden in der Ukraine im Einsatz. Zynisch.

War nicht das Credo des Nachkriegsdeutschlands: «Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus!» Wie oft wurde es schon gebrochen? Im Namen der Menschenrechte werden Kriege geführt, Menschen getötet und Länder verwüstet. Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Syrien etc. Die Liste ist lang und Deutschland sowie andere europäische Länder beteiligten sich häufig daran.

Von der Leyen fordert Umstellung auf Kriegswirtschaft

Die zunehmende Militarisierung in den verschiedenen europäischen Ländern ist äusserst bedenklich. Die Umstellung auf Kriegswirtschaft wird von Frau von der Leyen gefordert.11 Soll der Krieg auf ganz Europa ausgeweitet werden?12

Soll die Bevölkerung der EU- und der Nato-Staaten auf einen grossen Krieg vorbreitet werden? Soll die europäische Jugend tatsächlich so werden, wie sie Ödön von Horvath in seinem Buch «Jugend ohne Gott» beschreibt?: «Alles Denken ist ihnen verhasst. Sie pfeifen auf die Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld!»13 Noch ist es nicht so weit, und alles muss getan werden, dass es nicht so weit kommt. Aber die Gefahr, dass sich der auf die Ukraine begrenzte Krieg territorial auf Westeuropa ausweitet, besteht weiterhin. Wenn der Westen den Konflikt mit weiteren Waffenlieferungen und der Ausbildung von ukrainischen Soldaten befeuert, riskiert er, tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden.

Würde der Westen und insbesondere Deutschland, schon aufgrund seiner historischen Verantwortung, die Kriegshetze gegen Russland und die Forcierung der Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen und sich mit Diplomatie tatsächlich für den Frieden einsetzen, wäre der Krieg sofort beendet und Zehntausenden das Leben gerettet.

Die deutsche Regierung spricht von Frieden und führt Krieg. Hatten wir das nicht schon einmal?

Dass der deutsche Bundeskanzler letzte Woche nach China gereist sei, wie die Moderatorin des ARD in ihrer Anmoderation erklärt, um etwas mehr Frieden in die Welt zu bringen und China von der Teilnahme an der in zwei Monaten in der Schweiz stattfindenden «Friedenskonferenz» zu überzeugen, zeigt, auf welch hohem Ross man in Deutschland sitzt. Es ist absurd, wenn mit immer mehr Waffen Frieden geschaffen werden soll. Es wird den Krieg in die Länge ziehen und mehr Tote und Verletzte fordern.14

Soll der Krieg tatsächlich weitergehen?

Die anfänglichen ernsthaften Friedensbemühungen zwischen der Ukraine und Russland wurden kurz vor der Einigung vier Wochen nach Beginn des Krieges vom Westen zerschlagen. Danach hiess es «Feuer frei». Insbesondere Deutschland in den Figuren von Annalena Baerbock und Olaf Scholz gaben wie schon einmal in der deutschen Geschichte einen Blankoscheck, diesmal nicht Österreich, sondern der Ukraine. Frau Baerbock verkündete: «Natürlich darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, sondern muss ihn strategisch verlieren. … Sie wollen den Frieden in der Ukraine zerstören. Deswegen darf die Ukraine auf keinen Fall verlieren – das heisst: Die Ukraine muss gewinnen15

Die Unterstützung sollte «as long as it takes» sein, und die Kriegsstimmung wurde weiter angeheizt. Selenskyj fordert weiter Waffen, der Westen liefert. Die Waffen müssen bedient und an der Front eingesetzt werden, wobei Tausende den Tod erleiden. 

Als besonders eifriger Waffenlieferant präsentiert sich hinter den USA Deutschland. Doch Annalena Baerbock ist das zu wenig. Sie will seit Beginn des Krieges weitreichende Waffen, um das russische Hinterland zu treffen.16

Das ZDF berichtet: «Wirtschaftsminister Habeck hat darauf gedrängt, mehr Waffen und Munition an die Ukraine zu liefern17

Was für eine Gesinnung steckt hinter diesem Politiker? Er antwortete in der Talksendung bei Maisch­berger auf die Frage, ob er Angst vor diesem Krieg habe: «Ich muss da nicht kämpfen, ich werde auch nicht sterben in diesem Krieg, aber wenn es passiert, werden viele Menschen sterben.» Der Aufschrei in den Medien blieb aus.

400 000 neue Soldaten braucht laut Selenskyj die ukrainische Armee, obwohl nach seiner Zählart erst 31 000 getötet worden seien, und setzt die Altersgrenze der Wehrpflichtigen herunter. Seltsam. Wann werden die neuen 400 000 Armeeangehörigen «verheizt» sein, ohne dass etwas erreicht wurde? Die zwölf von der Nato ausgebildeten Brigaden, ca. 50 000 Mann, sind in der grossen ukrainischen Offensive im letzten Sommer aufgerieben worden. Von ihnen ist nicht mehr die Rede.

Dem scharfen Wind trotzen

Deutschland befindet sich seit etwas mehr als hundert Jahren zum vierten Mal mit Russland im Krieg, wenn man den Kalten Krieg dazurechnen will. Die Stimmung gegen Russland in Politik und Medien ist nicht nur in Deutschland verheerend. Auf der einen Seite ist es kaum zu fassen, wie die Manipulation durch Propaganda und Desinformation bei manchen gegriffen hat. Auf der anderen Seite finden sich zum Glück auch andere gewichtige Stimmen wie zum Beispiel die von General a. D. Harald Kujat, die des ehemaligen Offiziers des Schweizer Nachrichtendienstes des Bundes, Jacques Baud, oder die des ehemaligen Uno-Diplomaten und Uno-Vizegeneralsekretärs Michael von der Schulenburg, des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, des ehemaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, Oskar Lafontaine, des Völkerrechtlers Professor Alfred de Zayas usw., die wie auch andere vermehrt vor einer Ausweitung des Kriegs warnen und die angebliche Absicht Putins, ganz Europa erobern zu wollen, ins Reich der Phantasie verbannen. Papst Franziskus als die gewichtigste Stimme der katholischen Kirche, dessen lesenswertes Buch «Leben. Meine Geschichte in der Geschichte» einen Einblick in seinen Werdegang, seine Einsichten und Ansichten gibt, hat ebenfalls zur Beendigung des Kriegs sowie zum Frieden und zu Verhandlungen im Ukraine-Krieg aufgerufen.

Dass der Deutsche Bundestag die Lieferung von Taurus Marschflugkörpern abgelehnt hat, ist ein kleiner Lichtblick. Auch Umfragewerte in der Bevölkerung deuten darauf hin, dass man langsam «den furchtbaren Betrug» realisiert. Auch wenn einem ein scharfer Wind entgegenbläst, gibt es laut Noam Chomsky nur eins: «Man tut das, was man kann und was man tun muss.»

¹ www.deutschlandfunk.de/volkssturm-im-zweiten-weltkrieg-hitlers-letztes-aufgebot-100.html
² www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/industrie-und-wirtschaft.html
3 www.youtube.com/watch?v=VVUti95vUaE
4 zms.bundeswehr.de/de/zmsbw-karte-barbarossa-5386466
5 zms.bundeswehr.de/de/zmsbw-karte-barbarossa-5386466
⁶ ZDFinfo: Der Jahrhundert Krieg – Entscheidungsschlacht Moskau 1941

7 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003
8 www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966
9 www.tagesanzeiger.ch/obama-soll-neuen-kalten-krieg-beenden-774930714561
10 www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/deutschland-hilft-der-ukraine-2160274#tar-2
11 www.nzz.ch/international/mission-impossible-von-der-leyen-will-ihre-naechste-eu-kommission-auf-kriegswirtschaft-trimmen-ld.1821348
12 www.dw.com/de/muss-europa-auf-kriegswirtschaft-umstellen/a-65807395
13 Ödön von Horvath: Jugend ohne Gott. Frankfurt am Main 1983, S. 24

14 www.tagesschau.de/multimedia/video/schnell_informiert/video-1327988.html
15 www.rnd.de/politik/baerbock-mit-deutlicherem-statement-als-scholz-zu-russlands-krieg-ukraine-muss-gewinnen-RTZPQHWABAJSUGHK77RP7QG2NQ.html
16 www.zdf.de/nachrichten/politik/annalena-baerbock-kriegserklaerung-ukraine-krieg-russland-100.html
17 www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/usa-kongress-votum-ukraine-krieg-russland-100.html

veröffentlicht 25. April 2024

«Endlich bäumen sich Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien gegen die Hegemonie des Westens auf»

«Der Westen ist dabei, das Völkerrecht zu unterminieren»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Sie haben an einer Anhörung vor dem Uno-Sicherheitsrat am 25. März 2024 teilgenommen. Was waren die Themen?

Professor Dr. Alfred de Zayas Hauptthema waren die Unilateral Coercive Measures (UCM, einseitige Zwangsmassnahmen), die die USA, Kanada, Grossbritannien und die Europäische Union gegen ein Drittel der Weltbevölkerung verhängen. Die Mehrheit der anwesenden Staaten hat solche Massnahmen als illegal bezeichnet, weil sie die Souveränität der Staaten angreifen und inkompatibel mit der Uno-Charta sind. Die westlichen Staaten versuchten, die Debatte in eine andere Richtung zu lenken, nämlich auf den Kampf gegen den Terrorismus, und dies als Vorwand, um UCM – die sie fälschlich als «Sanktionen» bezeichnen – zu rechtfertigen. Es dauerte nicht lange, bis klar wurde, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Unilateralen Zwangsmassnahmen überhaupt etwas mit Terrorismus zu tun haben, denn die meisten UCM werden schlicht und einfach als Waffe beziehungsweise vermeintliche «Strafe» gegen Staaten verwendet, die nicht das tun, was die USA und die EU befehlen. Sie werden bewusst eingesetzt, um Staaten zu destabilisieren, Chaos und humanitäre Krisen herbeizuführen, in der Hoffnung, dass die von UCM betroffenen Regierungen fallen. Sie sind Ausdruck des neuen Imperialismus beziehungsweise des Neo-Kolonialismus des 21. Jahrhunderts.

