«Neuste Vorlage des Anti-Terror-Gesetzes ist ein Quantensprung»

«Die aktuelle Gefahrenlage rechtfertigt kein derartig gewaltiges Arsenal an polizeilichen, äussert eingriffsintensiven Massnahmen»

Interview mit Prof. Dr. iur. Markus Schefer

Professor Dr. iur. Markus Schefer (Bild zvg)
Professor Dr. iur. Markus Schefer (Bild zvg)

Am Mittwoch entscheidet der Nationalrat über die Verschärfung des Anti-Terror-Gesetzes, das den nachrichtendienstlichen Behörden Kompetenzen verleiht mit weitreichenden Folgen für die einzelnen Menschen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats hat dem Antrag des Bundesrates zugestimmt und diesen mit einer knappen Mehrheit noch verschärft. Sowohl die Uno als auch der Europarat haben Bedenken gegenüber diesem Gesetz geäussert. Sollte der Nationalrat der Kommission folgen und der Verschärfung zustimmen, kann das Gesetz nur noch durch ein Referendum gestoppt werden, andernfalls tritt es in Kraft. Im folgenden Interview erklärt Markus Schefer, Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, was sich mit diesem Gesetz alles ändert.

Zeitgeschehen im Fokus Welche grundlegenden Veränderungen beinhaltet die neue Vorlage des Anti-Terror-Gesetzes?

Professor Dr. Markus Schefer Die neuste Vorlage enthält viele polizeiliche Massnahmen gegenüber Einzelnen, gestützt auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Das ist in diesem Ausmass ein neues Phänomen. 

Warum?

Bisher war die nachrichtendienstliche Tätigkeit vor allem ausgerichtet auf die Erkennung von Gefahren, die der Politik eine gewisse Richtung oder Informationen zur weiteren Orientierung liefern sollte. Polizeiliche Massnahmen gab es bis jetzt nur in sehr geringem Masse. Vor einigen Jahren hat man eine Bestimmung eingeführt, die erlaubt, dass gewisse Publikationen eingezogen werden dürfen. Mit dem Nachrichtendienstgesetz hat man eingeführt, dass der Nachrichtendienst im Ausland elektronische Infrastruktur stören darf. 

Will man diese Möglichkeiten jetzt ausweiten?

Was man jetzt sieht, das ist ein Quantensprung. Man sieht, dass eine grosse Bandbreite sehr eingriffsintensiver Massnahmen, gestützt auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse, ermöglicht werden soll. Das ist absolut neu und gibt dem Nachrichtendienst eine ganz neue Ausrichtung, die er bisher so nicht hatte.

Gibt es aufgrund der aktuellen Bedrohungslage eine Legitimation, das Gesetz derart zu verschärfen?

Es waren die Erfahrungen im Zusammenhang mit den ISIS-Kämpfern, den Sympathisanten in der Schweiz, die zum Teil nach Syrien ausreisten. Es war eine gewisse Radikalisierung gewisser Bevölkerungsgruppen, die vor einigen Jahren stattgefunden hat. Diese Gefahr besteht bei weitem heute nicht mehr wie zu den Zeiten, als man begann, dieses Gesetz auszuarbeiten. Ich denke, man hat hier aus einer konkreten Gefahrensituation heraus ein gewaltiges Arsenal an repressiven Massnahmen geschaffen, auf einer relativ flüchtigen Grundlage. 

Warum haben die Beratungen über das Gesetz gerade in unserer direkten Demokratie bisher einen so unspektakulären Verlauf nehmen können?

Mit der direkten Demokratie hat das nur am Rande zu tun, denn das Nachrichtendienstgesetz wurde zum Beispiel in einer Referendumsabstimmung deutlich angenommen. Anzumerken bleibt, dass beim Nachrichtendienstgesetz nur in einem kleinen Bereich polizeiliche Massnahmen vorhanden sind, die direkt den Einzelnen treffen. Was mich erstaunt, ist, dass über dieses Thema nur sehr wenig in der Öffentlichkeit gesprochen wird.

 

Was insbesondere in der letzten Zeit vereinzelt diskutiert wurde, war die Möglichkeit von der Präventivhaft.

Der Gesetzesentwurf des Bundesrates sah eine ganze Reihe von polizeilichen Massnahmen vor: Kontaktverbot, Ein- und Ausreiseverbote, Hausarrest, elektronische Überwachung, Mobilfunklokalisierung etc. Das war im bundesrätlichen Entwurf schon alles enthalten. Was jetzt die Rechtskommission des Nationalrats und der Ständerat zusätzlich hineinbringen wollen, ist die Möglichkeit der Präventivhaft. 

Die Vorstellung ist nicht sehr gemütlich, vor allem weil die Kommission das noch verschärft hat.

Man sieht an diesen Beispielen, wie intensiv das den Einzelnen treffen kann. Man kann für ein halbes Jahr Hausarrest bekommen mit der möglichen Verlängerung um ein weiteres halbes Jahr. Auch können elektronische Bewegungen wie Internetsuche oder das Schreiben von E-Mails konstant überwacht werden, oder es wird verboten, einen gewissen Perimeter zu verlassen. Das ist natürlich ausserordentlich einschneidend. Das Hinzufügen von Präventivhaft ist nur ein weiteres, ganz besonders intensives Element. Dass das Parlament Gesetzesentwürfe des Bundesrates abändert, ist nichts Ungewöhnliches. Das ist seine Funktion. Der Prozess ist nicht das Problem, sondern der Inhalt der Vorlage. 

Man kann also sagen, dass mit dem Gesetz in die Grundrechte des Einzelnen eingegriffen werden kann.

Unter gewissen Voraussetzungen darf man schwerwiegend in die Grundrechte eingreifen. Das ist beispielsweise im Strafrecht der Fall, wenn eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird. Der grosse Unterschied besteht aber darin: Nachrichtendienstliche Informationen und ihre Auswertung kommen nicht in einem Prozess zustande, der die gleiche Gewähr für Fairness bietet wie ein Strafprozess. Der nachrichtendienstliche Prozess ist viel weniger genau geregelt. Die Entscheidung, welche Informationen aufgenommen und wie sie bewertet werden, wird letztlich von den Verwaltungsbehörden getroffen und nicht von einem Gericht.

Besteht hier nicht die Gefahr einer gewissen Willkür?

Ich würde nicht von Willkür sprechen. Aber es bestehen in den nachrichtendienstlichen Verfahren, die dazu führen, dass eine solche Massnahme angeordnet wird, keine vergleichbaren Sicherungsmassnahmen wie bei einem Strafverfahren. Ich habe immer wieder mit nachrichtendienstlichen Behörden zu tun, hier im Kanton Basel-Stadt. Ich würde ihnen durchaus zubilligen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten, aber das reicht nicht. 

Was fehlt?

Es braucht verfahrensrechtliche Garantien, wie wir sie im Strafprozess haben. Deshalb gibt es die strafprozessualen Garantien, damit möglichst sichergestellt wird, dass niemand in ungerechtfertigter Weise durch derart scharfe Massnahmen getroffen wird.

Ist hier ein Vergleich mit dem früheren Anlegen von Fichen zulässig?

Die Analogie wäre, dass es damals Nachteile etwa im beruflichen Leben gab. Der Einzelne hat es meist nicht recht gemerkt, vielleicht hat er eine Stelle nicht bekommen. Neu ist heute, dass jemand unter Umständen in Haft gesetzt werden kann. Das ist doch noch eine Stufe intensiver. 

