Editorial

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Aufgrund der abnehmenden Infektionszahlen hat der Bundesrat die Lockdown-Massnahmen, deren Folgen erst langsam sichtbar werden, sukzessive gelockert. Jetzt ist es an der Zeit, die gemachten Erfahrungen objektiv auszuwerten. 

Wir Bürgerinnen und Bürger und die von uns gewählten Volksvertreter in Stände- und Nationalrat müssen die Verantwortung wieder wahrnehmen und fragen, ob die vom Bundesrat verfügten Massnahmen der Situation angemessen und inwieweit sie verfassungs- und gesetzesmässig abgesichert waren. 

Es ist unumgänglich, öffentlich zu diskutieren, wie wir die vorläufig ausser Kraft gesetzten direktdemokratischen Rechte wieder zurückholen, welche Lehren wir aus der aktuellen Situation für eine nächste Krise ziehen müssen und wie der finanzielle und wirtschaftliche Schaden sozialverträglich minimiert werden kann. 

«Zeitgeschehen im Fokus» möchte einen sachlichen, unpolemischen und offenen Dialog, wie er für unsere direktdemokratische Kultur charakteristisch ist, unterstützen. Die folgenden Interviews sollen einen konstruktiven Beitrag für die anstehende Auseinandersetzung leisten.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Die Redaktion

«Der Bundesrat verliess mit politischer Billigung des Parlaments die geltende Rechts- und Verfassungsordnung»

«Die Bundesversammlung muss ihre Kompetenzen wahrnehmen und kann sich nicht einfach fluchtartig zurückziehen»

Interview mit Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h. c. Andreas Kley*

Prof. Dr. iur. h. c. Andreas Kley (Bild zvg)
Prof. Dr. iur. h. c. Andreas Kley (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Der Bundesrat hat am 13. März, gestützt auf das «Notrecht», den Lockdown verfügt. Inwiefern war das verfassungskonform?

Professor Dr. Andreas Kley Der Art. 7 des Epidemiengesetzes erlaubt alle epidemieverhindernden Massnahmen, die nötig sind: 

«Art. 7 Ausserordentliche Lage

Wenn es eine ausserordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen.»

Der Lockdown hat sich darauf abgestützt und war insofern gesetzes- und verfassungskonform.

Der Bundesrat hatte aber noch viele weitere Massnahmen getroffen: Worauf stützten sich diese ab?

Die zahlreichen weiteren Massnahmen wie die Abfederung der Lockdown-Massnahmen, die Verschiebung der Volksabstimmung inklusive den Fristenstillstand bei den politischen Rechten, die Regelungen der gymnasialen Prüfungen, der Fristenstillstand im Gerichtswesen etc. stützten sich auf andere Rechtsgrundlagen, weil sie keinen direkten Zusammenhang mit dem Corona-Virus haben. Es sind dies die Vollzugskompetenz des Bundesrates und die im Publikum als «Notrecht» bezeichnete Kompetenz des Art. 185 Abs. 3 Bundesverfassung. 

Was verbirgt sich dahinter?

Juristisch gesehen ist es keine Notrechtskompetenz, sondern ein von der Verfassung vorgesehenes Instrument, um innerhalb von Verfassung und Gesetz bei dringenden Fällen und zum Schutz der Polizeigüter (Ruhe, Ordnung, Gesundheit usw.) gesetzliche Lücken zu stopfen. Der Bundesrat kann an Stelle der Bundesversammlung Recht setzen, um dringende Probleme zu lösen. Er darf aber nicht die Verfassung verletzen oder die Bundesgesetze abändern.

Welche Gesetzesänderungen hat der Bundesrat im «Windschatten» des «Notrechts» vorgenommen?

Der Bundesrat hat, gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV, die Verfassung wie auch zahlreiche Bundesgesetze abgeändert. Namentlich in den Sozialversicherungsgesetzen sind die Ansprüche massiv und gesetzwidrig ausgebaut worden. Bei den politischen Rechten wurden die von der Verfassung vorgesehenen Fristen abgeändert und so weiter und so fort. Der Bundesrat handelte mit mutmasslicher politischer Zustimmung der Bundesversammlung, und insofern sind diese Handlungen politisch gedeckt.

Welche Rolle hätte das Parlament in dieser Situation einnehmen müssen?

Das Parlament hätte seine Session nicht abbrechen dürfen bzw. nur auf einen eigenen Beschluss hin, und nicht als Entscheid des Präsidiums. Anschliessend hätte es für das weitere Vorgehen die nötigen Pflöcke einschlagen müssen. Es hätte z. B. gleich schon Kredite beschliessen können und ein dringliches Bundesgesetz erlassen können, das die Verfassung und die Gesetze abändert bzw. eine derartige Ermächtigung dem Bundesrat überträgt. 

Eine andere Möglichkeit hätte darin bestanden, dass die Bundesversammlung wie der deutsche Bundestag oder das englische Unterhaus mit reduzierter Besetzung normal weiterarbeitet und den Bundesrat anleitet. 

In den Medien wurde häufig die heutige Situation mit der Lage während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Ist das zulässig unter dem Aspekt der Verfassungskonformität? 

Dieser Vergleich stimmt nicht: Heute hat der Bundesrat, gestützt auf ein nicht bestehendes angebliches «Notrecht» des Art. 185 BV, verfassungs- und gesetzwidrige Massnahmen getroffen. Es wird also sozusagen mit «fiktivem» Notrecht operiert. In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck, es sei alles rechtens, was hier abläuft. Denn es werden ja Verfassungs- und Gesetzesartikel angeführt, und den Nichtjuristen erklären sich diese Normen nicht einfach von selbst. Alles erscheint rechtlich «abgestützt».

Kann man also sagen, dass hier Dinge ohne rechtliche Grundlage entschieden wurden?

Ja, für diese Handlungen gibt es im geltenden Recht keine Grundlage. Das Parlament hat nichts unternommen und politisch dem Bundesrat zu verstehen gegeben, dass er handeln solle. Rechtlich besteht dafür aber keine Grundlage, die Bundesversammlung muss ihre Kompetenzen wahrnehmen und kann sich nicht einfach fluchtartig zurückziehen. Ein Teil der getroffenen Massnahmen kann sich in unserer Rechtsordnung auf keine Grundlage abstützen. Sie erfolgten rechtswidrig, wobei eben das Parlament das politisch veranlasst hat und damit auch einverstanden war, wie der Applaus im Ständerat am 5. Mai 2020 gezeigt hat. Das «Notrecht» bildet deshalb keine Grundlage, weil es nicht existiert und in der Bundesverfassung nicht vorgesehen ist. 

Wie kann man erklären, dass der «Verfassungsbruch» so schlank über die Bühne ging?

Wie bereits erwähnt: Er ist politisch voll gedeckt, weil die Bundesversammlung überstürzt aus dem Parlamentsgebäude und aus ihrer Verantwortung geflohen ist. Dem Bundesrat hatte sie die Verantwortung gewollt zugewiesen, und er hat die politische (nicht die rechtliche) Verantwortung übernommen und Massnahmen getroffen. Das Parlament hat also sozusagen auf die Ausübung der ihm zustehenden Kompetenz freiwillig, aber bloss informell verzichtet.

Was versteht man in diesem Zusammenhang unter «informell»?

Es ist nicht aufgrund eines Gesetzes geschehen, sondern die beiden Kammern haben dem Bundesrat politisch signalisiert, dass er jetzt entscheiden muss, dass man ihm das Feld überlässt. 