Welche Staaten haben daran teilgenommen? Waren die Veto-Mächte USA, Grossbritannien und Frankreich auch anwesend?

Alle Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats waren dabei, auch die fünf Veto-Mächte. Ausserdem waren etliche Uno-Mitgliedsstaaten anwesend, und die meisten haben deutlich gegen die UCM Stellung genommen, unter anderem Guyana, Sierra Leone, Mosambik, Algerien, Kuba, Sri Lanka, Syrien, Venezuela und so weiter. 

Haben sich die Veto-Mächte auch geäussert? 

Es waren Parallelwelten. Während die meisten Staaten darlegten, dass diese UCM fundamentale Prinzipien der Uno-Charta verletzten und humanitäre Krisen überall in der Welt verursacht hätten, vertraten die Botschafter der USA, Grossbritanniens, Frankreichs und Maltas dieselben falschen Argumente, die in früheren Berichten des Uno-Generalsekretärs und der Uno-Rapporteure verurteilt worden waren. Insofern gab es keine Debatte, sondern jede Delegation verlas den Text, der in den jeweiligen Hauptstädten genehmigt worden war. Die Beweise, dass UCM die Menschenrechte in grossem Stil verletzen, wurden vom gesamten Westen ignoriert. Ein klassischer Dialog der Gehörlosen. Einfach surrealistisch.

Die EU hat mit den USA bereits das fünfzehnte Sanktionspaket gegen Russland geschnürt. Bedauerlicherweise hat sich die Schweiz den Sanktionen angeschlossen. Welche völkerrechtliche Grundlage haben diese Sanktionen?

Wir haben es hier mit einem orwellschen Missbrauch der Sprache und der Begriffe zu tun. Das Wort «Sanktion» impliziert, dass der Staat, der sie verhängt, eine legale Berechtigung dazu besitzt, dass der Staat sozusagen das Recht hat, andere Staaten zu «bestrafen». So wird die brachiale Gewaltanwendung quasi legitimiert. Diese einseitigen Zwangsmassnahmen sind keine «Sanktionen», und sollen nicht als Sanktionen weissgewaschen werden. Die einzigen «Sanktionen», die im Völkerrecht als Sanktionen gelten, sind jene, die durch den Sicherheitsrat verhängt werden; insofern sind sie inkompatibel mit der Uno-Charta und mit allgemeinen völkerrechtlichen Prinzipien wie der Souveränität der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Eigentlich stellen sie eine Verletzung des Artikels 2, Absatz 4 der Uno-Charta dar, die jede «Gewaltanwendung» verbietet – nicht nur die militärische Gewalt. Tatsächlich, wenn die Uno-Charta über militärische Gewaltanwendung spricht, ist das Wort «militärisch» immer dabei. Es gibt keinen Grund dafür, die Tragweite des Gewaltverbotes im Artikel 2 (4) der Uno-Charta nur auf Kriege zu beschränken. Der Artikel spricht weder vom Krieg noch von militärischer Gewaltanwendung – jede Gewalt wird verboten. Dies wird auch im Artikel 2 (3) der Charta deutlich. Es geht um die Verpflichtung, Differenzen durch friedlichen Dialog beziehungsweise durch Kooperation und Kompromiss zu schlichten. Zweifelsohne stellen UCM eine illegale Gewaltanwendung dar, die manchmal viel mehr Opfer verursacht als militärische Auseinandersetzungen. Ausserdem verstossen UCM gegen etliche völkerrechtliche Verträge sowie auch gegen das Völkergewohnheitsrecht, das Missachten der Freiheit der Meere, der Freiheit des Handels, des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten und so weiter.

Die Uno-Völkerrechtskommission hat einen Kodex über die Verpflichtungen der Staaten im Jahre 2001 angenommen (Code on Responsibility of States).¹ Die einzigen legalen unilateralen Zwangsmassnahmen sind nach Art. 49-50 festgelegt – «Retorsion» und «Countermeasures» (Vergeltung und Gegenmassnahmen). Diese sind aber an sehr genaue Bedingungen geknüpft, die bei den US- und EU-Gewaltmassnahmen nicht erfüllt werden. Die EU- und US-«Sanktionspakete» erfüllen die Kriterien nicht und können daher weder als Retorsion noch als Countermeasures legitimiert werden.

UCM haben extra-territoriale Effekte, die völkerrechtswidrig sind. Wie immer liegt das Problem darin, dass die Uno ihre Resolutionen nicht durchsetzen kann. Dutzende Male sind UCM von der Uno-Generalversammlung und dem Uno-Menschenrechtsrat als «illegal» bezeichnet worden. Dutzende Male sind die Staaten aufgefordert worden, keine solchen Massnahmen zu verhängen oder umzusetzen. In der Tat besteht eine allgemeine Verpflichtung aller Uno-Staaten, Widerstand gegen UCM zu leisten. Aber die meisten Staaten haben Angst vor den USA und der EU und beugen sich.

Trotz der eindeutigen Ablehnung durch die Weltgemeinschaft (ausser den USA und ihren Vasallen), trotz Berichten der Uno-Sub-Kommission für Menschenrechte, des Menschenrechtsrats und der Uno-Rapporteure werden sämtliche Uno-Resolutionen von den USA und ihren Vasallen missachtet. Dies unterminiert die Autorität und Glaubwürdigkeit der Uno. Es bedeutet eine offene Rebellion gegen die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht selbst.

Man hört immer wieder, dass die EU oder die USA das Völkerrecht bestimmen könnten. Kann man dieser Argumentation zustimmen? 

Das Völkerrecht ist per definitionem das Recht der Völker. Es besteht aus bilateralen und multilateralen Verträgen, Konventionen, Protokollen und dem Völkergewohnheitsrecht, das die USA und die EU systematisch verletzen. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten die USA und Europa die Regeln. Dies aber ist mit der Uno- Charta als quasi Welt-Verfassung geändert worden, auch wenn die USA und Europa weiterhin jene Paragraphen der Charta systematisch missachteten und weiterhin missachten, wenn diese nicht in das geopolitische Kalkül passen. Heute spielen China, Indien, Indonesien, Südafrika, Brasilien und Mexiko eine zunehmend wichtige Rolle. Die Hegemonie des Westens besteht nicht mehr, aber die Politiker in Washington, Ottawa, London, Paris und Berlin haben dies offensichtlich noch nicht begriffen.  

Sie sagten bei Ihrem Statement vor dem Uno-Sicherheitsrat «einseitige Zwangsmassnahmen bringen Menschen um». Können Sie erklären, wie Sie das meinen?

Diese illegalen einseitigen Zwangsmassnahmen haben bereits Hunderttausende Menschen in vielen Staaten getötet – in Kuba, Iran, Nicaragua, Sudan, Syrien, Venezuela und Zimbabwe. Die UCM haben die Wirtschaft von vielen Staaten lahmgelegt und dadurch Mangel an lebensnotwendigen Arzneimitteln, medizinischer Ausrüstung, Nahrungsmitteln und so weiter verursacht. Es sind Menschen verstorben, weil die Spitäler keine Medizin hatten, weil es kein Insulin, keine antiretroviralen Mittel, keine Dialyseapparate, kein Anästhesiemittel gab – oder nicht genug oder nicht sofort. Menschen sind an Pandemien wie Covid-19 verstorben, die hätten gerettet werden können, wenn sie Beatmungsgeräte gehabt hätten. Menschen sind an Cholera verstorben, weil die Trinkwasseraufbereitung durch Sanktionen unmöglich geworden war, weil die allgemeine Sanitätsvorsorge ausgefallen war. Viele Menschen sind schlicht und einfach verhungert, vor allem Kinder und Greise. Dies ist durch nationale und internationale Untersuchungen belegt worden.

Wenn UCM eine Verletzung der Uno-Charta bedeuten, und wie Sie gerade eindrücklich erklärt haben, aller Prinzipien der Uno-Charta sowie des Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Pakts über wirtschaftlich, soziale und kulturelle Rechte entgegenstehen, warum sind die Länder, die mit diesem Instrument arbeiten – vor allem oder gar ausschliesslich der Westen – noch nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden?

Es gibt keine effektiven Uno-Mechanismen, um Rechenschaft von diesen Staaten zu verlangen.  Zweifelsohne stellen UCM ein «Verbrechen gegen die Menschheit» im Sinne des Artikels 7 des Statuts von Rom dar. Im Februar 2020 hat Venezuela eine offizielle Klage bei der  damals amtierenden Staatsanwältin, Fatou Bensouda, beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht.² Der Fall wurde eingetragen. Aber als der neue britische Staatsanwalt im Jahre 2022 das Amt übernahm, liess er diese Untersuchungssache fallen. Wie ich in meinem Buch «The Human Rights Industry»³ (die Menschenrechtsindustrie) dokumentiere, stehen viele Uno-Institutionen im Dienste des Westens, unter anderem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, engl. ICC).

Es gibt aber einen Hoffnungsschimmer. Endlich bäumen sich Staaten in Lateinamerika, in Afrika und in Asien gegen die Hegemonie des Westens auf. Die neuen Fälle vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel 4 (auch mit der Unterstützung einiger westlicher Staaten wie Irland5), der Fall Nicaraguas versus Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof,⁶ die Apartheid-Untersuchung gegen Israel,7 die Berichte der Sonderberichterstatterin Francesca Albanese,8 die Fälle gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof,⁹ die eine breite Unterstützung von vielen Staaten haben, signalisieren eine gewisse Zäsur, eine Wasserscheide.