Spielt die Justiz gar keine Rolle? 

Das Gericht wird erst im Nachhinein damit konfrontiert. Dann ist die Massnahme schon am Laufen, und es zeigt sich schon in der heutigen Praxis, dass die Gerichte Anträge auf Zwangsmassnahmen nur selten ablehnen. 

Während der laufenden Session verhandelt der Nationalrat darüber. Was müsste passieren?

Ich denke, es wäre richtig, nicht auf die Vorlage einzutreten. Ich gehe nicht davon aus, dass das passieren wird, weil die Rechtskommission des Nationalrats bereits in einem verschärfenden Sinne Stellung genommen hat. Aber ich denke, die aktuelle Gefahrenlage rechtfertigt kein derartig gewaltiges Arsenal an polizeilichen, äussert eingriffsintensiven Massnahmen.

Herr Professor Schefer, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser

Covid-19 - «Ich vermisse Diskussionen über grundsätzliche Fragen»

«Wir hätten nach den Osterferien die Schulen wieder öffnen können»

Interview mit Professor Dr. med. Pietro Vernazza*

Professor Dr. med. Pietro Vernazza (Bild thk)
Professor Dr. med. Pietro Vernazza (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Findet die wissenschaftliche Diskussion über das neue Corona-Virus in einem ausreichenden Masse statt, damit sinnvolle und angemessene Lösungen im Umgang mit dieser Krankheit entwickelt werden können?

Professor Dr. Pietro Vernazza Wir klinisch tätigen Infektiologen haben sofort ein wöchentliches Forum zum Erfahrungsaustausch eröffnet, wo auch die Behandlungsstrategien laufend optimiert wurden. Mir fehlt jedoch ein Forum, in dem weiterführende wissenschaftliche Fragen aktiv diskutiert werden können. Ich vermisse auch Diskussionen über grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel die Frage über das Schliessen der Schulen oder wie lange jemand ansteckend ist. Das kann nirgends diskutiert werden. 

Wenn Sie dazu Erkenntnisse haben, werden diese nicht berücksichtigt bei den Entscheiden der Politik?

Ich mache ein Beispiel: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sagt, eine infizierte Person muss nach Beginn der Symptome mindestens zehn Tage isoliert bleiben. Wir sehen aber Mitarbeiter, die sind zwei Tage krank. Bei jeder Grippe würden wir diese nach einem Tag wieder arbeiten lassen. Wir suchen die Literatur dazu, tauschen uns mit Kollegen aus. Am Ende müssen wir sagen: Bei diesen milden Verlaufsformen, und das sind die meisten, ist jemand einen Tag nach Symptom­ende nicht mehr relevant ansteckend. Wir tragen die Evidenz zusammen und schicken unsere Beurteilung an das BAG. 

Wie war die Reaktion des BAG darauf?

Das BAG bedankt sich für unsere Bemühungen, aber man bleibt bei der Isolationsdauer von zehn Tagen, weil das im Ausland auch so sei. Schade, ich fände es äusserst interessant, diese Fragen zu diskutieren. Die Isolationsdauer ist keine Bagatelle. Ob Sie einen Menschen drei oder zehn Tage isolieren, macht doch einen grossen Unterschied, für die Person selbst, aber auch für die Gesellschaft. Eine Woche zusätzlicher, unnötiger Arbeitsausfall hat auch einen wirtschaftlichen Einfluss. Das können wir nicht einfach ignorieren. Es stört mich, dass wir diese Fragen nicht seriös angehen. Ich sage nicht, dass unsere Erkenntnisse richtig sind, aber wir sollten solche Fragen diskutieren dürfen.

Warum wird der Diskurs nicht geführt? 

Ich weiss es auch nicht, aber ich habe das Gefühl, es ist wichtiger, dass rasche politische Entscheidungen gewünscht sind, weil dies beruhigend wirkt. Ob die Entscheidungen immer die richtigen sind, scheint weniger wichtig zu sein. Viele Entscheidungen, die getroffen worden sind, richten sich eher nach der Mehrheitsfähigkeit als nach den wissenschaftlichen Grundlagen. 

Was heisst das für die Auseinandersetzung?

Es gibt kein Forum, das auch wissenschaftliche Arbeiten aufarbeiten kann. Es hat von Anfang an der Input von Wissenschaftlern gefehlt. Man hätte von Beginn an einen «runden Tisch» organisieren müssen, an dem man zusammengesessen wäre und die Fragen diskutiert hätte. So ein Format hätte es unbedingt gebraucht. 

Es gibt doch eine Task-Force …

Ja, das ist gut, dass diese wichtige Institution geschaffen wurde. Wenn auch etwas spät. Wie weit jedoch dort diskutiert wird, weiss ich nicht. Was ich lese, sind die Statements einzelner recht kleiner Gruppen dieser Task-Force, die «policy briefings». Da ist kaum etwas von kritischer Auseinandersetzung zu lesen. Und dann ist es auch nicht so, dass die Empfehlungen der Task-Force vom Bund oder BAG immer übernommen werden. 

Die Schulschliessungen, der Lockdown etc. – war die Dauer dieser Massnahmen angemessen?

Ich habe immer gesagt: In der akuten Phase Mitte März war der Lockdown-Entscheid der einzig richtige. Wir wissen von den Erfahrungen mit der Influenza, dass das Schliessen der Schulen  und das Abstandhalten eine Wirkung haben. Aus der Literatur wissen wir auch, je früher man diese Massnahmen einleitet, umso effektiver sind sie. Es war zunächst richtig, schnell zu handeln und nicht gross zu diskutieren. Nachdem der Entscheid gefällt war, hätten wir aber beginnen müssen, die neue wissenschaftliche Evidenz aufzuarbeiten.

Das geschah nicht?

Ich habe nie gesehen, dass irgendetwas diskutiert wurde. Wenn ich etwas geschrieben oder eine Frage gestellt habe, kam keine Reaktion. Dabei ist das Beispiel der Schulen sehr bedeutend. Denn nach dem Lockdown kamen neue Informationen, welche gegen das Schliessen der Schulen sprachen. Wir hätten also nach den Osterferien die Schulen wieder öffnen können. Das hätte viel weniger Unruhe bei Eltern und Lehrern ausgelöst. Man hätte klar kommunizieren können: Übereinstimmende, neue Erkenntnisse – Schüler können wieder zur Schule. Wochen später hat das BAG das dann auch bestätigt, aber die Evidenz war lange vor Ostern bekannt. Vielleicht haben wir auch mit weiteren Lockdown-Massnahmen übertrieben. 

Warum sehen Sie das heute so?

Ich sah das immer so. Die Reproduktionsraten fielen dramatisch ab, bevor wir zum Lockdown griffen. Die ETH hat zwar im nachhinein ihre Zahlen geglättet und das Ganze etwas anders dargestellt, damit es nicht so deutlich aussieht, aber die Daten waren die gleichen. Es gab einen massiven Rückgang der Reproduktionsrate von 2,5 auf etwas über 1. Das heisst nicht, die Lockdown-Massnahmen seien nicht notwendig gewesen. Aber wir haben mit anderen Massnahmen schon vorher sehr viel erreicht. Man hat mir in den Mund gelegt, dass ich gegen die Lockdown-Massnahmen gewesen sei. Das ist völlig falsch.

Hat nur die ETH diese Ergebnisse publiziert?

Diese gleiche Beobachtung hat man auch in Deutschland gemacht. Ebenso in Belgien, in Holland und kürzlich auch in Norwegen. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Es ist ein interessantes Phänomen, das wir diskutieren müssen.