Inwiefern hat sich der Bundesrat mit dem Verfassungsbruch strafbar gemacht?

Die Regierung verliess mit politischer Billigung des Parlaments die geltende Rechts- und Verfassungsordnung. Der Bundesrat wird dafür nicht rechtlich belangt werden, weil er von Gesetzes wegen Immunität geniesst. Die zuständigen Parlamentskommissionen werden diese auf keinen Fall aufheben, die politische wird dadurch zur rechtlichen Deckung erweitert.

Was würde es bedeuten, wenn der Bundesrat dieses selbstbestimmte Notrecht, wie er es vorhat, in ein dringliches Bundesgesetz überführt?

Es würde bedeuten, dass die Verfassungs- und Gesetzesverletzung nachträglich geheilt werden. Rechtlich ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Verfassung gebrochen wurde und viele Gesetze verletzt worden sind. Politisch gesehen wäre so ein Bundesgesetz das Eingeständnis, dass tatsächlich rechtlich falsch gehandelt wurde, und gleichzeitig wird die Situation ab dann rechtlich «geflickt» und ist wieder in Ordnung. Für die Zukunft stellt sich die Frage: Wie werden Bundesversammlung und Bundesrat handeln, wenn die nächste grössere Krise kommt? 

Herr Professor Kley, vielen Dank für das Interview.

Interview Thomas Kaiser

* Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h. c. Andreas Kley hat den Lehrstuhl für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich inne.

«Man kann fast von einer Virokratie reden, welche die Demokratie ersetzt»

«Die Lebenserwartung und die Lebensqualität vieler Menschen wurden stark vermindert»

Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Bruno S. Frey

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Bruno S. Frey (Bild zvg)
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Bruno S. Frey (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Im letzten Interview haben Sie Bedenken darüber geäussert, ob und wie der Bundesrat seine Machtfülle, die er sich während der letzten Monate gegeben hat, zurückgeben wird und wie wir wieder in einen (direkt)demokratischen Ablauf zurückfinden. Wie sehen Sie diese Entwicklung heute?

Professor Dr. Bruno S. Frey Ich stelle fest, dass der Bundesrat die Macht gerne behalten möchte. Das hat auch mit persönlichen Interessen der Bundesrätinnen und Bundesräte zu tun. Endlich einmal stehen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit – und das scheinen sie sichtlich zu geniessen… Unsere Bundespräsidentin und der fachlich zuständige Bundesrat sind praktisch jeden Abend in den Nachrichten des schweizerischen Fernsehens sichtbar, was früher nicht der Fall war. Das ist zwar verständlich und menschlich, aber dennoch aus demokratischer Sicht kritisch zu bewerten.

Inwiefern?

Es ist auffallend, welches Gewicht der Bundesrat sich selbst gegeben hat, insbesondere gegenüber den anderen etablierten Gewalten in unserem Land, dem Parlament, den Gerichten und vor allem gegenüber dem Volk – in unserer direkten Demokratie. 

Inwieweit haben die Massnahmen des Bundesrates die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land tangiert? 

Es wurden grundlegende Verfassungsbestimmungen – u. a. das Versammlungsrecht, das Eigentumsrecht, die Religions- und Gewerbefreiheit – aufgehoben. Dabei hat die Bevölkerung sich entmündigen lassen und keinen Widerstand gezeigt. Erstaunlicherweise scheinen die drakonischen Massnahmen auch jetzt noch grosse Zustimmung zu erhalten.

Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Reaktion des Bundesrates verhältnismässig gewesen ist und inwieweit diese Machtfülle der Regierung über die Verfassung abgesichert ist.

Ich bin kein Jurist, aber Professor Kley von der Universität Zürich hat sich in der NZZ sehr entschieden geäussert: Die Reaktionen des Bundesrates hätten ausserhalb der Verfassung stattgefunden und seien damit nicht verfassungskonform. Als Ökonom habe ich Verständnis dafür, dass der Bundesrat zuerst einmal einen drakonischen Weg einschlägt und schaut, was die anderen Länder wie China gemacht haben. Aber wir sind ein demokratischer Staat, und da hätte ich erwartet, dass der Bundesrat nach dem ersten Schock sehr rasch über Alternativen nachgedacht hätte. 

Wo hätte man etwas ändern müssen?

Die Wirtschaft hätte nicht auf die vom Bundesrat verordnete extreme Weise abgewürgt werden sollen. Die wirtschaftlichen Verluste sind enorm; die Kosten werden sich in der Zukunft deutlich zeigen. Sie beeinträchtigen hauptsächlich die zukünftigen Generationen: Die Zinsen und Rückzahlung der Staatsschulden müssen entweder explizit durch höhere Steuern oder in Form inflationärer Preissteigerungen, d. h. verringertem Konsum, getragen werden. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit haben riesige Ausmasse angenommen, und es wird schon jetzt für Schulabgänger schwierig, Arbeit zu finden.

Die Zahl der Arbeitslosen ist in den letzten zwei Monaten um 30 000 gestiegen…

Ja, es geht jedoch nicht nur um wirtschaftliche Verluste. Indirekt sind wegen der durchgeführten Massnahmen Menschen gestorben, weil manche Operationen verboten wurden und vor allem auch, weil sie sich scheuten, einen Arzt oder das Spital aufzusuchen. Davon wurde ja abgeraten, und sie hatten auch Angst, sich anzustecken. Hinzu kommt die Zunahme von Depressionen und ähnlichen Krankheiten. Die Lebenserwartung und die Lebensqualität vieler Menschen wurden stark vermindert. 

Vergessen wurde auch, dass die kulturellen Aktivitäten lahmgelegt wurden, obwohl gerade sie in einer Krise besonders wichtig sind.

Hätte es Alternativen zur Lahmlegung der Gesellschaft gegeben?

Die Gruppe von Menschen, die am meisten gefährdet ist, also Menschen mit Vorerkrankungen und ältere Personen, hätten am stärksten geschützt werden müssen. Man hätte sie anständig versorgen und insbesondere schützen sollen. Das ist absolut nicht geschehen, sondern es wurde die gesamte Bevölkerung über einen Kamm geschert, was unnötig war.

Haben Sie hier konkrete Beispiele?

Es gab Meldungen aus Altersheimen, dass keine Masken zur Verfügung gestanden haben, nicht einmal für die Pflegekräfte. Auch gab es vielfach keine Desinfektionsmittel. Das ist ein Versagen der Politik und der staatlichen Administration, das nicht weggewischt werden sollte. Es ist also Entscheidendes nicht gut gelaufen.

Ich würde gerne nochmals auf die Rolle des Parlaments zu sprechen kommen. Im Sinne der Gewaltenteilung hat es die Kontrolle über die Regierung. Inwieweit hat das Parlament seine Rolle wahrgenommen? 

Ich bin sehr enttäuscht über das Verhalten unserer Parlamentarier, sowohl der Stände- als auch der Nationalräte. Sie haben ihre Kontrollfunktion, die sie per Verfassung haben, nicht wahrgenommen. Erst nach 6 oder 7 Wochen rührten sie sich etwas und nickten dann brav alles ab, was der Bundesrat verfügt hat. 

Von einem Parlament erwarte ich eine lebendige Auseinandersetzung, bei der Alternativen ernsthaft diskutiert werden. Die Vor- und Nachteile der Massnahmen müssen seriös überprüft und abgewogen werden. Das ist in unserem Land leider nicht geschehen. 