Ich selber habe vor dem Sicherheitsrat am 25. März argumentiert, dass die höchsten juristischen Instanzen der Uno eine Verpflichtung der Weltgemeinschaft gegenüber haben, klaren Wein einzuschenken und nicht mehr eine Jurisprudenz im Dienste des Westens zu betreiben, sondern objektiv und unparteiisch Recht zu sprechen.

Ich habe in meinen Berichten bereits als Uno-Sonderberichterstatter von 2012 bis 2018 gefordert, dass die Generalversammlung eine Resolution gemäss Art. 96 der Uno-Charta annimmt und die Frage der Illegalität von einseitigen Zwangsmassnahmen vor den Internationalen Gerichtshof bringt. Die Illegalität ist bereits von etlichen anderen Instanzen konstatiert worden, aber der Internationale Gerichtshof sollte dies feststellen und die Summe der Reparation, die die USA und EU an die Opferstaaten leisten müssen, quantifizieren.

Welche Bedeutung hat die Uno-Charta, wenn sie durch Verhängen von Sanktionen ständig ignoriert wird?

Man muss feststellen, dass der Westen dabei ist, das Völkerrecht zu unterminieren – und zwar in vielen Gebieten, nicht nur bezüglich UCM. Die USA und EU haben bereits enormen Schaden an der Autorität und Glaubwürdigkeit der Uno angerichtet. Die 400-jährige Entwicklung des westlichen Völkerrechts seit Francisco de Vitoria und Hugo Grotius ist im Spiel. Denn, wenn die westlichen Staaten ein schlechtes Beispiel geben, so werden die anderen Staaten auch so handeln. Mit anderen Worten, wir steuern in eine Dimension ohne verbindliches Recht, denn der Westen ist dabei, diese Rechtsordnung der Uno-Charta zu zerstören. Immerhin hat die Uno-Charta die Bedeutung, die wir ihr geben. Wir, die Zivilgesellschaft, müssen verlangen, dass unsere demokratisch gewählten Vertreter das tun, was wir wollen, und nicht, was die Lobbys der Waffenindustrie, was die Lobbys der Pharma-industrie wollen. Wir müssen unseren Regierungen klar machen, dass Schluss mit den Verbrechen gegen die Menschheit sein muss, die unsere Regierungen in unserem Namen begehen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Demokratien als solche funktionieren. Wir leben aber in autoritären Staaten. Nur unsere Medien behaupten, wir seien Demokratien. Da lachen ja die Hühner!

Sie empfehlen das Buch von Jeffrey Sachs «The Price of Civilization». Warum? Was sind seine Aussagen darin?

Professor Jeffrey Sachs von der Columbia University in New York ist seit 2000 Sonderberater für die Millennium Goals beziehungsweise Sustainable Development Goals. Er hat die Uno-Generalsekretäre Kofi Annan, Ban Ki-moon und António Guterres beraten. Sachs hat viele Bücher geschrieben, unter anderem auch «The End of Poverty». Aber noch wichtiger vielleicht sind seine Auftritte in den Mainstream-Medien. Er ist einer der wenigen, der es sich leisten kann, den Mächtigen die Leviten zu lesen.10 Dies tut er mit Fakten und Logik. Ich kenne ihn seit Jahren und korrespondiere mit ihm beinahe jede Woche. Sachs will Frieden und Gerechtigkeit – Pax et Iustitia – und argumentiert besser als alle, die ich kenne. Weitere starke Vertreter der Rationalität in internationalen Beziehungen sind Professor John Mearsheimer, Professor Richard Falk, Professor Stephen Kinzer, Professor Francis Boyle.

Die Professoren Jeffrey Sachs und Alfred de Zayas (Bild zvg)

 

Warum kann sich Jeffrey Sachs das leisten, während ein anderer ignoriert oder diffamiert würde?

Ich zum Beispiel kann es mir nicht leisten. Ich werde von etlichen Mainstream-Journalisten ignoriert, manchmal sogar diffamiert. Jeffrey Sachs ist ein «Harvard Boy» – ähnlich wie Henry Kissinger. Er war sehr jung in das «linke Establishment» integriert und hat etliche Bücher geschrieben, denen das «Establishment» seinerzeit applaudierte. Irgendwann in den 90er Jahren hat er eine «Epiphanie» erlebt, als er ganz allmählich begriff, was für ein Spiel gespielt wurde, wer die Spieler waren, welche Regeln galten und weshalb. Es geschah erst in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts, dass er in etlichen Schriften «rebellierte». Bei mir hat es auch Jahrzehnte gedauert, bis ich begriff, dass man mich systematisch belogen hatte, dass unsere «Demokratie» keine ist, dass diejenigen, die gewählt werden, nicht regieren, und dass diejenigen, die uns regieren, nie gewählt worden sind. Jeffrey Sachs hat aber auch «Mobbing» erlebt, und er schreibt nicht mehr so oft in der New York Times und Washington Post. Man versucht, ihn zu marginalisieren. Bei mir war es einfacher, denn ich war niemals so berühmt oder wurde so hofiert wie Jeff. Früher schrieb ich im Harvard International Law Journal, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, im Spiegel, in der Welt, in der Tribune de Genève, heute nicht mehr.

Sie gehören zur Gilde der unbestechlichen Völkerrechtler. Sie haben namhafte Bücher geschrieben, die seinerzeit auf der Bestsellerliste standen, waren lange Jahre Uno-Beamter und unabhängiger Uno-Experte mit viel positivem Echo. Ihr Mandat wurde damals um weitere drei Jahre verlängert. Es ist schon unglaublich, wie man mit Intellektuellen Ihres Formates verfährt. Hat irgendeine der erwähnten Zeitungen Farbe bekannt?

Nein. Ich glaube, dass ich verstehe, wie das Spiel gespielt wird. Bei den grösseren Professoren wie Jeff Sachs, Noam Chomsky, John Mears­heimer, Francis Boyle, Dan Kovalik und Richard Falk müssen die Medien ein Mindestmass an Anstand zeigen. Bei weniger bekannten Personen können sie es sich leisten, diese schlicht und einfach zu ignorieren. Ich bekomme keine Antworten auf meine Anfragen. Vielleicht haben sie meine E-Mail-Adresse schon vor Jahren blockiert beziehungsweise auf die Spamliste gesetzt.

Umso höher ist es Ihnen anzurechnen, dass Sie sich unermüdlich für ein friedliches Zusammenleben auf der Grundlage des Völkerrechts und der Menschenrechte einsetzen.  Woher kommt diese Kraft?

Im Oktober 2013, als ich in Harvard weilte, habe ich Noam Chomsky in seinem Büro am Massachusetts Institute of Technology eine ähnliche Frage gestellt. Ich hatte gerade eine völkerrechtliche Lesung in Harvard gehalten und nahm die Gelegenheit wahr, Chomsky zu besuchen. Ich fragte ihn «Noam, Sie schreiben überzeugende Analysen des Weltgeschehens seit fünf Jahrzehnten, aber die Welt wird immer verrückter. Verzweifeln Sie nicht an der Menschheit?» Er antwortete ganz ruhig «Man tut, was man kann», und dann fügte er mit Nachdruck hinzu «und was man muss».

Wie könnten aktuelle Entwicklungen wie in Gaza oder in der Ukraine verhindert werden?

Die Gaza-Tragödie ist nicht die erste beziehungsweise die einzige, die der Westen zu verantworten hat. Die Kriege gegen Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien waren alle vermeidbar. Aber es gibt zu viele Politiker und zu viele Lobbys in Washington, Ottawa, London, Paris und Berlin, die den Krieg ersehnen, die mit dem Krieg Geld verdienen. Der sogenannte militärische-industrielle-finanzielle und mediengesteuerte Komplex ist durch und durch korrupt und kriminell. Wir beobachten, wie die Medien eine dreiste Apologie der Verbrechen des Westens betreiben. Die Medien rechtfertigen den Völkermord. Die Gehirnwäsche in den westlichen Staaten ist sowohl machiavellistisch als auch orwellsch. Wenn wir Blutvergiessen vermeiden wollen, müssen wir zunächst den Informationskrieg gewinnen. Die Menschen im Westen müssen endlich die schlechte Nachricht verstehen und verdauen, dass wir eben nicht immer «die Guten» sind, nicht immer «die Guten» waren, und dass unsere Regierungen Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord begingen und begehen, und nicht nur heute. Dies hat Jeffrey Sachs, gewiss ein amerikanischer Patriot, verstanden. Auch er handelt nach Immanuel Kants «sapere aude!» (Hab' den Mut, selber zu denken und zu urteilen!). Aber es tut weh, denn die meisten Menschen versuchen, Augen und Ohren zuzumachen. «See no evil, hear no evil.» Schade nur, dass «we speak evil».

«Die meisten Menschen versuchen, Augen und Ohren zuzumachen. ‹See no evil, hear no evil.› Schade nur, dass ‹we speak evil›». (Bild zvg)

«Die meisten Menschen versuchen, Augen und Ohren zuzumachen. ‹See no evil, hear no evil.›
Schade nur, dass ‹we speak evil›». (Bild zvg)

 

Was wäre in diesem Fall die Aufgabe der einzelnen Staaten, die Mitglieder der Uno sind und die Charta unterschrieben haben?

Die einzelnen Staaten sind alle an die Uno-Charta gebunden, an den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, an den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, an die Konvention gegen die Rassendiskriminierung, an die Konvention über das Recht des Kindes und so weiter. Sie müssen sich an diese Verträge halten und auch dafür sorgen, dass erga omnes Verpflichtungen von allen Staaten eingehalten werden, unter anderem USA, Kanada, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland.