Ich würde gerne nochmals auf die Situation in den Schulen zu sprechen kommen. Nach den Volksschulen wurden am 8. Juni die weiterführenden Schulen wieder geöffnet mit vielen Auflagen, Abstandhalten, regelmässiger Händedesinfektion, Teilen von Klassen etc. Wie ist das aus Ihrer Sicht zu beurteilen?

Das ist auch so ein Thema: Nun müssen Schulen selbst Schutzkonzepte erstellen. Was da rauskommt, ist phantasiereich, aber völlig weltfremd. Dabei wissen wir, dass Kinder einen unwesentlichen Beitrag zur Ausbreitung von Covid-19 leisten. Lasst doch unsere Kinder wieder normal spielen, singen und einen stimulierenden Lernalltag geniessen. Diese Einbahnstrassen und Abstandsregeln in Schulhäusern: Weltfremd!

Ist es richtig, dass Kinder auf das Virus weniger anfällig sind als Erwachsene?

Ja, und es gibt dazu eine neue Hypothese. Es gibt zunehmend Studien, die zeigen, dass die normalen Corona-Viren, also unsere «Pfnüselviren» (Schnupfenviren), eine Immunität gegenüber Covid-19 erzeugen. Es ist möglich, dass unsere Kinder mild oder nicht mit Covid-19 erkranken, weil sie durch diese «normalen» Corona-Viren einen Schutz haben. 

Was heisst das konkret für diesen Fall?

Wenn die Kreuzimmunität der anderen Corona-Viren für die Immunität gegenüber Covid-19 wichtig ist, dann könnten die Kinder einen ganz entscheidenden Beitrag liefern. Das könnte bedeuten, dass die Kinder eher keine Abstandsregeln einhalten sollten, um den schützenden «Pfnüsel» nicht zu verhindern. Ich sage nicht, es ist so, aber es könnte sein, deshalb sollten wir solche Fragen unbedingt aufmerksam studieren und nicht so tun, als wüssten wir schon, wie man die ganze Situation meistert.

Wie ist das mit dem Desinfektionsmittel. Wie viel Effekt hat das denn?

Desinfektionsmittel ist nicht besser als Seife. Jetzt spricht man aber nur noch von Desinfektionsmitteln. Wir haben immer gesagt, das Händewaschen ist das Zentrale. Das BAG hat diesbezüglich mit seiner klaren Botschaft gute Arbeit gemacht. Es ist immer dabei geblieben: Es ist die Seife. Das Virus hat eine Fetthülle, und die wird mit minimaler Seifenaktivität zerstört. Das weiss man eigentlich schon lange, das gilt für alle behüllten Viren. Dieser Reflex, jetzt überall Desinfektionsmittel zu nehmen, ist unverständlich.

Aus Ihren Ausführungen wird klar, dass das Händewaschen sehr wichtig ist. Nicht das Desinfizieren von ganzen Strassenzügen oder was auch immer.

Ja, wir führen Viren aus der Umgebung mit unseren Händen in Mund, Nase und Augenschleimhaut. Da kann das häufige Händewaschen Übertragungen verhindern. Wenn ich sehe, wie häufig die Menschen ein Sandwich essen, ohne die Hände zu waschen, wäre hier eine Verhaltensänderung angezeigt. 

Ist jemand, der das Virus in sich trägt, aber keine Symptome hat, ansteckend?

Wir gehen davon aus, dass die Person ansteckend ist. Man kann ohne Symptome Viren im Körper haben. Dabei spielt die Konzentration eine Rolle, die nicht überall gleich ist. Es ist wahrscheinlich so, dass Personen mit Symptomen mehr Viren ausscheiden. Man muss sich fragen, warum hat ein Infizierter keine Symptome. Möglicherweise sind das Personen, die über eine gewisse Immunität, eine Kreuzimmunität, verfügen und deswegen auch das Virus in einer kleineren Konzentration vorliegt. Letztlich ist nicht alles schwarz oder weiss, sondern man ist mehr oder weniger infektiös. Sicher ist, dass man ohne Symptome ansteckend sein kann.

Eine weitere Massnahme, die angewendet wird, ist das Fiebermessen.

Fieber ist kein Frühsymptom, daher bringt das kaum etwas. Dennoch wird dies jetzt auf Flughäfen als Routine eingeführt. Ich bin als Grenzchefarzt für Altenrhein zuständig. Auch da haben uns die Behörden bestätigt, dass Fiebermessen natürlich nichts nütze, es sei eine rein psychologische Massnahme. Teure Psychologie, würde ich sagen.

Wie kann sich der Mensch sinnvoll schützen?

Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens müssen wir alle noch führen. Das Problem mit unseren aktuellen Empfehlungen ist, dass wir eine Null-Risiko Strategie anstreben. Wir denken uns immer wieder neue Massnahmen aus, welche noch ein bisschen sicherer sein könnten. Und am Ende vergessen wir, dass wir vielleicht auch noch ein Leben führen möchten. Wir sollten eine vernünftige Balance finden zwischen Schutzmassnahmen und dem natürlichen Leben. Wenn ich nun nicht mehr bei jeder Begegnung meinem Gegenüber die Hand zum Gruss schüttle, ist das kaum ein Problem. Aber dass Enkel ihre Grosseltern nicht mehr sehen können, das müssen die Grosseltern doch selbst für sich entscheiden können. Ich stelle fest, es werden viele, meist unnötige Massnahmen ergriffen. Aber kaum jemand ist sich bewusst, dass diese Massnahmen – wenn sie sinnvoll sind –nun mindestens zwei Jahre umgesetzt werden müssen. Erst eine Impfung kann da etwas ändern. Vielleicht sollten wir uns schon etwas mehr Gedanken zum Nutzen einzelner Massnahmen machen und nicht einfach jede Idee umsetzen. Auch sollten wir uns Gedanken zu den Kosten unserer Massnahmen machen.

Wie wird das in der Task-Force gesehen?

Im Moment wird die Strategie verfolgt, dass wir jede Infektion verhindern müssen. Wenn wir einen Fall haben, müssen wir alle Kontakte in Quarantäne setzen, um jegliche Ausbreitung zu verhindern. Ich bin sehr skeptisch, ob das so funktioniert, ausser wir ergreifen rigorose Massnahmen. Wir machen pro Tag 6000 Tests. Diese sollen nun auf 30 000 pro Tag erhöht werden. Alleine diese Kosten werden pro Jahr eine Milliarde übersteigen. Das sei billiger als der Lockdown, sagte mir ein Vertreter der Task-Force. Hier stellt sich doch die Frage, woran wir diese Kosten messen. An den Milliarden, die wir schon sehr grosszügig ausgegeben und unseren Kindern an Schulden überlassen? Oder könnten wir darüber diskutieren, wie viel wir für ein gewonnenes Lebensjahr zu zahlen bereit sind? Dazu werden wir in der Medizin seit Jahren angehalten. Bisher gilt eine Krebstherapie, die mehr als 150 000 Franken pro gewonnenes Lebensjahr kostet, als sehr kritisch. Doch bei Covid-19 geben wir weit mehr als das Zehnfache dafür aus. Da verstehe ich einfach nicht, weshalb ich mich jetzt in den letzten 30 Jahren so sehr für eine vernünftige, kosteneffiziente Medizin eingesetzt habe.