Was hätte das Parlament tun müssen?

Für mich als Schweizer ist es schon etwas befremdlich, dass der Bundestag in Deutschland in dieser Hinsicht sehr viel aktiver war als das Parlament der Schweiz. Dort haben sich schon sehr bald Kommissionen ins Geschehen eingeschaltet, während bei uns lange gar nichts geschah. 

Demokratie lebt vom Diskurs, insbesondere unsere direkte Demokratie. Hier muss die Bevölkerung zwingend mit einbezogen werden. Wie beurteilen Sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung der letzten Wochen? Hätte diese nicht noch viel stärker geführt werden müssen? 

Die wissenschaftliche Diskussion ist meines Erachtens sehr, sehr einseitig geführt worden. Man kann fast von einer Virokratie reden, welche die Demokratie ersetzt. Es wurden immer nur Virologen und Epidemiologen konsultiert. Im Fernsehen wurden sie zu Übermenschen stilisiert, während die sozialen, ökonomischen und kulturellen Auswirkungen nicht diskutiert wurden. 

Mich hat auch überrascht, dass sich die Kirchen nicht rührten, obwohl sie gerne und immer betonen, wie wichtig ein lebendiger Gottesdienst unter den Gläubigen ist.

Gab es hier auch keinen Widerstand?

Die Kirchen haben sich nicht gewehrt, als Gottesdienste verboten wurden. Das Ganze ist ziemlich peinlich. In Deutschland wurde das gleiche Verbot ausgesprochen. Eine kleine islamische Gruppe ist jedoch vor Gericht gegangen und hat sich dagegen gewehrt, mit dem Argument, dass Gottesdienst etwas ganz Wichtiges ist, und sie haben Recht bekommen. Man hätte doch erwarten können, dass unsere Kirchen sich ebenfalls gewehrt hätten. Gerade in einer so schwierigen Situation sind Gottesdienste wichtig. Es lässt sich ohne weiteres dafür sorgen, dass man sich nicht anstecken kann und die Regeln einhält. Unter diesen Bedingungen hätte ein Gottesdienstbesuch möglich sein sollen. Dass die Kirchen das vom Bundesrat erlassene Verbot ohne jeglichen Widerstand akzeptierten, ist schwerwiegend. In Zukunft muss ernsthaft diskutiert werden, ob der Bundesrat so ein Verbot – und damit auch eine eklatante Verletzung der Religionsfreiheit – beschliessen kann. 

Herr Professor Frey, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal?

von Dr. phil. Carl Bossard*

Homeoffice heisst die neue Betriebsform, auch in den Schulen. Unterricht erhält einen digitalen Schub. Die Euphorie ist gross; vergessen geht, dass Bildung auch Beziehungsgeschehen ist. Zeit für eine pädagogische Reflexion.

Die Non-Stopp-Gesellschaft ist unerwartet ins Stottern und Stocken gekommen, in vielem gar zum Stillstand. Auch der Präsenzunterricht stand still. Angesagt waren sogenannte «Corona-Ferien». Die  rund 1,3 Millionen Schulkinder in der ganzen Schweiz sollten aber weiterhin für die Schule lernen, oder sogar fast wie in der Schule, ohne aber in die Schulstube zu kommen. Sie arbeiteten zu Hause, betreut und begleitet von ihren Lehrerinnen und Lehrern – über digitale Kanäle mit Informationstexten, Arbeitsaufgaben oder Push-Nachrichten, über ganze Websites oder Apps, beim Videocall, mal über postalisch versandte Unterlagen, mal per gutes altes Telefon oder gar mit Einzelgesprächen im Schulhaus.

Lernen erfordert positive Beziehungen 

Der flächendeckende Fernunterricht ist ein unerforschtes Gelände. Erfahrungen gibt es wenig. Entsprechend unterschiedlich funktionierte er – vielerorts optimal, da mal besser, dort mal weniger gut, hier und da vielleicht gar nicht. «Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer», titelte darum die Sonntagszeitung in grossen Lettern.¹ Nicht ohne Unterton.

Damit hätte man längst ernstmachen sollen, lauten nun die Vorwürfe an die Schule. Die digitale Entwicklung sei schlicht verschlafen worden, heisst es; das räche sich jetzt. Schrill schallt darum das Schlagwort nach intensivierter, ja radikaler Digitalisierung des Unterrichts durchs Land. Doch diesem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule ist eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Es gibt einen triftigen Grund, warum die Kinder nicht längst mit irgendeiner Lernsoftware alleine gelassen werden: Weil wir, verkürzt gesagt, Menschen sind,² weil Lernen positive Beziehungen erfordert. Schule und Unterricht sind in vielem ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen.³ Bildung entfaltet sich «in dichten Interaktionsprozessen (mit Menschen und Dingen)»,⁴ analysiert der Soziologe Hartmut Rosa.

Der Mensch ist kein Robinson Crusoe

Es zählt darum zu den anthropologischen Grundkonstanten, dass der Mensch ein Gegenüber braucht, um sich selbst zu erkennen. Martin Buber, Pädagoge und Religionsphilosoph, hat diese Einsicht zu einer Kernaussage verdichtet: «Der Mensch wird am Du zum Ich.»⁵ Darum darf dieses Gegenüber nicht fehlen; auch das beste Digitalprogramm kann das menschliche Vis-à-Vis nicht ersetzen. Das zeigte sich auch in den Corona-Tagen mit dem Fernunterricht. Unzählige Kinder vermissten das Zusammensein mit den Klassenkameraden und ihrer Lehrperson; umgekehrt suchten viele Pädagogen den direkten und persönlichen Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern. 

Der Mensch ist eben keine Kaspar-Hauser-Figur, und nur ganz wenige taugen zum modernen Robinson Crusoe. Auf sich allein gestellt, verlieren sie sich in einer Welt ohne Halt und Orientierung. Menschen brauchen ein Du, um sich entwickeln zu können.   

Wesentliches liegt im Zwischenmenschlichen

Viele Forschungen zeigen es, viele Expertisen bestätigen es: Von frühester Kindheit an gibt es zwei Bedürfnisse in uns Menschen; die beiden Grundanliegen ergänzen sich gegenseitig: Einerseits wollen wir uns sicher und geborgen fühlen, anderseits wollen wir Neues entdecken und erfahren. Für dieses Gefühl des Geborgenseins wie fürs Entdecken von Neuem aber braucht es Mitmenschen, denen wir vertrauen, die uns positiv verstärken und uns auch korrigieren. Das erleichtert und verstärkt das Lernen. 

Diese resonanten Zuwendungen sind elementar – gerade bei jüngeren Kindern. Lehrkräfte müssen an die Heranwachsenden glauben, ihnen Beachtung schenken, sie ermutigen, sie anerkennen und ihnen vertrauen. Auch fördernde und korrektive Feedbacks spielen eine entscheidende Rolle; wer lernt, muss wissen, was oder wie man etwas besser machen könnte. Das alles sind Beziehungselemente. Sie liegen im Zwischenmenschlichen, im «Dazwischen», im Divergenten. Physische Präsenz und vitales Interesse am Kind intensivieren diese zwischenmenschlichen Prozesse. 