Souveräne Staaten haben in der Generalversammlung die Möglichkeit, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die alle diese Kriege verursacht haben. Sie müssen an den Internationalen Gerichtshof, an den Internationalen Strafgerichtshof appellieren und verlangen, dass die Verbrechen sofort aufhören, dass sie die Provokationen und Eskalationen stoppen.  Sie müssen einen Waffenstillstand in der Ukraine und in Gaza verlangen und durchsetzen.  Es ist zum Teil eine Frage der echten oder virtuellen Souveränität.  Die meisten europäischen Staaten sind gar nicht souverän, vor allem Deutschland nicht. Sie sind Vasallen der USA. Sie verraten die Interessen ihrer eigenen Bürger und belügen sie tagtäglich. Die Worte von Trudeau, Sunak, Macron und Scholz mangeln an Kohärenz, an Logik, an Ethik.  Die Worte der Vertreter der USA, Grossbritanniens und Frankreichs waren im Sicherheitsrat am 25. März 2024 eine Zumutung, waren schändlich und surrealistisch. Die Schweiz ist zur Zeit ein Trauerspiel. Die Inkompetenz, die Faux Pas und die Fahrlässigkeit von Ignazio Cassis sind inzwischen legendär. Die Schweiz muss ihre Neutralität, ihre Geschichte und ihre Moral wiederfinden. Aber wann? Als Schweizer Bürger seit 2017 würde ich dies sehr begrüssen.

Wie verlief die Anhörung im Sicherheitsrat und mit welchem Fazit?

Meine elf Minuten dauernde Intervention ist gut angekommen – das heisst bei der Mehrheit der Teilnehmer. Am Ende hat die Moderatorin mir das Wort für das Fazit erteilt. Ich sagte:

«Als ich Völkerrecht an der Universität Harvard studierte, hat uns unser Professor Richard Baxter (später US-Richter am IGH) deutlich erklärt, dass nur der Sicherheitsrat Sanktionen verhängen kann, und dass unilaterale Massnahmen nur in sehr wenigen Situationen legal sind, sich an das Völkerrecht halten müssen und keine extraterritoriale Wirkungen entfalten dürfen. Bei extraterritorialen Wirkungen müsste man sehen, inwieweit die Souveränität anderer Staaten verletzt würde, und welche Konsequenzen solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten haben würden. Jedenfalls dürften bestehende Verträge nicht verletzt und keine Menschenrechte tangiert werden. Entstehende Schäden an Dritten müssten wiedergutgemacht werden.»

Ich habe meine Verwunderung zum Ausdruck gebracht, dass sich drei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates nicht an das Völkerrecht halten wollen und dass sie behaupten, dass einseitige Zwangsmassnahmen irgendwie durch die angegebene Absicht beziehungsweise das Ziel, andere Staaten zu bewegen, sich an das Völkerrecht zu halten, als rechtmässig erachten. Ich habe sie an Niccolo Machiavellis «Der Fürst» erinnert und gesagt, dass diese Ausrede keinen überzeugen kann, gewiss nicht die Mitglieder der Generalversammlung, die Jahr um Jahr UCM als illegal bezeichnen. Das angegebene Ziel heiligt nicht die Mittel. Ich ging weiter und sagte, dass solche Argumente als orwellsch zu bewerten seien, denn hier wird die Sprache korrumpiert und gegen jede Logik argumentiert. Ich habe noch einmal betont, dass UCM inkompatibel mit der Uno-Charta sind und aufgehoben werden müssen, wie die Generalversammlung und der Menschenrechtsrat es verlangen. Anders ist die Autorität und die Glaubwürdigkeit der Uno – und des Völkerrechts selbst – in Frage gestellt. Ich habe auf meine einschlägigen Berichte an die Generalversammlung hingewiesen und hinzugefügt, dass manche Staaten uns als eine Sammlung von Kassandras betrachten und unsere konkreten, pragmatischen, implementierbaren Vorschläge ignorierten.

Welche weitere Folgen könnte diese Anhörung vor dem Sicherheitsrat eventuell haben?

Ich bin selbst überrascht, dass diese Anhörung überhaupt stattgefunden hat, und dass ausgerechnet ich dazu eingeladen wurde. Das gibt mir einen gewissen Optimismus. Man kann also gewisse Wahrheiten im Sicherheitsrat diskutieren, ohne dass einem das Wort entzogen wird. Natürlich war ich enttäuscht, dass die westlichen Staaten absolut keine Bereitschaft zeigten, zuzuhören und die Probleme ernsthaft zu diskutieren. Die USA, Grossbritannien und Frankreich sprachen, als ob nur sie Recht hätten und die übrige Welt nicht zählte. Diese Arroganz erinnert mich an die Intransigenz der Nato-Staaten in Sachen Osterweiterung und an die Unterstützung der EU-Staaten für den Völkermord in Gaza. Es ist gefährlich, wenn mächtige Staaten keine Moral mehr haben, wenn ihre «Werte» nur noch Scheinwerte sind, wenn sie sich in die eigene Ideologie verfangen und meinen, sie könnten die Sicherheit des Planeten in Gefahr bringen, nur um zu beweisen, dass sie Recht haben. Diese Intransigenz kann zur Apokalypse führen.

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

¹ https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/9_6_2001.pdf
² https://www.icc-cpi.int/venezuela-ii
³ https://www.claritypress.com/product/human-rights-industry/
4 https://www.icj-cij.org/case/192
https://news.un.org/en/story/2024/02/1146927
https://www.aljazeera.com/opinions/2024/1/26/icj-israel-decision-a-new-world-order-in-the-making
5 https://www.reuters.com/world/ireland-intervene-south-africa-genocide-case-against-israel-2024-03-27/
https://www.icj-cij.org/case/193
7 https://www.icj-cij.org/case/186
8 https://www.msn.com/en-us/news/world/un-expert-report-accuses-israel-of-genocide-in-gaza/ar-BB1kE8Ax
https://www.icc-cpi.int/palestine
10 https://www.jeffsachs.org/

veröffentlicht 25. April 2024

Eskalation in Nahost (II): «Diese doppelten Standards sind erschreckend»

GERMAN FOREIGN POLICY

EU und mehrere G7-Staaten kündigen auch auf deutschen Druck neue Iran-Sanktionen an. Israels Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus hat keine Konsequenzen. Kritik an doppelten Standards wird laut.

Auch auf deutschen Druck bereiten die EU sowie mehrere G7-Staaten neue Sanktionen gegen Iran vor. Ursache ist Irans Angriff auf Israel vom vergangenen Wochenende [13./14. April] – der erste, der direkt gegen israelisches Territorium gerichtet war. Gewaltsame Auseinandersetzungen führen Israel und Iran bereits seit vielen Jahren. Seit 2013, verstärkt seit 2017 greift Israel iranische Stellungen in Syrien an; seit dem 7. Oktober 2023 ermordet es dabei auch gezielt iranische Kommandeure, fast ein Dutzend allein bis Ende März. Mit dem Luftangriff auf ein iranisches Konsulatsgebäude in Damaskus am 1. April, bei dem sieben teilweise hochrangige iranische Kommandeure zu Tode kamen, hat Tel Aviv laut der Einschätzung des Londoner Think-Tanks Chatham House «eine beispiellose Eskalation» gestartet; diese könne sich noch als «der Funke» erweisen, «der den Mittleren Osten in Brand setzt». Strafmassnahmen verhängt der Westen dagegen nicht; auf Irans vorab kommunizierten Gegenschlag reagiert er jedoch mit Repressalien. Die doppelten Standards, die dabei einmal mehr zum Vorschein treten, werden international äusserst scharf kritisiert.

Cyberangriffe, Morde

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Iran dauern schon seit vielen Jahren an. So hat Israel immer wieder das iranische Atomprogramm sabotiert und dazu unter anderem teils umfassende Cyberangriffe (Stuxnet) durchgeführt sowie Morde an iranischen Atomwissenschaftlern verübt. Zugenommen haben die israelischen Angriffe auf iranische Ziele vor allem seit dem Jahr 2013. Damals begann Teheran, seine Unterstützung für Syriens Präsidenten Bashar al Assad zu nutzen, um über syrische Routen die libanesische Hizbollah mit Waffen zu beliefern und ihm nahestehende Milizen auch in Syrien selbst zu stärken – beides mit dem Ziel, proiranische Kräfte an Israels Nordgrenze in Stellung zu bringen. Israel hat immer wieder versucht, dies mit Luftangriffen zu verhindern. Dabei nahmen seine Luftangriffe besonders seit 2017 zu, dem Jahr, in dem sich Assads Regierung zu stabilisieren begann. Eine vom Washingtoner Middle East Institute (MEI) präsentierte Analyse zählt von 2013 bis August 2023 226 öffentlich dokumentierte israelische Luftangriffe auf iranische Ziele in Syrien.¹ Andere nennen weitaus höhere Zahlen.

Kommandeure im Visier

Eine neue Eskalationsstufe haben die Auseinandersetzungen nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 erreicht. Die Iran nahestehende Hizbollah begann sich erneute Kämpfe mit den israelischen Streitkräften zu liefern; die gleichfalls von Teheran unterstützten jemenitischen Huthi gingen im Roten Meer zu Angriffen auf Schiffe mit Beziehung zu Israel über. Beide verstehen dies als Unterstützungsmassnahme für die Palästinenser im Gaza-Streifen und als Mittel, der Forderung nach einem Ende des Kriegs Nachdruck zu verleihen. Tel Aviv ging daraufhin dazu über, gezielt Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden bzw. der Quds-Brigade zu ermorden. Allein von Anfang Dezember bis Ende März kamen laut Zählung der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs «fast ein Dutzend» von ihnen durch israelische Angriffe ums Leben.² Am 25. Dezember 2023 brachte Israel durch einen Luftangriff den damals wohl mächtigsten aller iranischen Kommandeure in Syrien um, Sayyed Razi Mousavi.³ Teheran musste faktisch zusehen, wie seine militärische Führungsriege in Syrien mit israelischen Luftangriffen systematisch eliminiert wurde.