Auch könnte es dann sein, dass wir plötzlich realisieren, dass die Hälfte der Bevölkerung bereits eine gewisse Immunität aufweist. Dabei meine ich nicht nur die Immunität gegenüber Covid-19, sondern auch die Kreuzimmunität. Auch gibt es Hinweise, dass gewisse Impfungen, z. B. gegen Zecken­encephalitis, einen Schutz gegen Covid-19 bieten. Dann könnte es sein, dass viel weniger auf uns zukommt, wo andere schon von der zweite Welle sprechen. 

Ist das Contact-Tracing etwas Sinnvolles? Sehen Sie kein Problem in bezug auf den Datenschutz?

Das Datenschutzproblem ist völlig überbewertet und politisiert. Heute lassen sich die Menschen mit all den anderen Apps auf ihren Smartphones völlig selbstverständlich überwachen. Kein Problem. Was mein Problem ist: Ich habe keine klare Vorstellung, wie denn die App funktionieren soll. Ich bekomme einen Hinweis: Eine infizierte Person war im kritischen Zeitfenster 15 Minuten näher als zwei Meter neben mir. Ob die Person, ohne zu sprechen, im Bus stand oder ich mit ihr gesungen habe, keine Ahnung. Ich werde unabhängig davon zehn Tage nicht zur Arbeit gehen. Wer kommt denn für diese Kosten auf? Diese Kosten werden die Kosten der massiven Testaktivität noch übersteigen. Und niemand hat je gefragt, ob man die Wirksamkeit der durch die App veranlassten Quarantäne prüfen kann. Meines Wissens werden die dazu notwendigen Daten gar nicht erfasst. Einmal mehr: Ein teurer Blindflug ist angesagt – ohne Diskussion zu Kosten und Nutzen der Massnahme.

Man hat von Anfang an ein Schreckensszenario der Pandemie heraufbeschworen. Ist Covid-19 bedrohlicher als eine Grippe?

Man kann nur verlieren, wenn man beginnt, die Zahlen zu vergleichen. Auf der einen Seite haben wir es bei der Grippe mit einer Krankheit zu tun, die jährlich 5-10 Prozent der Bevölkerung befällt. An Covid-19 könnten 30 oder 50 Prozent der Bevölkerung erkranken. Diese Häufung von Erkrankungen in kurzer Zeit ist das Problem. Aber beide Erkrankungen betreffen vorwiegend ältere Menschen. Und eines ist sicher: In den letzten 20 Jahren sind mehr Menschen an Grippe gestorben, als jetzt an dieser «Jahrhundert»-Pandemie sterben werden. Weshalb haben wir bisher nie etwas gegen diese Grippetoten gemacht?

Könnte eine Impfung die älteren Menschen besser schützen?

Das Problem bei der Impfung ist, dass die Population, die von Covid-19 besonders betroffen ist, also die über 80-Jährigen, durch die Impfung kaum geschützt werden. Es wird genau dasselbe sein wie bei der Grippe. Es sterben diejenigen im hohen Alter, die auf die Grippeimpfung nicht ansprechen. Deswegen hilft das Impfen alter Menschen wenig. Dem BAG ist dies bewusst, aber eine Grippe­impfung der Jungen zum Schutz der Alten hat man nie umsetzen können. Ich bin gespannt, ob die Bereitschaft bei Covid-19 dann plötzlich bei den jungen Menschen da ist. Ansonsten werden wir zu den jährlichen Grippe-Toten dann auch noch die Covid-19 Toten sehen. Und spätestens dann werden sich unsere Kinder fragen, weshalb genau sie nun den Schuldenberg abzubauen haben.

Wenn unter den Jungen durch Kreuzinfektionen eine Herdenimmunität entsteht, dann wäre das doch auch erreicht?

Das ist so. Doch eine Herdenimmunität können wir nur erreichen, wenn wir Infektionen zulassen. Es kann auch sein, dass wir mit der Zeit die gleiche Entwicklung bei Covid-19 haben wie bei den anderen Corona-Viren. Diese haben vermutlich auch mit der Zeit ihre Aggressivität verloren. Über die vielen Jahre stellt sich ein Zustand ein, in dem die Bevölkerung teil-immun gegenüber diesen Viren ist und nur mild erkrankt. Auch dann wieder – das ist auch bei den «normalen» Corona-Viren gut untersucht – werden Erkrankungen bei älteren Menschen gehäuft einen tödlichen Verlauf haben. So ist das Leben. 

Herr Professor Vernazza, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, St. Gallen

* Prof. Dr. Pietro Vernazza ist Chefarzt der Infektiologie und seit 1985 beim ­Kantonsspital St. Gallen, Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene tätig.

 

Corona-Krise in Deutschland: «Es gab sehr weitreichende Einschränkungen von Grundrechten»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, Deutschland

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Wie wird in Deutschland, das sich als demokratischer Rechtsstaat versteht, die Debatte über das Virus und die ergriffenen Massnahmen geführt?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Es gab im März und April eine grosse Zustimmung für die Bundesregierung. Die Mehrheit der Menschen fand es richtig, dass mit klaren Massnahmen auf die Situation reagiert wurde. Aber eine Debatte darüber, wie die Corona-Pandemie einzuschätzen ist und welche Massnahmen effektiv sind, ist in einer öffentlichen, demokratischen Form nicht ausgetragen worden. 

Wo hat man denn dann diskutiert?

Ohne Zweifel ist das neue Coronavirus gefährlich. Es gibt jedoch hochrangige Epidemiologen und Virologen, die verschiedene Aspekte der Situation anders einschätzen als die Bundesregierung bzw. ihre Berater: Sie wurden jedoch aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Deren Meinung verbreitet sich deshalb vor allem über die sozialen Netzwerke. Das ist eines der Grundprobleme der Debatte in Deutschland. In der offiziellen Diskussion, in den grossen Medien haben wir eher eine Diffamierung von Leuten, die eine kritische Sicht auf die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatten. Es wird nur ein begrenztes Meinungsspektrum toleriert, und wer sich ausserhalb dieses Spektrums bewegt, wird diffamiert. Natürlich bedeutet das nicht, dass jede noch so absurde Meinung gleich gewichtet werden soll, wie die Aussagen ausgewiesener Experten. Aber es gab und gibt nicht wenige, teils hoch angesehene Wissenschaftler, die zu anderen Schlussfolgerungen gelangt sind. Diese abweichenden Ansichten sind für demokratische Debatten wichtig, selbst wenn sie am Ende verworfen werden.

Gibt es eine plausible Erklärung dafür, warum die Debatte um diese Krankheit so abgelaufen ist? 

Dazu muss man sagen, dass die Bundesregierung relativ spät und unvorbereitet auf die Gefahr von Covid-19 reagiert hat. Sie hat im Januar bzw. Februar das Virus deutlich unterschätzt. Am 23. Januar sprach der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn noch davon, dass der Krankheitsverlauf von Covid-19 milder sei als bei der saisonalen Influenza-Grippe. Natürlich war über das neue Virus noch sehr wenig bekannt. Aber es wurden keine Vorbereitungen getroffen wie zum Beispiel das Anlegen eines Vorrats an Schutzmasken oder Schutzkleidung für die Pflegekräfte. Anfang März befanden wir uns dann in einem richtigen Notstand. Es gab auch keine ausreichenden Pandemie-Pläne. Ab Mitte März ist das Ruder herumgeworfen worden, und es wurde immer drastischer vor den Gefahren gewarnt. Offenbar wurde auch bewusst mit der Angst gespielt, wie ein internes Papier aus dem Innenministerium von Ende März zeigt.

Warum hat man zu diesem Mittel gegriffen?