Lernen ist kein Start-Ziel-Lauf

Die Digitalisierung aber geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer und konvergenter Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen gesteuert. Das Divergente kommt kaum vor. Darum bringen Kinder wenig Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses «Dazwischen», das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt, betont der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer.⁶ 

Im Unterricht muss darum eine Lehrperson spürbar sein und vital präsent. Sie ist mehr als ein «guide at the side».⁷ Sie muss da sein fürs Feedback, für einen humorvollen Witz, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernstgenommen fühlen. 

Der persönliche Kontakt ist unentbehrlich

Was bedeutete das für die Corona-Situation? Für die Notlage mit dem Fernunterricht, als die Kinder allein zu Hause lernen mussten? Es zeigte sich, wie wichtig der direkte menschliche Kontakt ist – und was mit der Präsenz der Lehrerinnen und Lehrer beim gemeinsamen Lernen im Klassenzimmer plötzlich fehlte. Viele Eltern versuchten das auszugleichen. Das gelang nicht überall. Nicht alle Kinder haben die gleichen Chancen eines lernfreundlichen Elternhauses. 

Die neue Sehnsucht nach dem menschlichen Vis-à-Vis

Die Notlage zeigte noch etwas: Pädagogik vor Technik müsste selbstverständlich sein. Das vergessen viele unkritische Digitalisierer und Promotoren einer virtuellen Lernwelt. Der Einsatz digitaler Medien ist für die Schülerinnen und Schüler meist unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein engagiertes persönliches Gegenüber. Lernen braucht positive Beziehungen. Darum sind digitale Medien – vor allem in der Primarschule – ein Zusatz des Unterrichts von Person zu Person, betont der Psychologe und Psychotherapeut Allan Guggenbühl. Denn die menschliche Evolution ist nicht gleichzusetzen mit der technischen Revolution. Auch im Digitalzeitalter wird der Mensch am Menschen zum Menschen. Das zeigte sich in der Sehnsucht vieler Kinder und Jugendlicher nach ihrem pädagogischen Gegenüber.

In der Zwischenzeit kehrten die Volksschulkinder und ihre Lehrerinnen und Lehrer wieder in den Resonanzraum des Schulzimmers zurück. Das ist aus vielerlei Gründen begrüssenswert. 

¹ Nadja Pastega, Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer, in: Sonntagszeitung, 12.04.2020, S. 8.
² Fridtjof Küchemann, Warum es so schwierig ist, ohne Lehrer zu lernen, in: FAZ, 20.03.2020.
³ Jens Beljan (2019), Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung: Weinheim: Juventus Verlag, S. 375.
⁴ Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, S. 403.
⁵ Vgl. Martin Buber (1997), Ich und Du. 13. Aufl. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider.
⁶ Joachim Bauer (2019), Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing Verlag, S. 205.
⁷ Ewald Terhart (2018), Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.

* Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasial­lehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter www.carlbossard.ch.

 

 

Eine Mitgliedschaft der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat ist obsolet

«Die Besonderheit der Schweiz liegt in ihrer Neutralität»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)
Professor Dr. Alfred de Zayas (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Die Schweiz will sich um einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat bewerben. Lässt sich das mit der Neutralität des Landes vereinbaren?

Professor Dr. Alfred de Zayas Als ich in den Jahren 1996 bis 2006 Co-Präsident der Association Suisses et Internationaux de Genève (ASIG, Begegnungen zwischen Genfern und Internationalen Beamten) war, habe ich mit der Co-Präsidentin für die Schweizer, Jacqueline Berenstein-Wavre, gemeinsam Veranstaltungen für den Uno-Beitritt der Schweiz organisiert. Wir waren damals der Meinung, dass die Stimme der Schweiz als neutrales Land äusserst wichtig sei. Wir glaubten, dass die Schweiz als neutrales Land innerhalb der Uno mehr Möglichkeiten der Mediation hätte, als wenn der Staat ausserhalb der Uno ­stünde. 

Gilt das auch für den Uno-Sicherheitsrat?

Durch die Politisierung des Sicherheitsrats ist die Aufrechterhaltung der Neutralität kaum möglich. Man muss sich als Schweiz genau überlegen, ob eine Mitgliedschaft und damit der Verlust an Glaubwürdigkeit für das Land in Frage kommt. Sollte die Schweiz tatsächlich einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat erhalten, wäre das Departement für auswärtige Angelegenheiten sehr gefordert und müsste peinlichst darauf achten, dass die Neutralität nicht kompromittiert wird. 

Ist das überhaupt möglich?

Letztlich nur, indem man sich immer der Stimme enthält, wenn bestimmte Fragen aufkommen. Auf der einen Seite steht die Nato, auf der anderen Seite stehen Russland oder China. Hier muss sich die Schweiz, wenn sie ihre Neutralität bewahren will, der Stimme enthalten. Aber dann ist eine Mitgliedschaft obsolet. Es bringt nichts, ausser vielleicht einem kurzfristigen Prestigegewinn, aber bei einem grossen Teil der Staaten einen erheblichen Verlust an Glaubwürdigkeit. Auch muss man in dem Fall bereit sein, sich nicht unter Druck setzen zu lassen und sich konsequent neutral zu verhalten.

Denken Sie, die Schweiz wäre, wenn man ihr Verhalten in den letzten Jahren beobachtet, dazu in der Lage?

Hier hege ich grösste Skepsis. Die Schweiz müsste sich, was viel effizienter wäre, verstärkt in den Menschenrechtsfragen engagieren und in den Gremien, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, viel aktiver sein. Das würde viel mehr bringen, als im Sicherheitsrat zu sitzen, in dem sich vor allem eine politische Auseinandersetzung zwischen den USA, China und Russland abspielt. Ich habe grösste Bedenken und kann dieses Ansinnen der Schweiz aufgrund meiner Erfahrungen an der Uno und der Befürwortung der Schweizer Neutralität in keiner Weise unterstützen. Unter diesen Umständen geht es nur um Prestige, und das ist ein völlig falsches Motiv. 

Damit die Schweiz als Mediator tätig sein kann, braucht es doch konsequente Neutralität?

Wenn sich die Schweiz deutlich mit der Position der Nato oder der EU identifiziert, bedeutet das für die Asiaten, die Afrikaner oder auch für die Russen, dass die Schweiz nicht mehr neutral ist. Und damit kann sie ihre besondere Rolle als neutraler Kleinstaat nicht mehr wahrnehmen.

Die Neutralität hat in den letzten zwei Jahrzehnten Risse bekommen, die unbedingt beseitigt gehören, z. B. ist die Schweiz Mitglied in der Nato-Unterorganisation PfP (Partnerschaft für den Frieden) und der vor einigen Jahren ins Leben gerufenen «Interoperabilitätsplattform der Nato», die eine klare Ausrichtung gegen Russland hat.

Als frischgebackener Schweizer Bürger und langjähriger Uno-Mandatsträger möchte ich hier gerne meine Meinung sagen. Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Schweiz zur echten Neutralität zurückkehrt und sich von diesen mit der Neutralität nicht kompatiblen Vereinbarungen löst. Das muss die Schweiz tun, um klar zu signalisieren, dass sie unabhängig ist und ihre eigene neutrale Position behält.

In politischen Kreisen hört man immer wieder das Argument, dass die Nato für kollektive Sicherheit stehe und es daher sinnvoll sei, eine Verbindung zu ihr zu haben. Ist das ein schlüssiges Argument?