«Eine beispiellose Eskalation»

Eine neue Qualität stellte dann der israelische Luftangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus dar. Zum einen kamen dabei gleich sieben iranische Kommandeure zu Tode, unter ihnen Mohammad Reza Zahedi, ein Brigadegeneral der für Auslandsoperationen zuständigen Quds-Brigade, sowie sein Stellvertreter. Zum anderen traf der Angriff mit dem Konsulat ein Gebäude, das besonderen diplomatischen Schutz geniesst; kriegerische Angriffe auf solche Einrichtungen sind selten und werden als besonders gravierend eingeschätzt. Der Londoner Think-Tank Chatham House konstatierte am 12. April, der israelische Luftangriff stelle «eine beispiellose Eskalation Israels gegen Iran» dar; er könne, hiess es, «der Funke sein, der den Mittleren Osten in Brand steckt».4 Der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja erklärte im Uno-Sicherheitsrat, «ein Angriff auf eine diplomatische Mission» könne sogar als «Casus Belli» gewertet werden.5 Davon abgesehen müsse Iran schon aus simplen praktischen Erwägungen auf den Angriff reagieren, hiess es in der Chatham House-Stellungnahme; denn wenn iranische Kommandeure nicht einmal in einer diplomatischen Vertretung sicher vor israelischen Bomben seien, seien sie dies nirgendwo.

Zu Gegenschlägen fähig

Die westlichen Staaten haben den israelischen Luftangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus mit einem gewissen Stirnrunzeln, faktisch aber tatenlos hingenommen. Ganz im Gegensatz dazu haben sie mit scharfer Ablehnung und konkreten Massnahmen auf Irans Reaktion in der Nacht von Samstag auf Sonntag reagiert. Iran griff Israel mit wohl deutlich mehr als 300 Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen an. Dass die meisten davon abgefangen werden konnten und nur eher geringe Schäden an einem israelischen Militärflugplatz entstanden, lag daran, dass Teheran die arabischen Nachbarstaaten sowie die USA – Letztere vermittelt über die Türkei – über den Zeitpunkt des Angriffs informiert hatten. Dies ermöglichte es Israel, sich auf die Attacke einzustellen und nicht nur westliche (USA, Grossbritannien, Frankreich), sondern auch arabische (Jordanien, Saudi-Arabien) Unterstützung bei der Abwehr des Luftangriffs zu organisieren. Ein entsprechender Bericht des iranischen Aussenministers wurde unter anderem von türkischen Insidern bestätigt.⁶ Teheran hat damit schwere, wohl einen Krieg auslösende Schäden in Israel vermieden, zugleich aber klargestellt, dass es, sofern seine roten Linien weiterhin überschritten werden, zu umfassenden Gegenschlägen fähig ist.

Neue Sanktionen

Die EU hat darauf reagiert, indem sie am Dienstagabend eine erneute Verschärfung ihrer Iran-Sanktionen angekündigt hat. Wie der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell nach einem Treffen mit den EU-Aussenministern mitteilte, bereitet Brüssel eine weitere Einschränkung des Handels mit Iran vor.7 Dafür hatte sich bereits am Montag Bundesaussenministerin Annalena Baerbock stark gemacht.8 Baerbock sprach sich auch vor dem Treffen der G7-Aussenminister auf Capri für neue Strafmassnahmen gegen Teheran aus. Am gestrigen Donnerstag kündigten die USA und Grossbritannien vor dem Hintergrund des G7-Aussenministertreffens eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Iran an.⁹ Israels Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus hingegen bleibt ohne Konsequenzen.

Mit zweierlei Mass

An den doppelten Standards, die sich darin äussern, wird scharfe Kritik laut. Russlands Uno-Botschafter Nebensja etwa sprach von einer «Parade der Heuchelei».10 Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan konstatierte, der Westen messe da – einmal mehr – mit zweierlei Mass.11 Während die iranischen Geschosse «in westlichen Hauptstädten moralische Empörung» ausgelöst hätten, habe es «keine vergleichbare Verdammung des mörderischen Angriffs Israels auf Gaza» gegeben, hiess es am gestrigen Donnerstag etwa in der pakistanischen Zeitung Dawn: «Diese doppelten Standards sind erschreckend.»12

¹ Navvar Şaban: Israel’s Response to Iran in Syria: Choosing Between Escalation and Accomodation. mei.edu 17.11.2023.
² Ali Vaez: The Middle East Could Still Explode. foreignaffairs.com 15.04.2024.
3,4 Haid Haid: The strike on Iran‘s consulate in Syria could be the spark that ignites the Middle East. chathamhouse.org 12.04.2024.
⁵ Russian envoy calls UN Security Council meeting on Iran strike parade of hypocrisy. tass.com 14.04.2024.
⁶ Iran told Turkey in advance of its operation against Israel, Turkish source says. reuters.com 14.04.2024.
⁷ EU plant neue Iran-Sanktionen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.04.2024.
⁸ Baerbock fordert Verschärfung der Sanktionen. deutschlandfunk.de 15.04.2024.
⁹ Iran sanctions: US and UK extend measures against Tehran. bbc.co.uk 18.04.2024.
10 Russian envoy calls UN Security Council meeting on Iran strike parade of hypocrisy. tass.com 14.04.2024.
11 Erdogan accuses Western nations of double standards, blames Israel for escalation of Mideast crisis. msn.com 17.04.2024.
12 Never-ending suffering. dawn.com 18.04.2024.

Quelle: www.german-foreign-policy.com/news/detail/9534, 19.02.2024

Wir danken GERMAN FOREIGN POLICY für die Abdruckgenehmigung. 

veröffentlicht 25. April 2024

Deutschland: Massive Einschränkung des Diskursraums

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko 

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko, BSW (Bild thk)
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko, BSW (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus In Berlin gab es einen Palästina-Kongress, der abgebrochen wurde. Was hat sich dort abgespielt?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko An dem Kongress sollten internationale Redner teilnehmen, wie zum Beispiel der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis oder der Arzt Ghassan Abu-Sittah, der auch Rektor der Universität Glasgow ist. Dieser Kongress wurde im Vorfeld erheblich behindert, aber nicht verboten. So sperrte die Berliner Sparkasse das Konto der «Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost» im Vorfeld der Veranstaltung. Das Konto diente zur Finanzierung des Kongresses. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang, dass in Deutschland Konten von Juden gesperrt werden, wenn sie zur Politik Israels kritisch eingestellt sind. Der Kongress begann am Freitagnachmittag und nach 30 Minuten drang die Polizei dort ein, stellte die Tonanlagen aus und löste mit Gewalt den Kongress auf.

Mit welcher Begründung?

Es soll ein Teilnehmer per Video zugeschaltet worden sein, gegen den angeblich ein Betätigungsverbot in Deutschland bestehe. Während seiner Rede wurde die Übertragung von der Polizei abgebrochen und der Kongress aufgelöst. Dagegen hatte Yanis Varoufakis, der anschliessend reden sollte, auf sozialen Medien heftig protestiert und Parallelen zu den dreissiger Jahren in Deutschland gezogen. Daraufhin, und das ist ein Skandal, wurde ihm vom deutschen Innenministerium ein Betätigungsverbot in Deutschland auferlegt. Das Betätigungsverbot ist ein selten angewandtes Komplettverbot jeglicher politischer Betätigung einer Person, was auch bei einer Videoübertragung gilt. Das ist ein äusserst scharfes Schwert. Man hatte das beim IS angewendet oder auch bei der Hamas, und jetzt beim ehemaligen Finanzminister Varoufakis. Gegen diesen ungeheuerlichen Vorgang protestierte ich als Parlamentarier. Später behauptete die Bundesregierung, dass es «nur» ein Einreiseverbot gegen Varoufakis gegeben habe, widersprach sich dabei aber mehrfach. Sowohl die Widersprüchlichkeit der repressiven Massnahme als auch die Unbestimmtheit des Vorwurfs gegen den Kongress sind typisch für autoritäre Systeme.

Was ist denn die Begründung für das Betätigungsverbot?

Ich habe bis jetzt noch keine direkte Bestätigung aus dem Innenministerium. Ich habe dort aber nachgefragt. In den Medien behauptet die Bundesregierung das wäre ein Kongress der «islamistischen Szene» gewesen, was völlig absurd ist.

Das Abbrechen der Veranstaltung mit Polizeigewalt weckt Erinnerungen an das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit.

Wir erleben hier in Deutschland eine ganz massive innere Einschränkung des Diskursraums, die nicht einmal vor solchen Mitteln zurückschreckt. Das ist eine ganz neue Qualität. Die renommierte jüdische Philosophin, Nancy Fraser, ist vor einigen Tagen ausgeladen worden. Ihre Gastprofessur an der Uni Köln ist zurückgezogen worden, nachdem sie einen kritischen Text zu Israel-Palästina mitunterzeichnet hatte. Auch kritische Juden stehen in Deutschland massiv unter Druck.

Wir erleben schon seit längerer Zeit eine mediale und politische Einschränkung des Diskurses. Das begann mit Corona und manifestiert sich immer mehr.

Ja, sowohl von staatlicher als auch von medialer Seite wird dieser Kurs geführt. Während Corona wurden bereits autoritäre Methoden ausprobiert, insbesondere die Medienhetze gegen Kritiker der Corona-Politik. Aber auch an Repressionen gegenüber kritischen Ärzten, etwa die Entlassung des Leiters eines bayrischen Gesundheitsamtes, Friedrich Pürner. Neben der medialen Stimmungsmache war auch von staatlicher Seite verstärkt undemokratisches Vorgehen zu beobachten.