Möglicherweise aus dem Motiv heraus, die Menschen zu einer Verhaltensänderung zu bringen, damit die Infektionszahlen niedrig bleiben. Das ist häufig nicht mit rationalen Argumenten geschehen. Auch hat man lange Zeit z. B. keine Informationen über die Anzahl der Tests bekommen. 

Warum ist das wichtig?

Um das Risiko einschätzen zu können, muss man wissen, wie viele Menschen getestet wurden und wie viele Testergebnisse positiv sind. Das Verhältnis ist wichtig, um die Zahlen einschätzen zu können. In den ersten Wochen der Pandemie wurden aber immer nur die Zahlen der positiv Getesteten genannt. Zeitgleich zu einer von mir eingereichten Anfrage an die Bundesregierung Ende März begann das zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) dann damit, die Zahlen wöchentlich zu publizieren. Auch gab es eine ganz sonderbare Empfehlung: Die Gestorbenen sollten nicht obduziert werden. Obwohl bei einer neuen Krankheit und mit einer neuen Gefahr die Obduktion ganz elementar ist, um zu verstehen, woran die Menschen gestorben sind und um die Lebenden besser behandeln zu können, hat man davon abgeraten. Das hat mich ziemlich fassungslos gemacht.

Hat dagegen niemand Protest eingelegt? 

Es gab Proteste vom Verband Deutscher Pathologen. In der Folge wurde die Empfehlung dann auch recht schnell zurückgenommen. Das führte zu neuen, ganz wichtigen Erkenntnissen. Eine davon war die hohe Anzahl an Thrombosen, die im Zusammenhang mit Covid-19 entstanden sind. Diese sind mit relativ einfachen Mitteln zu therapieren. Dieser Ablauf hat für mich sehr viele Fragen aufgeworfen. Was das Motiv hinter der Empfehlung war, ist für mich bis heute ungeklärt. Aber es herrscht eine Diskussionskultur, die eine offene Auseinandersetzung über diese Fragen sehr schwer macht.

Ein ähnliches Phänomen beobachten wir auch in der Schweiz. Wer eine kritische Haltung hat, wird schnell als Verschwörungstheoretiker abgetan, aber eine offene interdisziplinäre Diskussion hat es kaum gegeben.

In Deutschland kamen vor allem Virologen zu Wort, aber wesentlich weniger Epidemiologen, Infektiologen oder Kliniker, die auch sehr wichtig sind. Sie sind am nächsten am Menschen und sehen auch, was es für Krankenhäuser und die Betroffenen bedeutet, wenn z. B. andere Operationen verschoben werden müssen. Und natürlich muss man in die Abwägung auch immer die Folgen der Massnahmen einbeziehen. In Deutschland sind über 800 000 Operationen verschoben oder nicht durchgeführt worden. Die Folge ist auch, dass Menschen früher sterben, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden konnten. Man muss ein Gesamtbild entwickeln und die einzelnen Gesichtspunkte gegeneinander abwägen, um die richtige Linie zu bekommen. In Deutschland habe ich einen interdisziplinären Ansatz sehr vermisst.

Was war in der Lockdown-Zeit in Deutschland besonders mangelhaft?

Was ich einfordere, ist ein maximales Bemühen der Bundesregierung, die getroffenen Massnahmen zu evaluieren und zu begründen. Auch wenn die Massnahmen in Deutschland im Vergleich zu manchen anderen Ländern weniger drastisch waren, gab es sehr weitreichende Einschränkungen von Grundrechten. Man kann derartige Eingriffe legitimieren, wenn eine Gefahr entsprechend gross ist. Aber dann braucht es maximale Transparenz und Evaluierung. Es ist immer wieder zu überprüfen, ob das zu rechtfertigen ist, ob es noch verhältnismässig ist. Das fordere ich sehr stark ein.

Wo wäre mehr Transparenz geboten gewesen?

Ein Beispiel ist die Situation mit den Operationen oder auch, dass sehr viel auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wurde. Es gibt aufgrund von Studien aus anderen Ländern sehr deutliche Hinweise darauf, das kleine Kinder kaum ein Übertragungsrisiko auf Erwachsene darstellen und auch untereinander ein geringes Ansteckungsrisiko besteht. Dennoch hat man die Kinderspielplätze für lange Zeit geschlossen, und das zu einer Zeit, als in manchen Bundesländern die Shopping-Malls schon wieder geöffnet hatten. Das Gleiche galt für die Grundschulen und Kindertagesstätten. Andere Länder haben das viel angemessener gelöst. Sie haben eigene Studien durchgeführt und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Beitrag von Kindern zum Infektionsgeschehen nicht diese Massnahmen rechtfertigt. In diesen Ländern waren die Grundschulen nie ganz geschlossen und sind inzwischen schon wieder vollständig geöffnet.

Welche Länder haben sich anderes verhalten?

Das waren in dem Fall unter anderem Dänemark, Finnland und Island. Auch Schweden ist bekanntlich einen anderen Weg gegangen, der aber nochmal gesondert diskutiert werden müsste. Auch findet eine träge Diskussion bezüglich des Risikos für Kinder statt. Natürlich ist das alles nicht so einfach. Das ist für eine Regierung sicher keine leichte Situation, gehört aber zu deren grundlegenden Aufgaben. Mein Eindruck war, dass sich die Regierung hier sehr einseitig hat beraten lassen.

Wie gestaltete sich die Diskussion darüber in Deutschland?

Sie wurde so geführt, dass man den Eindruck gewann, die einzige Hoffnung liege in der Bereitstellung eines Impfstoffs. Im Zuge dessen werden Milliarden in die Entwicklung eines Impfstoffs gepumpt. Das sind alles Steuergelder, mit denen private Akteure subventioniert werden. 

Sehen Sie im Impfstoff eine Möglichkeit? 

Ich bin nicht gegen einen Impfstoff, wenn er sicher und effektiv ist. Natürlich wäre das eine wünschenswerte Lösung des Problems. Impfungen haben bei so manchen Krankheiten enormen Fortschritt gebracht. Aber ich habe meine Zweifel, ob es so schnell gelingt, einen sicheren und effektiven Impfstoff herzustellen. Bislang ist es noch nicht gelungen, Impfstoffe gegen Corona-Viren herzustellen. Auch gegen andere Krankheiten wie HIV/AIDS oder Malaria gibt es trotz Jahrzehnten der Forschung keine Impfstoffe. Deshalb bin ich sehr zurückhaltend und würde das in einer Diskussion nicht als den einzigen Ausweg darstellen. Dieses Problem sprechen auch manche Virologen an.

Wie sieht denn die Zukunft aus? 

Wahrscheinlich müssen wir lernen, über einen längeren Zeitraum mit dem Virus zu leben. Es könnte immer wieder zu lokalen Ausbrüchen kommen, die dann einzudämmen sind. Es ist auch zu hoffen, dass bei der Forschung nach Behandlungsmöglichkeiten der Krankheit Covid-19 Fortschritte gemacht werden, die die Sterblichkeit senken. Ich würde die Hoffnung einer Gesellschaft aber nicht allein auf die Entwicklung eines Impfstoffs lenken. Die Sicherheitsverfahren müssen dringend eingehalten werden, und das kostet Zeit. Es gibt Stimmen, die sagen, wir überspringen manche Sicherheitsstufen einfach. Das ist für mich äusserst fragwürdig.

Kommen wir noch auf die Schulen zu sprechen. Wenn wir uns die Situation dort anschauen, stellt sich die Frage, was hinterlässt das für Schäden bei den Schülerinnen und Schülern.