Nachdem Nato-Staaten, nicht nur die USA und Grossbritannien, sondern auch andere Staaten, sich in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verstrickt haben, so in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak oder auch in Libyen, sollte sich die Schweiz hüten, irgendetwas mit der Nato zu tun zu haben. Die Besonderheit der Schweiz, ihr sogenannter Mehrwert, liegt in der Neutralität – daraus resultieren ihre Guten Dienste –, um als Mediator wirken zu können. In dem Moment, in dem sich die Schweiz auf die Seite der Nato stellt, hat sie ihre Glaubwürdigkeit eingebüsst. 

Sie sehen also die Neutralität als ein unbedingt zu erhaltendes Gut an?

Absolut, das zeichnet die Schweiz vor allen anderen Staaten aus und kann in der internationalen Gemeinschaft ein Segen sein, wenn ein neutraler Staat Konfliktparteien an einen Tisch bringen und zur friedlichen Beilegung eines Konflikts beitragen kann. Durch eine Mitgliedschaft im Uno-Sicherheitsrat wird diese Möglichkeit zumindest geschwächt. Auch das, was ich neulich auf meiner Fahrt zu meinem Chalet im Oberwallis zum wiederholten Male gesehen habe, scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen der Neutralität zu sein. 

Was haben Sie gesehen?

Zunächst war es ein Angriff auf meine Augen. Als ich auf der Kantonsstrasse, die von Sierre nach Leuk führt, diese monströse Anlage oberhalb des schönen Städtchens Leuk wahrnahm, fragte ich mich, warum sollte ein neutrales Land militärische oder nachrichtendienstliche Anlagen von aggressiven Staaten auf seinem Staatsgebiet dulden? 

«Die monströse Anlage oberhalb des schönen Städtchens Leuk» (Bild Andreas Kaiser)

«Die monströse Anlage oberhalb des schönen Städtchens Leuk» (Bild Andreas Kaiser)

 

 

Wissen Sie etwas Näheres darüber?

Ich gehe davon aus, dass eine militärische Bedeutung dahintersteckt, denn es ist absolut unmöglich, etwas Genaueres über diese geheimnisumwobene Anlage zu erfahren. Wenn das so ist, dann ist es inkompatibel mit der Neutralität, und es birgt eine zusätzliche Gefahr, mit der heutigen Technologie einer Drohne diese Einrichtung zu attackieren. Wenn ein Gegner der Nato diese Radaranlage ausschalten muss, dann werden das die Bürger von Leuk zu bezahlen haben. Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, hier politisch etwas zu unternehmen. 

Das wäre ein Beispiel, wo der neutrale Staat dazu Stellung nehmen muss, um seine neutrale Position zu verteidigen.

Ja, wenn sich die USA anmassen, ihre Gesetze in der Schweiz anzuwenden und die Geschäfte von schweizerischen Banken und Konzernen mit Sanktionen zu belegen, wäre es an der Zeit, dass die Schweiz jegliche Kooperation mit den USA als Retorsionsmassnahme kündigt. Und die Retorsion ist legal. Was die USA tun, das ist illegal. Als Schweizer Bürger lehne ich es ab, dass die Schweiz ihre Neutralität durch dubiose Vereinbarungen mit der Nato opfert.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Mitgliedsstaaten des Uno-Sicherheitsrats verurteilten den bewaffneten Überfall auf Venezuela

von Thomas Kaiser

Es passt in die Politik der USA und insbesondere in die des amtierenden Präsidenten Donald Trump. Anfang Mai meldeten verschiedene Medien einen Infiltrationsversuch auf venezolanischem Boden. Eine handvoll Söldner US-amerikanischer und venezolanischer Provenienz starteten einen bewaffneten Überfall auf das Land. Dieser war jedoch von der venezolanischen Armee vereitelt worden, bevor die Aktion richtig begann. 

Erinnerungen an die «Operation Schweinebucht» im Jahre 1961 werden unweigerlich geweckt. Damals versuchten 1500 Exilkubaner, unterstützt von der CIA, eine Invasion auf Kuba, um Fidel Castro zu stürzen, die aber kläglich scheiterte. Solche Ausmasse hat dieser zum Glück «stümperhaft» ausgeführte Überfall auf Venezuela nicht angenommen. 

Die USA, besonders in der Person Donald Trumps, drohen seit über einem Jahr Venezuela, das unter den bereits verhängten Sanktionen enorm leidet, mit einer militärischen Intervention, um die demokratisch gewählte Regierung Maduros aus dem Amt zu jagen. US-Aussenminister Mike Pompeo hat bei verschiedener Gelegenheit damit gedroht. Bisher hat die Regierung in Caracas sämtliche Putschversuche abgewehrt und befindet sich nach wie vor im Amt, nicht zuletzt, weil eine Mehrheit der Bevölkerung trotz der extrem schwierigen wirtschaftlichen Lage hinter der Bolivarischen Revolution und somit auch hinter Maduro steht. 

Ehemalige «Green Berets» an Überfall auf Venezuela beteiligt

Der erneute Destablisierungsversuch Anfang Mai scheiterte ebenfalls. Jedoch förderte er interessante Verbindungen zu Tage. Laut der «Neuen Zürcher Zeitung»¹ hat Jordan Goudreau, «ein früheres Mitglied der ‹Green Berets›, der Spezialkräfte der amerikanischen Armee» zusammen mit «Javier Nieto Quintero, einem früheren Offizier der venezolanischen Nationalgarde», auf einem Video erklärt, «dass an den Grenzen von Venezuela ein kühner amphibischer Angriff im Gange sei.» Diese Aussagen wiederholte Goudreau auch in der «Washington Post». Zwei der Angreifer seien laut seinen Angaben gefasst worden, beides US-Amerikaner und ehemalige Mitglieder der «Green Berets».

Die «Green Berets» sind eine Spezialeinheit, die sich unter anderem in den 80er Jahren durch «besondere Effizienz» im Kampf gegen die linke Opposition in El Salvador einen berüchtigten Namen gemacht hat.  Goudreau besitzt in Florida eine Firma für «strategische Sicherheitsdienste», namens Silvercorp. Die französischsprachige Zeitung «Le Courrier»² berichtet, dass Goudreau und seine Sicherheitsfirma 2018 den Schutz des Präsidenten der Vereinigten Staaten garantierten. 

Guaidó bezahlt die Söldner

Auch ist offensichtlich, dass der von den USA bisher auch finanziell unterstützte selbsternannte Interimspräsident, Juan Guaidó, trotz gegenteiliger Behauptung seine Finger im Spiel hatte. Es existiert ein Dokument, das einen Vertrag zwischen der Söldnerfirma Silvercorp und Juan Guaidó dokumentiert. Darin wird deutlich, dass Guaidó die Söldner mit venezolanischen Vermögenswerten finanziert, die die USA im Rahmen ihrer völkerrechtswidrigen Sanktionen beschlagnahmt haben. Der Auftrag darin lautete gemäss einem Bericht in «Amerika 21»³ einen Putsch durchzuführen und Maduro zu beseitigen. 

Zwei US-Amerikaner gefangen genommen

Dass es den venezolanischen Streitkräften gelungen ist, diese völkerrechtswidrige Attacke abzuwehren und noch zwei US-Amerikaner gefangenzunehmen, stärkt die Position der Regierung gegenüber den USA. Diese wollen unbedingt die Freilassung der beiden US-Amerikaner erreichen. Das eröffnet möglicherweise einen Spielraum für Verhandlungen, die dringend notwendig wären, damit Venezuela sich dieser völkerrechtswidrigen Sanktionen entledigen kann. 