In der Auseinandersetzung um den Ukraine-Krieg können wir Ähnliches feststellen.

Ja, das richtet sich vor allem gegen die Leute, die Verhandlungen und ein Ende der Eskalation fordern sowie weitere Waffenlie­ferungen ablehnen und alles tun, um beide Seiten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Diese Personen werden als Putinfreunde verunglimpft. Die Repression geht so weit, dass man bereits Leute verurteilt hat, wenn sie sich nicht an die offizielle Linie gehalten und abweichende Meinungen vertreten haben. Ich denke dabei an den Friedensaktivist Heinrich Bücker, der zum Jahrestag des Ostfeldzugs der Nazis eine Rede hielt und einen Strafbefehl bekam, weil diese Rede als Legitimierung eines Angriffskriegs gedeutet wurde. Inzwischen sprach das Gericht ihn frei.

Die heftigen Reaktionen ereilten auch den Papst, als er für eine Beendigung des Ukraine-Kriegs plädierte.

Ja, immerhin fällt der Papst dadurch auf, dass er im Ukraine-Krieg die Idee der Verhandlungen und die Beendigung des Krieges in die Diskussion wirft. Der Papst wurde danach massiv unter Druck gesetzt und von den Massenmedien diffamiert.

Sie sind ebenfalls schon unter Beschuss gekommen.

Ja, vor allem medial. Das fing schon in der Corona-Zeit an, weil ich mich kritisch über die Art und Weise der ergriffenen Massnahmen geäussert hatte. Man unterschob mir unhaltbare und völlig absurde Dinge. Es ist tatsächlich eine Kultur, bei der eine Person mit einer kritischen Haltung sofort in die rechtsextreme Ecke geschoben wird, oder man bei Kritik an Israels Kriegsführung das Etikett «Antisemit» bekommt. Damit ist jegliche Diskussion beendet, denn wer will schon mit einem «Antisemiten» diskutieren. Selbst kritische Juden werden attackiert. Es ist wirklich unglaublich.

Realisiert die Bevölkerung in Deutschland, wie die Freiheit immer mehr eingeschränkt wird?

Es gibt Umfragen, die besagen, dass mehr als die Hälfte der Menschen inzwischen bei der Frage zustimmt, dass man seine Meinung nicht mehr offen äussern kann. Sie haben persönlich das Gefühl, dass man bei bestimmten Dingen vorsichtig sein muss, sonst könnte man im Beruf Nachteile erleiden. Man muss hier tatsächlich von einer autoritären Entwicklung sprechen.

In anderen Erdteilen ist man im Gegensatz zu Europa viel kritischer und wird auch gegen den Krieg in Gaza aktiv.

Ja, es gibt gute Gründe für die Klage Südafrikas wegen Völkermordes oder für die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord in Anbetracht des Vorgehens Netanjahus im Gaza-Krieg. Auf dem Palästina-Kongress wurden Leute, die das kritisch sehen – vielleicht auch anders als ich, das will ich gar nicht ausschliessen – massiv angegangen. Sie werden reflexartig als antisemitisch bezeichnet. In nahezu allen westlichen Staaten ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen weitere Waffenlieferungen an Israel, weil sie sieht, was damit angerichtet wird. Deutschland ist nach den USA der zweitgrösste Waffenexporteur. Sechzig Prozent der Waffen für Israel kommen aus den USA, dreissig Prozent aus Deutschland und die restlichen zehn Prozent aus anderen Ländern. Es ist eine Kernforderung, die man stellen muss. Die Waffenlieferungen müssen eingestellt werden! Das forderte vor einigen Tagen auch der Uno-Menschenrechtsrat in Genf mit grosser Mehrheit. Er stellte fest, dass in Gaza Hunger als Waffe eingesetzt wird, und forderte, Waffenlieferungen einzustellen. Dieser Resolution stimmten neben den Staaten des globalen Südens auch einige europäische Staaten wie Belgien, Finnland oder Luxembourg zu, aber Deutschland war mit den USA und wenigen anderen Staaten dagegen. Es ist eine Forderung, die ganz wichtig ist, um in dieser Region eine weitere Eskalation zu verhindern und Netanjahu in die Schranken zu weisen.

Es scheint so zu sein, dass es Kräfte gibt, die keinen Frieden in dieser Region anstreben. Der Angriff Israels auf das iranische Konsulat in Damaskus ist dazu angetan, die Eskalation in der Region anzuheizen. Botschaften und Konsulate stehen doch unter einem besonderen Schutz.

Es war Teil einer Botschaft des Irans in Syrien, das Konsulat, das zerstört wurde, wobei mehrere Menschen ums Leben kamen. Das ist ein schwerer Verstoss gegen das Völkerrecht und die Wiener Konvention, die die diplomatischen Beziehungen regelt. Ich befragte die Bundesregierung dazu, aber sie tut so, als ob sie nicht wisse, wer die Botschaft angegriffen habe. Es ist eindeutig, dass der Angriff von Israel ausging. Die Reaktion Irans ist auch zu verurteilen, denn niemand kann an einer Eskalation der Situation interessiert sein. Interessant am Ganzen ist doch, dass man den Iran verurteilt, aber nicht erwähnt, dass der Reaktion Irans ein Angriff auf die iranische Botschaft in Syrien mit einigen toten iranischen Bürgern vorausging.

Dass man die Regeln der Wiener Konvention missachtet, sehen wir auch an einem Vorfall in Mexiko, einem Vorgang, bei dem man die Aufweichung völkerrechtlicher Prinzipien beobachten kann. Wie ist dieser Vorgang zu erklären und zu bewerten?

Die ecuadorianischen Sicherheitskräfte haben die mexikanische Botschaft gewaltsam gestürmt, den Geschäftsträger der Botschaft zu Boden geworfen und den ehemaligen ecuadorianischen Vizepräsidenten, Jorge Glas, entführt. Jorge Glas war in die mexikanische Botschaft geflohen, weil er einem, nach meiner Einschätzung politisch motivierten, Verfahren in Ecuador ausgesetzt ist, ein sogenanntes Lawfare-Verfahren, das man damals auch gegen Lula da Silva in Brasilien anstrebte. Die Erstürmung der Botschaft ist in Lateinamerika präzedenzlos, denn selbst die schlimmsten Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre, zum Beispiel unter Pinochet, hatten immer gemäss der Wiener Konvention das Botschaftsgelände respektiert. Das ist eine rote Linie, die jetzt überschritten wurde. Wir erleben im Moment eine verstärkte Erosion internationaler Regeln.

Wenn in einzelnen Ländern Grundrechte missachtet werden, setzt sich das Verhalten gegenüber internationalen Regeln fort. Sehen Sie das auch so?

Absolut, es ist so. Das geht Hand in Hand. Jeder Bruch eines Abkommens führt zu weiteren Erosionen. Das wird von anderen Ländern auch wahrgenommen. Wenn sich das ein Staat ohne Folgen erlauben darf, dann nimmt der nächste Staat das für sich auch in Anspruch. Deshalb ist es so verheerend, wenn hier die Bundesregierung schweigt, weil es sich um «befreundete Regierungen» handelt, sogenannte Partnerländer wie im Fall von Ecuador. Gegen das Vorgehen protestierten nahezu alle lateinamerikanischen Länder. Auch Josep Borell, der Aussenbeauftragte der EU, protestierte dagegen. Aber die deutsche Regierung schweigt, obwohl Jorge Glas auch deutscher Staatsbürger ist. Er hat einen deutschen und einen ecuadorianischen Pass. Er kommt aus einer jüdischen Familie, die in den dreissiger Jahren vor den Nazis geflohen war. Es ist unglaublich, dass die deutsche Regierung lieber die rechte Regierung der Marionette des Westens, des Bananen-Oligarchen Daniel Noboa, in Ecuador unterstützt, als sich für die Einhaltung internationaler Regeln stark zu machen und sich für einen ehemaligen linken Vizepräsidenten einzusetzen, der zudem noch Deutscher ist. Man gibt der rechtsradikalen israelischen Regierung oder einem Bananen-Oligarchen in Ecuador Unterstützung und ruft hierzulande zu Demos gegen Rechts auf, wobei man sich fragen muss, ob sich die Aufrufe tatsächlich gegen Rechts richten oder nur gegen Kritiker der Regierung.

Sie hatten vorhin erwähnt, dass eine Mehrheit der deutschen und der US-amerikanischen Bevölkerung gegen weitere Waffenlieferungen nach Israel ist. Wie sieht denn die Haltung der Bevölkerung gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine aus?

In der Tendenz ist es ähnlich. Es gab in Deutschland eine intensive Debatte um die Lieferung der Marschflugkörper Taurus. Etwa Zweidrittel der Bevölkerung sind dagegen, weil sie das als weitere Eskalation sehen und als tiefere Involvierung in diesen Krieg wahrnehmen.

Es gab doch eine Abstimmung über Taurus im Bundestag.

Die Mehrheit des Bundestags stimmte gegen diese Waffenlieferungen. Auch die Umfragen, wie die Wählerschaft der Parteien dazu eingestellt ist, ergeben ein ähnliches Bild. Die Grünen sind die einzige Partei, deren Wählerschaft mehrheitlich den Taurus-Lieferungen zustimmt. Beim Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) waren es über 80 Prozent der Wähler, die gegen weitere Waffenlieferungen sind.

Herr Bundestagsabgeordneter
Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 25.April 2024

Fragwürdiges rund um «Soft Law» in der schweizerischen Aussenpolitik

Leserzuschrift

Seit längerer Zeit unterzeichnet der Bundesrat internationale Verträge von grosser Tragweite im Alleingang, ohne Einbezug von Parlament und Volk. Er bezeichnet diese Abkommen als sogenanntes «Soft Law», das rechtlich nicht verbindlich sei und deshalb im Zuständigkeitsbereich des Bundesrates liege.