Ich habe Bilder von Schulen gesehen, die unter strengen Sicherheitsauflagen geöffnet wurden. Die Kinder standen im Abstand von anderthalb Metern auf den Kreuzen am Boden des Schulhofs. Man sieht den Kindern die Angst förmlich an. Das sind zutiefst verunsicherte und verängstigte Kinder. Man muss doch rational und natürlich mit entsprechenden Massnahmen an die Sache herangehen, aber man darf die Menschen nicht so in Angst versetzen. 

Seit einigen Wochen gibt es in Deutschland Proteste gegen die Grundrechtseinschränkungen. Was sind das für Leute, die deswegen auf die Strasse gehen? 

Diese Proteste bilden ein sehr heterogenes Spektrum ab. Das sind Menschen, die sich Sorgen machen um die Grundrechtseinschränkungen und die verschiedene Fragenstellungen haben, ähnlich wie ich sie auch formuliert habe. Natürlich gibt es dabei auch Menschen, die ein sehr von Verschwörungsmythen geprägtes Weltbild haben. Das finde ich problematisch, es heisst für mich aber nicht, sie pauschal auszugrenzen. Anders ist das bei Rechtsextremen, die in vielen Städten versucht haben, die Proteste zu vereinnahmen. In den Medien wurde das aber häufig so dargestellt, als ob alle Proteste völlig von Rechten oder Verschwörungstheoretikern dominiert seien, an denen man sich auf gar keinen Fall beteiligen und die man mit einem möglichst weiten Bogen umgehen sollte. Auch in meiner Partei sehen das viele so. Daran habe ich mich nicht gehalten, sondern auf einer Kundgebung gesprochen. In Aachen gab es an jenem Tag drei Kundgebungen. Eine hatte die rechte AfD organisiert. Die eher esoterisch Orientierten haben woanders demonstriert. Dort, wo ich sprach, war es eher ein linkes Spektrum.

Gab es Reaktionen darauf?

Weil es eine hohe Tabuisierung dieser Proteste gibt, bin ich massiv attackiert und diffamiert worden. In einigen Medien wurde die Grenze von tendenziöser Berichterstattung zu Falschinformationen überschritten, was juristisch richtiggestellt werden musste. Das hat mit der Gesprächskultur zu tun, die ein gewisses Meinungsspektrum definiert, und da bin ich aus der Reihe getanzt. 

Hat diese Kampagne gegen Sie gegriffen?

Ich habe unglaublich viele Rückmeldungen bekommen. Zu 90 Prozent waren das positive Reaktionen aus dem ganzen Land, vor allem nachdem die Leute meine Rede (https://www.andrej-hunko.de/start/aktuelles/4954-redemanuskript-gedanken-sind-frei) gelesen hatten und nicht fassen konnten, dass ich deswegen so attackiert worden bin. Auch in der Lokalzeitung wurde ich heftig angegriffen. Vor ein paar Tagen gab es eine Leserbriefseite, auf dieser haben bis auf einen Brief alle meine Position verteidigt. In dem Moment, als die Menschen lasen, was ich wirklich gesagt hatte, fanden 90 Prozent das völlig in Ordnung. Der ganze Ablauf wirft aber ein Schlaglicht auf die Debattenkultur in Deutschland. Die ist völlig vergiftet.

Im Europarat gab es auch noch eine Reaktion…

…drei Tage nach meiner Rede in Aachen hat der Sozial- und Gesundheitsausschuss mich als Berichterstatter gewählt für einen Bericht unter dem Titel «Lehren für effektive und rechtsbasierte Massnahmen aus der Corona-Krise». Es geht darum, wie Staaten und Gesellschaften künftig am besten auf so eine Epidemie reagieren sollten. Die allerbeste Botschaft, die man hier geben kann, ist die «Vorbereitetheit». Es geht darum, dass eine Gesellschaft auf solche Situationen vorbereitet ist. Es braucht Schutzausrüstungen und vorbereitete Pandemie-Pläne, wie man am schnellsten auf so eine Entwicklung reagieren kann. Je schneller ein Staat darauf reagiert, desto schneller hat er die Pandemie unter Kontrolle bekommen. Deshalb mussten beispielsweise in Island weniger weitreichende Massnahmen ergriffen werden als in anderen Staaten.

Was hat Island konkret anders gemacht?

In Island, das übrigens von einer linken Ministerpräsidentin geführt wird, wurde vor allem sehr schnell reagiert. Auch wenn das kleine Land nur begrenzt mit einem 80-Millionen-Staat vergleichbar ist, so ist doch zumindest die Methodik vergleichbar: Man war dort vorbereitet, hat schon im Januar durch Kontrollen an den Flughäfen reagiert und ab Februar auf breit angelegte Tests gesetzt. Es wurde frühzeitig vor der Situation in Ischgl gewarnt, systematische Zufallstestungen durchgeführt, und die Ergebnisse wurden täglich transparent dargestellt. Dafür brauchte man dann in der Hochphase im März nicht so weitreichende Einschränkungen wie hierzulande. Grundschulen sind dort nie ganz geschlossen worden, die wichtigsten Wirtschaftszweige wie Fisch, Geothermie und Aluminium liefen weiter, eine Maskenpflicht gab es nie. Heute hat Island die Corona-Welle weitestgehend überwunden, bei wesentlich geringeren gesellschaftlichen Kollateralschäden.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

«Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?»

Zum gleichnamigen Buch¹ von Jürgen Kaube*

von Judith Schlenker, Donaueschingen (D)

Wenn die Befürworter des individualisierten, selbstständigen Lernens Recht haben sollten, dann müsste die Corona-Krise mit der Schliessung von Schulen und dem daraus resultierenden «selbstständigen Lernen» der Schüler zu Hause, unter Nutzung aller medialen Möglichkeiten, geradezu zu einem ungeahnten Anstieg des Lernzuwachses bei Schülern führen – sind doch die Schüler endlich befreit von den Zwängen der Schule und des Unterrichts.

Dass dies so nicht eintreten wird, ist jedem Lehrer und jedem Elternteil klar, die täglich miterleben können, wie schwer sich die Kinder tun, alleine, ohne die vertraute Umgebung der Klassengemeinschaft und ohne die direkte Ansprache und Hilfestellung durch den Lehrer, echte Lernfortschritte zu machen und nicht nur (durchaus manchmal sinnvolle) Wiederholungs- und Abfrageübungen zu erledigen. So wie mein kleiner Nachbarsjunge das ausdrückte: «Mir fehlen meine Kumpels aus der Klasse, und die Mama kann einfach nicht so gut erklären wie meine Lehrerin, wenn ich etwas nicht verstehe.»