Inzwischen hat am 22. Mai der Uno-Sicherheitsrat auf Initiative Russlands getagt. Mehrere Vertreter der Mitgliedsstaaten haben «ihre Ablehnung des bewaffneten Überfalls auf Venezuela und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des südamerikanischen Landes erklärt.»⁴ Ein Resolutionsentwurf zur Achtung der Souveränität Venezuelas, den Russ­land eingebracht hatte, scheiterte am Widerstand der USA.

USA will iranische Tanker blockieren 

Auch wenn der bewaffnete Überfall abgewehrt werden konnte, droht bereits neues Ungemach. Die USA wollen verhindern, dass fünf iranische Tankschiffe, die Benzin nach Venezuela liefern sollen, den Zielhafen erreichen. Mehrere US-Kriegsschiffe operieren vor der Küste Venezuelas und wollen das Löschen der Ladung verhindern. Das ist ein Akt der Willkür. Obwohl Venezuela zu den erdölreichsten Ländern der Welt gehört, ist aufgrund der US-Sanktionen die Produktion des für das Land so wichtigen Rohstoffs auf 10 Prozent gesunken. Der Iran, der ebenfalls unter harten US-Sanktionen leidet, springt hier in die Bresche. Die USA haben gedroht, das verhindern zu wollen. Laut Amerika 21⁵ hat der venezolanische Verteidigungsminister zugesagt, dass eigene Kriegsschiffe die iranischen Tanker eskortieren werden. Um die Situation zu deeskalieren, braucht es dringend Vermittlungsversuche. Wäre die Schweiz gegenüber den beteiligten Konfliktparteien neutral, könnte sie aufgrund ihrer Neutralität hier aktiv werden. Herr Bundesrat Cassis könnte sein «diplomatisches Geschick» in dieser Angelegenheit besser unter Beweis stellen, als flaue Reden zu halten und die Schweiz immer mehr Richtung Nato und die EU zu führen. 

¹ https://www.msn.com/de-ch/nachrichten/other/was-suchen-ehemalige-amerikanische-spezialkr%C3%A4fte-in-venezuela/ar-BB13JjSo?MSCC=1588845557&ocid=spartandhp
² https://lecourrier.ch/2020/05/07/trump-piege/
³ https://amerika21.de/2020/05/239748/venezuela-soeldner-invasion-guaido-gewalt
https://amerika21.de/2020/05/240064/uno-einmischung-venezuela-iran-tanker
https://amerika21.de/2020/05/240064/uno-einmischung-venezuela-iran-tanker

Eine Reise nach Ägypten

von Verena Graf, Völkerrechtsaktivistin, Genf

Fast ein Leben lang habe ich von den Pharaonen und ihrer kolossalen Zivilisation geträumt. Einmal wenigstens musste ich versuchen, mir im Lande selbst einen Eindruck zu verschaffen, wie viel von dieser Vergangenheit noch Spuren hinterlassen hat. Also unternahm ich diese Reise zurück in unserer Weltrechnung.

«Militär und Sicherheitskräfte sind im täglichen Leben überall gegenwärtig» (Bild vg)

«Militär und Sicherheitskräfte sind im täglichen Leben überall gegenwärtig» (Bild vg)

 

Unablässig versuchte ich, bei den Leuten in situ ein Zeichen des Bewusstseins der einstigen Grösse zu finden. Es ist mir nicht wirklich gelungen. Vielleicht noch am ehesten bei den «Tentmakers» (Zeltmacher), obwohl diese Tätigkeit als mittelalterliches Handwerk beschrieben wird. In kleinen Atelier-Shops sind Schneider dabei, aus farbigen Stoffen, die sie mit ihren Füssen fixieren, phantasievolle, prächtige Decken, Tücher, Kissen und Wandbehänge zu nähen, aber auch grosse Zeltgebilde, die laut Tradition im Freien aufgestellt werden, um unter anderem Totenfeiern abzuhalten. Sie werden zahlreich besucht, nicht nur von der Familie und der Verwandtschaft des Verstorbenen, sondern auch von Leuten aus der Nachbarschaft, demQuartier, dem Dorf oder aus der weiteren Umgebung und von angesehenen ranghohen Persönlichkeiten.

Historisches

Ägypten ist ein Land mit einer 7000jährigen Geschichte. Heute ist es vor allem die Epoche der Pharaonen, die Wissenschaftler und Touristen anzieht. Nicht nur die Pyramiden, auch die monumentalen Denkmäler, die unterirdischen Grabstätten mit wertvollem Schmuck und Hausrat, Grabbeigaben, die die Toten ins Jenseits begleiten sollten, beschäftigen und faszinieren nach wie vor die Forscher.

Folgende herausragende Perioden sind die der Umayyaden (661–750), der Abbasiden (750–868, 905–935, 1412), der Fatimiden (969–1171), der Ayyubiden (1171–1250), der Mamluken (1250–1517) und der Ottomanen (1517–1914). Verschiedene Kolonialherrschaften lösten bis 1922 einander ab; von 1922–1953 regierten Faruk I. und Faruk II. ein Königreich; 1953 ermöglichte ein Staatsstreich der Freien Offiziere die Gründung der Republik Ägypten. Einer der bedeutendsten Staatsoberhäupter war Gamal Abdel Nasser (1954–1970), dem Muhammad Anwar as-Sadat nachfolgte. Nach dessen Ermordung 1981 übernahm Muhammad Husni Mubarak (1981–2011) die Herrschaft, die durch die sogenannte Tahrir-Revolution gestürzt wurde. Ein weiterer Militärputsch beendete 2013 die Nachfolgeregierung. Die Reihe der Militärregierungen, mit Ausnahme der von Mohammed Mohammed Mursi Isa Ayyat, der auf Grund der vorherrschenden Muslimbrüderschaft gewählt und deswegen auch abgesetzt, verurteilt und inhaftiert worden war, wurde vom jetzigen Feldmarschall Abdal-Fattah Said Chalil as-Sisi weitergeführt, der heute das Land mit eiserner Hand regiert.

Politisches

Militär und Sicherheitskräfte sind im täglichen Leben überall gegenwärtig. Das astronomische Budget scheint mit der drohenden Terrorismusgefahr – von aussen – gerechtfertigt. Anscheinend glaubt dies die Mehrheit, so auch mein zeitweiliger Begleiter, der mir erklärt, sobald er die Polizei sehe, fühle er sich in Sicherheit.

In günstigster Lage, vor dem grossen Bahnhof Midan Ramsis, befindet sich eine Art Bazar mit zahlreichen Marktständen. Die Regale sind voll beladen mit Artikeln aller Art, meist mit Lebensmitteln, aber auch mit warmen Speisen, sowie Kleidern, Schuhen, Koffern und anderen Gebrauchsgegenständen. Alles wird von den Militärs hergestellt. Verkauf und Gewinn aus diesen Waren dient ausschliesslich einer formellen Parallelwirtschaft.