In der Folge gab es mehrere parlamentarische Vorstösse, um die Rechte des Parlaments wieder zu stärken. So reichte die Aussenpolitische Kommission des Ständerates (APK-S) am 12. November 2018 das Postulat 18.4104, Konsultation und Mitwirkung des Parlaments im Bereich von Soft Law, ein: «Der Bundesrat wird beauftragt, innert sechs Monaten Bericht zu erstatten über die wachsende Rolle des sogenannten Soft Law in den internationalen Beziehungen sowie über die weiteren internationalen Entwicklungen infolge der globalen Verknüpfungen und die daraus resultierende schleichende Schwächung der demokratischen Rechte der Parlamente, in solchen Fragen rechtzeitig mitzuwirken, bevor sie zu einem im Grundsatz nicht beschlossenen gesetzgeberischen Verfahren führen. Insbesondere soll der Bericht die Folgen dieser Entwicklung für die Schweiz durchleuchten und allfälligen Reformbedarf von Artikel 152 des Parlamentsgesetzes erörtern.»

Am 26. Juni 2019 erfolgte der Bericht des Bundesrates zum Postulat 18.4104 der APK-S. Darin schreibt der Bundesrat: « Soft Law hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem eigenen Gestaltungsinstrument der internationalen Beziehungen entwickelt.» Das seien Vereinbarungen, die «rechtlich nicht verbindlich sind (‹soft›), aber eine bestimmte Verhaltensweise vorgeben (‹law›)». «Soft Law begründet im Gegensatz zum Völkerrecht somit keinerlei völkerrechtliche Verpflichtungen, weshalb Staaten für dessen Verletzung auch nicht rechtlich verantwortlich gemacht werden können.» Bei Verletzung und Nichteinhaltung von Soft Law bestehe die Möglichkeit «mit sogenannten Retorsionen auf dem politischen Weg vorzugehen». «Dazu können auch Sanktionen oder deren Androhung gehören beispielsweise als Folge der Aufnahme eines Staates auf eine (schwarze) Liste.»

Kommentar

Soft Law ist also nicht rechtsverbindlich, es muss aber bei Nichteinhaltung mit schwerwiegenden Sanktionen gerechnet werden. Es gibt keine gerichtliche Zuständigkeit, welche die Betroffenen anrufen könnten.

In den letzten 25 Jahren wurden von der Schweiz zahlreiche Pakte, Deklarationen und Verträge unterzeichnet, die heute als «relevante Soft Law-Instrumente» bezeichnet werden und meist unter Ausschluss des Parlamentes und des Volkes zustande kamen. So entstanden die Bologna-Deklaration von 1999 und der Bologna-Prozess, die die Hochschulen und damit das ganze Bildungswesen in der Schweiz und in ganz Europa umpflügten – ohne eine demokratische Auseinandersetzung!

Im Herbst 2018 konnte im letzten Moment verhindert werden, dass der Bundesrat im Alleingang dem Uno-Migrationspakt zustimmte. Der Bundesrat rechtfertigte seinen Alleingang damit, dass es sich beim Migrationspakt um sogenanntes Soft Law – eine rechtlich nicht verbindliche Verpflichtung – handle. Doch der Pakt hätte weitreichende Folgen für die Schweiz gehabt, und die Nichteinhaltung des Paktes hätte mit schwerwiegenden Folgen sanktioniert werden können.

Zu den für die Schweiz relevanten Soft Law-Instrumenten zählen auch die «Global Health Security Agenda» (GHSA) von 2014 und die «2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung». Die GHSA soll die Umsetzung der völkerrechtlich bindenden internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der WHO unterstützen. Dazu gehören Themen («Action Packages») wie Antibiotikaresistenz und Impfungen.

So ist der Schritt nicht mehr weit zum WHO-Pandemiepakt und den neuen Gesundheitsvorschriften, die im Mai dieses Jahres verabschiedet werden sollen. Auch hier scheinen die Vereinbarungen unter dem Stichwort «Soft Law» zu laufen, denn auch in dieser Frage wird nur dürftig informiert.

Dabei beinhaltet das WHO-Pandemieabkommen neue Regeln, die über den staatlichen Gesetzen stehen würden. Beispielsweise könnte die WHO so gesundheitliche Massnahmen weltweit verbindlich vorschreiben.

«Soft Law» wird von zwischenstaatlichen Organisationen, den «intergovernmental organizations» (IGO) erlassen, die ebenfalls Staatsvertragsrecht vorbereiten. In der Regel werden Soft Law-Vereinbarungen auch von den Vertretern der IGO verabschiedet, manchmal auch an Regierungskonferenzen.

Laut Bundesrichterin Monique Jametti verfügen die IGO über einen maximalen Einfluss, indem sie sowohl Soft Law initiieren, erlassen und anwenden und durch keinerlei Gerichte kontrolliert werden können. Zusätzlich kann es via Sekretariat fortlaufend verändert und an neue Forderungen angepasst werden. 

Frau Jametti schreibt: «Damit wird über Soft Law nicht nur der reguläre Gesetzgeber, sondern auch die Judikative ausgehebelt: Es sind nicht mehr die Gerichte, die sagen, was Recht ist, sondern die Sekretariate der IGO dekretieren, was man als richtig zu betrachten hat – und das erst noch auf der Grundlage von Nichtrecht.» Und ausserdem: «Da es um Soft Law geht, können störende Opponenten unter Hinweis auf den nicht rechtsbindenden Charakter übergangen werden.» 

Kommentar

Soft Law kann als Steuerungsinstrument eingesetzt werden, um

- auf politischem Weg «international legitimierten» Druck gegenüber kleineren, schwächeren Staaten auszuüben.

- nationale Entscheidungen an nichtgewählte, zum Teil private internationale Organisationen auszulagern.

- die Gewaltenteilung abzuschaffen und somit die Nationalstaaten und Demokratien zu schwächen.

- über die Verschiebung der politischen und gesellschaftlichen Fragen auf die internationale Ebene via «Aussenpolitik» innenpolitische Reformen zu erzwingen.

Schlussfolgerung:

Gerade in der heutigen Weltsituation sind ehrliche, würdige und friedliche Umgangsformen zwischen Staaten von hoher Dringlichkeit. Das Soft Law-Konstrukt schafft nur neue Konfliktherde, und trägt nicht nachhaltig zu tragfähigen Lösungen bei. Unsere Welt braucht den ehrlichen Dialog und Verhandlungen auf Augenhöhe – auch als Beitrag für den Weltfrieden. Da könnte die Schweiz mehr dazu beitragen.

Ueli Meister

Quellen:

Konsultation und Mitwirkung des Parlaments im Bereich von Soft Law (26. 06. 2019), Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 18.4104, Aussenpolitische Kommission SR, 12. 11. 2018.

Portal der Schweizer Regierung, Parlament soll bei Soft Law-Vorhaben stärker eingebunden werden, Bern, 27.06.2019.

Monique Jametti, Soft Law – ein politisches Druckmittel gegen kleine Staaten. Gastkommentar in: NZZ, 08.09.2021.

veröffentlicht 25. April 2024

Wenn die «Neutralität» keine Neutralität mehr ist

thk. Wer der Meinung ist, die Neutralität, wie sie der Schweiz bis vor kurzem noch eigen war, sei antiquiert, ist selbst in der Vergangenheit steckengeblieben und scheint zu ignorieren, dass das American Century, die monopolare Welt, Geschichte ist.

Der Westen, angeführt von den USA, wird seine Vormachtstellung verlieren. Verschiedene Staaten, besonders die des globalen Südens sowie asiatische Staaten, sind Akteure auf dem internationalen Parkett und lösen sich aus den Fängen der US-amerikanischen Hegemonie. In dieser Konstellation sind neutrale Staaten Gold wert. Leider gibt es sie kaum noch. Neben Schweden und Finnland hat sich auch die Schweiz in ihrer Realpolitik von der Neutralität – hoffentlich nur vorübergehend – verabschiedet. Unser Land ist zwar noch kein Mitglied der Nato, aber Frau Amherd, Vorsteherin des Militärdepartements, scheint den Auftrag zu haben, von wem auch immer, die Schweiz näher an die Nato heranzuführen, bis der Beitritt nur noch ein formaler Akt ist. Sekundiert wird sie von Bundesrat Ignazio Cassis, der bis zu seiner Wahl in den Bundesrat den italienischen Pass besass. Er definiert «Neutralität» nach seinem persönlichen Verständnis, was kilometerweit von Neutralität entfernt ist. Dass unser Bundesrat von Neutralität spricht, sich aber dabei jeweils auf die Seite eines Konfliktpartners stellt, verrät, worum es ihm wirklich geht. Anbiederung an die Macht, um auf der Seite der vermeintlichen Sieger zu stehen. Er scheint die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben oder will sie auch nicht erkennen. Die Schweiz mutiert zum Vasallenstaat der USA so wie es die meisten europäischen Staaten schon lange sind.

Die von Ignazio Cassis angestossene Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock ist reine Selbstdarstellung. Will er beweisen, dass die Schweiz immer noch neutral ist und werden darum so viele Staatschefs eingeladen? Einer der Hauptakteure, nämlich die Russische Föderation, wird nicht anwesend sein. Da die Schweiz für sie, «ein unfriendly State» ist. Die Neutralität ist im Moment verloren. Es können sich noch so viele Staatschefs anmelden, ohne Russland verkommt das Treffen zu einer Farce. Man kann lange über Neutralität fabulieren, wenn die Schweiz nicht mehr als neutrales Land wahrgenommen wird, dann ist die bundesrätliche Neutralitätspolitik nur noch Makulatur. 