Lernfreude bei der Lösung schwieriger Probleme

Ist Schule also doch nicht «zu blöd für unsere Kinder»? Sie wäre es laut Jürgen Kaube nicht, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen würde. Dabei besinnt er sich auf das Wesen von Schule und erteilt an mehreren Stellen seines Buches vielen modernen Theorien eine klare Absage. Aufgabe der Schule ist für ihn, «den Sinn für die Fähigkeit wachzuhalten, die Schwierigkeiten selbst zu lösen oder es auch nur zu versuchen» und er formuliert die simpel klingende These «worum es in der Schule gehen muss, die unseren Kindern und den Lehrern nicht zu blöd erscheint: um Lernfreude bei der Lösung schwieriger Probleme.» (S. 28) Dabei muss Unterricht die Schüler vor Schwierigkeiten stellen, die nicht leicht zu erfüllen sind, in dem Probleme überwunden und Gedächtnis, Denken, Urteilskraft und Sprachvermögen eingesetzt werden müssen. Dabei geht es nicht um Spass, sondern um Lernfreude, Freude an der Konzentration und das Wachhalten von Aufmerksamkeit. Hohe Anforderungen, zugegebenermassen. Mit Freude denke ich dabei an eine Klasse, die ich vor die Aufgabe stellte, im Textilarbeitsunterricht aus einer alten Plastikplane eine Messenger Bag zu nähen (neudeutsch würde man das Upcycling nennen). Es erschien ihnen zuerst viel zu schwierig, aber durch die Aufteilung der Arbeit in gut überlegte kleine Schritte gelang es ihnen, schöne und brauchbare Exemplare herzustellen. Eine Schülerin meinte dann: «Die hänge ich mir jetzt um und gehe damit durchs Schulhaus, dann kann ich mich richtig ‹fühlen›, weil ich sowas Tolles selber gemacht habe.» So ganz nebenbei hatten die Schülerinnen und Schüler ihre Mathematikkenntnisse bei der Berechnung des Schnitts, ihr Sprachvermögen bei der Erstellung von Arbeitsanweisungen, ein hohes Mass an Konzentration und genauer Arbeit und vieles mehr eingebracht. Das Gefühl, es geschafft zu haben und stolz zu sein, kann ihnen niemand nehmen.

Konzentration auf Grundfertigkeiten: Lesen, Schreiben, Rechnen

Wie sollen Schulen allerdings die von Jürgen Kaube an sie gestellten Anforderungen erfüllen, wenn sie zum einen den Erwartungen der Gesellschaft nach sozialem Aufstieg für alle, Erziehung zu Toleranz, Umweltbewusstsein und den richtigen Umgang mit digitalen Medien sowie der Sicherung des Wirtschaftsstandortes dienen, zum anderen den Erwartungen der Eltern und den Forderungen der Bildungspolitiker mit ihren immer neuen Reformen gerecht werden? Kaube plädiert im Zusammenhang damit, dass Schule die Kinder auf die Zukunft vorbereiten soll, dass man sich auf das besinne, was in dieser Situation hilfreich und nützlich ist. Und das sind vor allem die Grundfertigkeiten des Lesen-, Schreiben- und Rechnenkönnens. «Lehrer, die glauben, je weniger sie lehrten, desto besser sei es, hat man auf einen Irrweg geführt. Der schülerzentrierte, wenig instruierende Unterricht ist eine Idee von Professoren. Und zwar eine falsche, nach allem, was wir wissen.» (S. 146) Vehement und wortreich argumentiert Kaube gegen reformpädagogische Irrwege wie das Methodentraining nach Heinz Klippert («eine besonders dramatische Art, den Unterricht zu verblöden», S. 93) oder das Schreiben nach Gehör (nach Jürgen Reichen), das zu vielen Misserfolgen der Schüler vor allem in den weiterführenden Schulen führte, oder die Kompetenzorientierung («Megacontainerbegriff», S. 90) von Bildungsplänen. Mit den drei elementaren Fertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen allerdings versetzt man die Kinder in die Lage, sich in der Welt zurecht zu finden, sich Gedanken über die Welt zu machen und sich die Welt zu erschliessen. Dabei hängt die Fähigkeit zur Problemlösung vom vorhandenen Wissen, vom Üben und der gemachten Erfahrung ab.

Ruhiges Verweilen bei einem Thema

«Was die Schule also kann, selbständiges Denken lehren, kann sie nicht sofort und nicht ohne den Weg über das Lehren. Das Lehren von etwas, in dem etwas Weiteres steckt. Es gibt insofern keinen dümmeren Satz über schulische Erziehung als den, man solle nicht Fächer unterrichten, sondern Schüler.» (S. 108) Dafür braucht es ein ruhiges Verweilen bei einem Thema und nicht ein ständiges Abarbeiten von Inhalten, die dann auch schnell wieder vergessen werden. «Eine Schule, die den Schülerinnen und Schülern dieselbe Unruhe signalisiert, die auch in der Gesellschaft herrscht, erfüllt eine ihrer wichtigsten Funktionen nicht: das Üben von Aufmerksamkeit.» (S. 186) Diese «Unruhe» ist vielfach auch in den neuen Schulbüchern zu finden. Dort wird von einem Thema zum nächsten gesprungen, ohne dass das gerade Gelernte ausreichend geübt und gefestigt wird. Das mögen selbst die Schüler nicht. Welche Freude sie entwickeln, wenn man einmal länger an einem Text bleibt, sieht man immer wieder beim Lesen einer Lektüre, beispielsweise im Sprachunterricht. Eintauchen in eine ganz andere Welt, sich mitnehmen zu lassen von den handelnden Figuren, sich Gedanken zu machen über das Geschehen und zu spekulieren, wie es weitergehen könnte, das «Drumherum» und den Alltagsbezug zu erkunden – all das in der gebotenen Ruhe und Sorgfalt sorgt für einen grösseren Lernzuwachs als das Springen von Thema zu Thema. Die Schüler sind emotional beteiligt – das A und O beim Lernen.

Schulen von Digitaliserungsphantasien befreien

Damit die Schule ihre ureigensten Aufgaben erfüllen kann, fordert Kaube, sie von vielen Forderungen, die von unterschiedlichen Seiten an sie gestellt werden, zu befreien. So zum Beispiel die politische Forderung, dass sie den sozialen Aufstieg für alle ermöglichen solle. Bildungspolitik müsse Bildungspolitik bleiben und nicht Sozialpolitik sein. «Gerade wenn soziale Ungleichheit über so viele Faktoren (Einkommen, Wohnen, Bildung, Sprache, Medienkonsum) verstärkt wird, ist es eine soziologisch völlig blinde Phantasie, von der Schule zu erwarten, sie könne die Gesellschaft auf dem Weg über Mathematik- und Deutschstunden ändern.» (S. 84) Ebenso schlägt Kaube vor, die Schulen von den «Digitalisierungsphantasien» zu befreien. Der Glaube, Kinder würden durch den Unterricht mit Computern, Tablets und Internet im Hinblick auf mehr Wissen gefördert, hält er für falsch, da Jugendliche im Umgang mit den modernen Medien sowieso ihren Lehrern oft voraus seien. Informatikunterricht und Programmieren hält er durchaus für Unterrichtsinhalte, ihm fehlen dabei aber die Konzepte und die dafür ausgebildeten Lehrer. «Ein wichtiges Lernziel an Schulen ist Resistenz gegen Phrasendrescherei. Man könnte beim Thema Digitalisierung damit anfangen», schlägt Kaube vor. (S. 210) 

Bedeutung der Instruktion

Insbesondere in jenen Klassenstufen, in denen Wissen und Können aufgebaut wird, sollte der Schwerpunkt auf der Instruktion liegen. Dieses Wissen und Können steht dann später für alle möglichen Formen der Selbstaneignung zur Verfügung. Am Beispiel des Kuchenbackens macht er dies sehr anschaulich. «Wenn ein Koch in der Küche ist, haben die, die in seiner Gegenwart kochen üben sollen, einen Anspruch darauf, dass er sie nicht in jede Falle laufen lässt. […] Man muss erst ein Ei aufschlagen, ein Rezept lesen und einen Ofen bedienen können, bevor man das Weltproblem ‹Backe einen Kuchen› in Form eines Projekts zu lösen vermag.» (S. 236) Darüber hinaus fordert Kaube, die Schulen vom Zentralismus zu befreien. Dies bedeutet nicht, verpflichtende Vorgaben bei den Basisqualifikationen Lesen, Schreiben und Rechnen zu machen, sondern den Schulen und Schulgemeinschaften «Spielräume für Schwerpunktsetzungen, exemplarisches Lernen, das Ausprobieren von Felderkundungen» einzuräumen (S. 252).