Aus glaubwürdiger Quelle erfahre ich, dass as-Sisi nicht wirklich regiert, sondern vom Militär zum Regieren benutzt wird. Auf die Frage, ob er geschätzt, toleriert oder verhasst ist, erhalte ich kaum eine Antwort. Wahrscheinlich ist er auf Grund des protzigen Machtapparats eher gefürchtet. So erklärt man mir auch, dass keiner zu mucksen wagt und sich kein Widerstand formiert. Zum Beispiel wunderte es mich, dass nach der Landung auf dem Flughafen Kairo um zwei Uhr nachts diejenigen der  rund fünfzig Passagiere, deren Gepäck verloren gegangen war, trotz Müdigkeit und Erschöpfung wortlos die Verlustanzeigen ausfüllten.

Überwachung und Sicherheit

In Kairo, im Quartier Agouza am Ufer des Nils, bin ich bei einem Freund, der verreist ist,  untergekommen. Gegenüber befindet sich ein Polizeirevier,  dort ist immer Betrieb. Es ist also eine sichere Umgebung. Oft steht ein dunkelblauer grosser Kastenwagen mit winzigen Fenstern davor. Mehrere Männer in Lederjacken beobachten alles, was sich bewegt. Manchmal, besonders nachts, ist die Strasse voll von Menschen, hauptsächlich von Frauen, jungen und alten, die gebannt auf das Tor der Wache starren. Sie hoffen auf die Freilassung ihres Sohnes, Ehemanns oder Enkels.

Das Gebäude, in dem ich wohne, wird von drei «bawabayin» (Pförtnern) bewacht, denen nichts und niemand entwischt. So habe ich erfahren, dass ein Freund meines Gastgebers über mich befragt wurde. Er hat eine plausible Geschichte erfunden: Ich sei die Schwester des Eigentümers. Das hat mir Respekt und Protektion beschert.

Pittoreskes

Ein Besuch in Kairos pittoreskem Souk Chan el-Chalili ist ein unbedingtes «Must« für Touristen. Ahmed, mein Taxichauffeur, überzeugt mich, nicht alleine dorthin zu gehen. Also akzeptiere ich gern seine Begleitung. Ich will einige Einkäufe tätigen, aber das ist nicht so einfach. Ahmed bittet mich, still zu sein und ja kein Interesse für eines der bunten und prächtigen Dinge in den Auslagen zu verraten. Nachdem Ahmed erklärt hat, ich sei die Ehefrau seines Onkels, der in Europa lebt, schaffe ich es, den Preis für ein Mitbringsel zu meiner Zufriedenheit herunterzuhandeln.

Begegnung mit der Militärautorität

In der Nähe von Bab Zuweila I, einem der drei Tore zur Altstadt, bin ich von berauschenden orientalischen Düften angezogen. Ihnen nachgehend, entdecke ich die umfangreichen Auslagen des Abdul Rahman, wo seit 1920 Gewürze, Nüsse, Wurzeln, getrocknete Blüten, Kräuter und dergleichen in reicher Auswahl feilgeboten werden. Ich fotografiere das Innere mit seinem Tausendundeine Nacht-Angebot, zusammen mit der weiblichen Kundschaft sowie das Äussere dieses ehrwürdigen Kaufladens, der bis heute seine Anziehungskraft nicht eingebüsst hat und den modernen Supermärkten und eleganten Boutiquen der westlichen Konsumwelt in nichts nachsteht.

Danach schlendere ich weiter durch die mittelalterlichen Gassen, bis mich ein Gendarm freundlich am Ärmel fasst. Ich bin naiv und glaube, er will mir helfen, die Strasse sicher zu überqueren, was in Kairo ein lebensgefährliches Unternehmen sein kann, da die Autos mit wahnsinniger Geschwindigkeit fahren, ohne sich um die Fussgänger zu kümmern. Doch er führt mich zu einer Person von imposanter Statur, die am Strassenrand steht und von anderen Uniformierten umringt ist, die mich wohlwollend betrachten. Der Grosse sagt: «I am a general!» Ich glaube an einen Witz und reagiere mit einem militärischen Gruss, den er amüsiert quittiert. Dann erlaube ich mir zu bemerken, dass er ja keine Uniform trägt. Daraufhin öffnet er seine Jacke und weist auf die Achselstücke hin, auf denen fünf klobige Sterne thronen. Also ist er wirklich ein General! Trotz seiner dürftigen englischen Sprachkenntnisse entsteht ein interessantes Gespräch, aus dem hervorgeht, dass die ganze Szene den Zweck hatte, herauszufinden, ob ich militärisch relevante oder ähnliche Objekte fotografiert habe.

Überwachungsnetz effektiv

Auf der Fahrt von Assuan nach dem dreihundert Kilometer entfernten Abu Simbel passieren wir unzählige Checkpoints. Der Fahrer muss jeweils erklären, wer im Wagen mitfährt. Er tut dies mit immer demselben Satz, so dass ich diesen auswendig kann. Bei einer der Kontrollen jedoch gibt es eine Änderung. Ich will berichtigen und sagen, ich sei Schweizerin und keine Neuseeländerin. Aber sogleich werde ich beschwichtigt: Das spiele keine Rolle, ich möge mich ruhig verhalten.

Diesseits und Jenseits

In Kairo gibt es drei grosse Friedhöfe, auch «City of the Dead» genannt, wahre Nekropolen. Einige Teile der riesigen Anlage haben sogar Elektrizität und Wasseranschluss. Auf Grund der enormen Wohnungsnot¹ wohnen dort auch Lebendige², deren Gebiete innerhalb der Friedhöfe abgetrennt sind. Man sagt, dass sich die Angehörigen an Feiertagen im Umkreis der Grabkammer zum Picknick versammeln, und so ihre Verstorbenen feiern und ehren.

Friedhof in Kairo, wo Menschen leben (Bild vg)

Friedhof in Kairo, wo Menschen leben (Bild vg)

Ich habe äusserste Schwierigkeiten, den Eingang in den dicken Mauern zu finden, die die Gesamtanlage umgeben. Nur wenige schmale Zwischenräume erlauben einen Einblick. Einige Tore sind mit dicken Ketten und Schlössern verschlossen, so dass sie nur bei Bedarf geöffnet werden können. Innerhalb der Mauern gibt es Gassen und Strassen zwischen den viereckigen, einstöckigen Wohnklötzen und den Grabmälern und Mausoleen. Streunende Hunde, Abfälle, Kehricht und Schutt überall, was sich übrigens kaum von den Wohnquartieren unterscheidet, kurzum: ein Slum. Aus der Ferne sehe ich zwei Frauen mit einem Kind, auf die ich langsam zusteuere. Sie sind erstaunt  und neugierig. Da wir uns kaum verständigen können, hilft eine Mandarine, die ich dem schmutzigen, trotz der frostigen Temperatur nur dürftig bekleideten Kind anbiete. Auf meine Frage, ob sie hier leben und ob ich sie fotografieren darf, verschwindet die jüngere Frau, die Ältere bleibt. Es ist mir erlaubt, in den Vorraum ihres primitiven Häuschens zu treten und durch eine Öffnung, die wohl eine Tür sein soll, einen Blick in das Innere zu werfen: ein schwarzes Loch, alles ist dunkel. Es riecht streng. Auf meine Frage, wo denn ihr Mann sei, sagt sie, er schläft. Die Frau bittet mich verwunderlicherweise nicht um Geld, sondern um einen Bleistift. Ich trete ihr meinen Vierfarben-Kugelschreiber ab. Sie ist hoch erfreut. Als ich meinen Rundgang fortsetzen will, passt das zwei Männern mit drohender Miene gar nicht. Sie machen mir klar, dass ich verschwinden soll und zeigen mir die Richtung. Ich versuche noch weiter zu fotografieren, denn es gibt zwischen den Klotzhäuschen Plätze mit Grabsteinen, architektonisch aufwendigen Gebilden und Säulen. Doch die Männer sind mir auf den Fersen und bedrängen mich. Ich entdecke ein viereckiges Loch, ungefähr drei Meter tief in die Erde gegraben, daneben eine Art Dorfplatz vor einer Moschee und eine Bude. Fünf Männer sitzen davor, zwei sind die Totengräber. Ich geselle mich zu ihnen, werde nach meiner Herkunft gefragt, man offeriert mir Tee, der eigens für mich gebraut wird. Plötzlich ein Aufruhr, einige Autos rasen heran mit gellender Sirene, stoppen direkt vor uns, öffnen den Kofferraum und entnehmen ihm einen Sarg. Männer und Frauen begeben sich an die Stelle, die ich gerade entdeckt habe. Dort wird die weisse Hülle mit dem Verstorbenen langsam hinuntergelassen. Es wird geredet, sicherlich gebetet. Ein jüngerer Mann, wahrscheinlich der Sohn des Verstorbenen, wird von den Anwesenden mit Gesten einer rituellen Waschung berührt, indem sie ihre Hände sanft über seinen Kopf und seinen Körper gleiten lassen.