Auch wenn die Konferenz ein Rohrkrepierer wird, so hofft man von Seiten des Bundesrats innenpolitisch punkten zu können, um die Neutralitätsinitiative, die letzte Woche zustande gekommen ist, unnötig erscheinen zu lassen. Die Quittung dafür bekommt er an der Urne.

veröffentlicht 25. April 2024

Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?

von Dr. phil. Carl Bossard*

Und wieder sind sie unterwegs, die Bildungspropheten und Bildungsrevolutionäre. In vielen Medien propagieren sie ungehemmt radikale Strukturreformen. So wollen sie den Defiziten, die sie mitverursacht haben, entfliehen. Doch es fehlt nicht an den Strukturen, sondern an der Wirksamkeit der Schule.

Es ist die Stunde der grossen Worte: «Bildungsrevolution – jetzt!», heisst es beim privaten Zürcher Unternehmen «Intrinsic». Das «Netzwerk für angewandte Bildungsrevolution», will damit «zu neuen Ufern aufbrechen […] und mit einer radikal neuen Lernkultur Bildung revolutionieren».¹ Bildung müsse sich endlich modernisieren! Wieder einmal wird Bildung mit ihrer Reform gleichgesetzt. Doch auf das Wie wird nicht verwiesen, lediglich auf neue Strukturen. Negiert wird auch die Evidenzfrage und damit der Wesenskern des Unterrichts: Worin zeigt sich das Wirksame dieser Reformen? Und worin erkennt man das Gelingen der Innovationen?

Reformen an der Oberfläche

Eine Art Strukturrevolution propagieren auch der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) und ihr umtriebiger Präsident Thomas Minder. Ultimativ verlangen sie die Abschaffung jeder Selektion in den ersten neun Schuljahren, dazu die Elimination der Noten² und der Hausaufgaben. Und der VSLCH setzt dominant auf «Lernlandschaften», auf das selbstorientierte Lernen SOL der Kinder und eine forcierte Digitalisierung.

Wenn es nach dem Schweizer Schulleiter-Verband geht, sind Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr Pädagogen, sondern nur noch Coaches und Lernbegleiter. Die Bildungsforschung aber kann nachweisen: Das ist Oberflächenkosmetik mit wenig bildungsqualitativer Tiefenwirkung.³

Orchestrierte Pressekampagne?

In die gleiche Richtung zielt die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler. Auch für die Präsidentin des Verbands Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sind «Schulnoten […] nicht mehr zeitgemäss», wie sie im grossen Blick-Interview verrät.4 Und wer die Medienberichte zu Schulfragen der vergangenen Wochen durchgeht, stösst auf viel Paralleles, auf Kongruenz unter Bildungsreformern, als gliche das Ganze einer orchestrierten Pressekampagne. Da erklärt beispielsweise «Bildungsexpertin» Rahel Tschopp in der SonntagsZeitung anhand von 26 Stichworten, was sich alles ändern müsse, damit wir eine zeitgemässe Schule erhielten.5

Und wieder trifft man auf die fast identischen Kennzeichen, wie sie auch der VSLCH postuliert und wie sie in Teilen der LCH-Präsidentin Dagmar Rösler wichtig sind: Da ist von Abschaffung der Noten und Zeugnisse und damit der Selektion die Rede, da wird die Auflösung des Klassenverbandes gefordert und damit das Ende des Unterrichts im Kollektiv, da wird die Digitalisierung forciert.⁶ Die Stossrichtung ist die gleiche. Die Tamedia-Presse aber unterschlägt die Tatsache, dass Bildungsprophetin Rahel Tschopp mit ihrem Institut «Denkreise» Schulentwicklungsprojekte anbietet und im IT-Bereich tätig ist. Schulreformen um des eigenen Gewinns wegen?

Reformpädagogische Wunschvorstellungen

Thomas Minder und sein Verband VSLCH wie auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler vom LCH, wenden sich mit ihren Thesen an die Öffentlichkeit. Sie zeigen keine Scheu, «Reformen» zu forcieren, die in vielen Teilen an der Bevölkerung vorbeigehen und reformpädagogische Wunschvorstellungen bedienen. Eine «notenfreie Schule» beispielsweise ist höchst umstritten. Auch viele Schulleiter wollen sie nicht.

Verschwiegen wird, dass in einem wertschätzenden Umfeld, in einer fehlerfreundlichen Atmo-sphäre Noten nicht das Problem sind, sondern eine Hilfe sein können, die Klarheit schafft. Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen in Bezug auf die Sache, den Lernprozess und die Selbstregulation. Dafür müssten Lehrerinnen und Lehrer im Alltag Zeit haben. Das wären Reformen mit Tiefen-wirkung. Die empirische Bildungsforschung weist sie nach.7

An der Bildungspolitik vorbei

Es erstaunt und irritiert, dass diese radikalen Innovationen als professionelle Forderung daherkommen und der LCH wie der VSLCH so tun, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung. Dabei ist im Luhmann’schen Spiel der Subsysteme die Schule der Politik unterstellt. Da liegt das Problem: LCH wie der VSLCH und teilweise auch die Pädagogischen Hochschulen, die das mittragen oder gar initiieren, stellen sich über die Politik und schaffen Fakten. Die Bildungspolitik und mit ihr die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK nehmen das kommentarlos hin und schweigen. Sie werden getrieben, statt zu steuern.

Strukturreformen von Seiten der Universität

Ein Paradebeispiel dazu ist das Tagesgespräch auf SRF 1 mit der Bildungsforscherin Katharina Maag Merki, Universität Zürich.8 Sie ortet zwei gravierende Probleme: Da ist einerseits die Tatsache, dass 25 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler mit Blick auf das Leseverständnis als leistungsschwach eingestuft werden. Um die hohe Rate funktionaler Analphabeten wissen wir aber längst; und PISA 2022 hat das Defizit erneut verdeutlicht. 

Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen

Und da ist anderseits das Auseinanderdriften der Schere zwischen Kindern aus bildungsfreundlichem Elternhaus und solchen aus bildungsdistanzierterem «Milieu». Konkret: die bedrohte Chancengerechtigkeit.

Doch statt diese beiden Problemfelder zu analysieren und nach den Gründen für den Ein-bruch zu fragen, verlangt Maag Merki dezidiert die Abschaffung der Noten und der Selektion und damit die Aufhebung leistungsunterschiedlicher Klassen nach sechs Schuljahren: Auch sie plädiert, ohne vertieft zu begründen, ultimativ für Strukturreformen!

Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen (Bild: © Statista 2024 / ergänzt: Carl Bossard)

Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen (Bild: © Statista 2024 / ergänzt: Carl Bossard)

Wenn Eltern mithelfen müssen

Die Bildungsexpertin Maag Merki verliert kein Wort, warum unsere Schulen an diesem Defizit leiden. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen, zu den beiden Fremdsprachen auf der Primarschule und der fehlenden Übungszeit, der forcierten Integration und der entsprechenden Unruhe im Schulzimmer. Auch die SRF-Moderatorin fragt nicht danach. Kein Wort, warum selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens oft grosse Lücken aufweisen. 

Und wenn sie diese Grundlagen beherrschen, dann stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Auch das wissen wir. Hier fände sich doch der Schlüssel zur Bildungsgerechtigkeit: Darum wäre dafür zu sorgen, dass jene Kinder, die keine Impulse oder nur wenig Hilfe aus dem Elternhaus kennen, nicht benachteiligt sind. Chancengleichheit entsteht im Klassenzimmer – über gute, vital präsente, am Wohl des Kindes interessierte Lehrpersonen und einen wirksamen Unterricht.

Fokus auf den Kern der Schule richten

Elementar wäre doch eines: endlich die vielen Baustellen – wie beispielsweise die vergessene Deutschkompetenz – aufräumen, bevor neue Gruben aufgerissen werden. Doch es ist eben leichter, den zahlreichen Schadstellen zu entfliehen und sich neuen «Reformen» zuzuwenden. Und es sind immer Strukturreformen, die gefordert werden! Dabei ist längst bekannt: Humane Energie kommt aus Personen, nicht aus Strukturen. Da hinein, in die Mikroprozesse des Lehrens und Lernens, müsste eine verantwortungsbewusste Bildungspolitik zoomen, in den gefährdeten Kern der Schule.

Die Definitionsmacht über die Schule gehört der Bildungspolitik

Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der Verbände und auch nicht der Pädagogischen Hochschulen liegt. Ein Diskurs ist heute schwierig geworden. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Dominanz über die Schulen errungen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Hier müsste die Bildungspolitik gegensteuern. Leidtragende sind immer die Kinder.

¹ www.intrinsic.ch [abgerufen am 22.03.2024]
² Vgl. www.srf.ch/audio/forum/sind-schulnoten-noch-zeitgemaess?id=12449418 [abgerufen am 21.03.2024]
³ John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2 100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge, p. 224ff.
4 Lisa Aeschlimann, «Schulnoten sind nicht mehr zeitgemäss», in: Blick, 25.02.204.
5 Vgl. Ursina Haller, Die Schule der Zukunft. Ein Glossar, in: SonntagsZeitung. Das Magazin 03.02.2024, S. 8ff.
⁶ Schweden hat die Digitalgeräte auf der Primarstufe verboten und kehrt zur Papierform zurück. Auch Dänemark verbietet sie; der dänische Bildungsminister entschuldigte sich gar für die negati-ven Folgen, die eine forcierte Digitalisierung der Schulen bei jungen Menschen verursacht habe; vgl. www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=2061 [abgerufen am 21.03.2024]
7 John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! «Visible Learning» für die Unterrichts-praxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 137ff.
8 www.srf.ch/audio/tagesgespraech/katharina-maag-merki-an-den-schulen-rumpelt-es-wie-noch-nie?id=12559295 [abgerufen am 20.03.2024]

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

veröffentlicht 25. April 2024

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