Religiöses

Die sunnitische Al-Azhar Moschee mit der bekannten Madrassa ist eine überwältigend schöne Stätte des Islam. Sie ist architektonisch aussergewöhnlich und wegen der beiden Minarette, eines mit zwei Spitzen, leicht erkennbar. Wie in allen Moscheen muss man die Schuhe abgeben, die man gegen Bakschisch wiederbekommt, die Haare bedecken und sich sogar in ein Buch einschreiben sowie einen Kommentar verfassen. Ich protestiere und sage, dass ich einen Kommentar erst nach der Besichtigung schreiben kann, was freundlich gestattet wird. Die Moschee wurde 972 von den Fatimiden gegründet als Stätte des Wissens und der Kultur des Islam. Die drei Jahre später gegründete angegliederte Koranschule erfreut sich eines aussergewöhnlichen Rufs in der islamischen Welt. Heute wird dort neben Theologie auch Medizin, Wirtschaft und Technik gelehrt. Unter anderem werden Staatsstipendiaten aus Indonesien und Malaysia ausgebildet.

Die Al-Azhar Moschee in Kairo (Bild vg)

Die Al-Azhar Moschee in Kairo (Bild vg)

Im grossen inneren Haupthof (48 x 34 Meter) gleisst der weisse Marmor, der ständig von den Socken der Besucher kostenlos poliert wird. Dieser Vorraum ist von Kolonnaden begrenzt und öffnet sich auf einen reich mit Glasmalerei und Ornamentik ausgestatteten Gebetssaal (50 x 80 Meter), der wiederum in verschiedene offene Nischen und Gebetsräume unterteilt ist. Es herrscht eine eher lebendige Atmosphäre, nicht nur der vielen Besucher wegen. Geistliche, Gläubige und Studenten bewegen sich ungehindert, lassen sich auf dem mit Teppich bedeckten Boden nieder. Von Zeit zu Zeit verbeugen sich einige, andere sind in alte Bücher und Schriften vertieft, lesen, beten oder unterhalten sich miteinander, zuweilen hört man leises Gelächter. Die Frauen ziehen es vor, sich in Gruppen unter den Kolonnaden aufzuhalten. Einige werden von einem Imam in die Weisheiten des Islam eingeführt. In verschiedenen Lesenischen erklären Geistliche aufmerksamen Zuhörern den Koran. In der Mitte des offenen Vorraums zeugt ein Brunnen aus alter Zeit von der Reinigung vor dem Gebet.  Mein Lonely Planet Reiseführer weist auf den Mahrib hin, den man nicht versäumen soll. Als ich mich bei den netten Rezeptionisten danach erkundige, bietet sich einer von ihnen an, mir die Moschee zu zeigen und im Einzelnen zu erläutern. So erfahre ich, dass es sich um eine in die Wand eingebaute Altarnische handelt, mit prachtvollem Dekor aus Arabesken und geometrischen Kacheln, die in Richtung Mekka weisen. Mein Führer will dann von einem Foto mit mir belohnt werden und bittet einen jungen Mann in besonderer Uniform, uns zu knipsen. Der aber weigert sich. Auf Befragen erfahre ich den Grund: weil ich keinen Rock über meinen Hosen trage. Mir fällt ein, dass ich ihn bei meinem ersten Rundgang schon bemerkt hatte. Er ist der Sittenwächter, der auf die Einhaltung der verschiedenen Gebote achtet. Natürlich tragen alle Frauen in der Moschee den Hidschab, aber nicht unbedingt im täglichen Leben. Ich fand die Frauen dort besonders aufgeschlossen und natürlich, sogar fröhlich. Mehrere bitten mich, mit ihnen zusammen fotografiert zu werden. Auch ein Junge in Begleitung seiner älteren Schwester wünscht sich ein solches Bild.

Über Kairos Dächern (Bild vg)

Über Kairos Dächern (Bild vg)

 

 

Frauensolidarität

Überhaupt habe ich mehrmals spontane Begegnungen mit solidarischen Frauen erlebt, vor allem, wenn ich in Streit mit Taxichauffeuren geriet, die mich übervorteilen wollten. Einmal befreite mich eine Frau aus einer heiklen Situation, bezahlte sogar die unrechtmässige Forderung für mich und besorgte mir ein anderes Taxi, was  sie dann ihrerseits in eine üble Lage gegenüber dem dreisten und aggressiven Chauffeur brachte. Ein andermal wurden vier Frauen, darunter Mutter und Tochter, auf mich aufmerksam, als ich mehr als eine halbe Stunde lang erfolglos versuchte, ein Taxi zu finden. Sie lösten mein Problem und umarmten mich warmherzig zum Abschied.

Die Cheopspyramide von Gizeh (um 2600 v. Chr.) mit der Sphinx (Bild vg)

Die Cheopspyramide von Gizeh (um 2600 v. Chr.) mit der Sphinx (Bild vg)

 

 

Was bleibt?

Die Reise war ausserordentlich interessant und bereichernd, aber auch unglaublich schwierig und mühsam zu meistern. Die atemberaubenden Stätten der Pharaonen in der Realität zu sehen, erfüllte mich mit Staunen, Verwunderung und Ehrfurcht und liess mich die Mühsale und Drangsalien der Überwachung und sonstigen Schwierigkeiten beiseite legen. Eine hoffnungbringende Initiative von jungen Menschen in Oberägypten möchte ich noch erwähnen, nämlich jene, gegründet von Hana und Sameh, Muslimin und Kopte in einem Land, wo beide Religionen unterschiedlich getrennt und oft feindselig existieren. Ihr Ziel ist, dass Kinder und Jugendliche der beiden Glaubensgemeinschaften sich kennenlernen und einander annähern. Zum Beispiel die Jungen beim Fussballspiel und die Mädchen bei künstlerischen Handarbeiten sowie beim Tanz. Auch das gibt es in der Militärdiktatur.

¹ Neueste verfügbare Statistiken schätzen das Wohnungsdefizit auf 3,2 Millionen.
² Die Friedhofbevölkerung wurde schon 2008 auf 200 000 geschätzt ; es gibt keine odnungsgemässe Volkszählung.

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