Rolle des Elternhauses

Einen Hinweis darauf, was zu tun ist, um den beschriebenen Zuständen in der Schule zu begegnen, gibt Jürgen Kaube gegen Ende seines Buches. Er weist dort auf die Rolle des Elternhauses bei der Sozialisation von Kindern hin, die unabsichtlich geschieht, während Erziehung ein absichtsvoller Prozess ist. «Haltungen, Anstrengungsbereitschaft und Selbstbilder werden […] stärker durch die Familien vermittelt und jedenfalls geschwächt, wenn die Familien nicht schuladäquat erziehen, weil sie irrtümlicherweise denken, es sei die Aufgabe der Schule, nicht nur zu unterrichten, sondern auch alle Voraussetzungen dafür zu schaffen.» (S.  258) Dabei seien die Schulen darauf angewiesen, «dass in den Familien nicht gegen sie und gegen die Tugenden gelebt wird, die der Unterricht beansprucht. Die Mediennutzung ist nur eines von vielen Beispielen für eine Form der Sozialisation und Erziehung, die es den Schulen schwermacht». (S. 269) 

Schule – ein Ort, an dem die Kinder denken lernen

Vom Lehrer fordert Kaube, dass er sich – ausgestattet mit gutem Fachwissen und innerlich überzeugt von dem, was er lehrt – mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit Herz und Kopf in den Unterricht einbringt. «Kinder merken es, wenn wir nicht an das glauben, was wir ihnen sagen, und darum können wir ihnen nicht lehren, woran wir selbst zweifeln, sei es nun Höflichkeit, Logik, Mietrecht oder ‹Gedichtsanalyse in vier Sprachen›».

Jürgen Kaubes Buch ist neben all den pointen- und kenntnisreichen Darstellungen der Mängel in Schule und Unterricht vor allem ein Beitrag, der zum Nachdenken anregt. Er regt zum Nachdenken darüber an, was das Wesen und der Sinn von Schule sind: ein Ort, an dem das Denken wichtig ist, an dem Lehrer und die Instruktion Vorrang vor «reformpädagogischen Gesängen» (Kaube) haben und ein Ort, an dem die Kinder denken lernen, ihre Urteilskraft schulen und die Welt verstehen lernen. Und wir wären in der Tat «blöd», diesen wichtigen Beitrag nicht ernst zu nehmen.

¹ Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Berlin 2019. ISBN 978-3-7371-0053-3

* Jürgen Kaube ist einer der vier Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und zuständig für das Feuilleton, Bildungsexperte und Vater von drei Töchtern sowie Herausgeber und Autor von Sachbüchern.

 

«Wir brauchen ein Gegenüber, um das Denken zu lernen»

von Professor Dr. Ralph Lankau 

«Wir lernen von Menschen, wir sind soziale Wesen, wir sind aufeinander bezogen. Das heisst, wir lernen in Beziehung und von Persönlichkeiten. Unsere Lehrkräfte sind ja nicht nur Männer und Frauen, die uns irgendwelche Inhalte vermitteln wie ein Buch, sondern wir lernen immer auch in dieser sozialen Beziehung. Das weiss jeder aus der eigenen Schulzeit oder aus dem Studium, dass wir bestimmte Lehrpersönlichkeiten haben, die für uns sehr prägend waren, von denen wir viel gelernt haben, und es geht immer über das Fachliche hinaus. Wenn es um Repetitionswissen geht, also das, was man lesen kann, oder man kann es über Videos vermitteln, was man dann auch prüfen kann, dieses ganze prüfbare Wissen, das kann natürlich über Medien vermittelt werden. Aber es geht ja beim Lernen um viel mehr. Wir lernen Inhalte, die wir dann in einen Kontext stellen, wo wir Bezüge schaffen zwischen den einzelnen Disziplinen, zwischen den Dingen, die wir gelernt haben, aber hinterfragen müssen, und dieses Hinterfragen ist nur möglich im direkten Dialog. Das ist etwas, was wir seit Platon und Aristoteles wissen und es auch Immanuel Kant wunderbar formuliert hat: Wir brauchen ein Gegenüber, um das Denken zu lernen, weil sonst bleibt es tatsächlich nur Wiedergabe und Repetition. Ich muss es mit eigenen Worten formulieren, ich muss mit andern Menschen darüber sprechen, ich muss durch diesen Dialog und den Diskurs auch lernen, darüber zu reflektieren, mögliche Denkfehler aufzudecken, diese ganzen Dinge, und das ist der zweite notwendige Schritt, der immer an Personen gebunden ist.»

Quelle: Radio SRF «Echo der Zeit» vom 9. Juni 2020

 

Buchtipp: Ralf Lankau: Kein Mensch lernt digital. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2017, ISBN 978-3-407-25761-1

Die These des Autors lautet: Wir müssen uns auf unsere pädagogische Aufgabe besinnen und (digitale) Medien wieder zu dem machen, was sie im strukturierten Präsenzunterricht sind: didaktische Hilfsmittel.

Offener Brief: Analoge Schule ist unverzichtbar

Die Corona-Krise bringt es an den Tag: Nicht digitaler, sondern analoger Unterricht ist das Grundmodell von Schule

Der Virus, der gerade unser öffentliches Leben lahmlegt, veranlasst etliche Befürworter einer umfassenden Digitalisierung des Unterrichts zu einer lautstarken Werbeaktion: Jetzt zeige sich, dass nur digitalisierter Unterricht in der Lage sei, mit Krisen wie der gegenwärtigen eher zurechtzukommen. Zweifellos: Um Schüler mit Aufgaben zu versorgen oder virtuelle Klassenzimmer online zu besuchen, braucht man Digitaltechnik. Die Defizite jedoch, die eine derartige Notversorgung mit Unterricht mit sich bringen, treten mit jeder Woche, die die Schulen weiter geschlossen bleiben, immer deutlicher zu Tage.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die allermeisten SchülerInnen froh sein dürften, wenn sie sich und auch die meisten Lehrer endlich persönlich in analogen Klassenzimmern wiedersehen werden. Auch das Ansehen der Lehrer dürfte bei den Eltern deutlich gestiegen sein. Keine Technik und keine Methode kann das ersetzen, was schon immer den Kern guten Unterrichts ausgemacht hat: das leibhaftige Kooperieren von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Klassenzimmern beim Lernen, Reflektieren und Erobern neuer Wissenshorizonte.

Der Mensch ist ein soziales Wesen – nichts kann die lebendige Begegnung von Lehrern und Schülern ersetzen. Mag sein, dass ein früher ins Leben gerufener Digitalpakt die Notversorgung der Schüler mit Lernmaterialien erleichtert hätte. Sicher ist: Als Grundmodell ist die digitale Schule ungeeignet, zielt sie doch auf das ab, was in Zeiten der Coronakrise gezwungenermassen zur Anwendung kommt: auf eine Auflösung des Klassenverbands sowie der vitalen Lehrer-Schüler-Beziehung.

Gleichzeitig kommt es zu einer überzogenen, nicht altersgerechten Individualisierung des Lernens. Dem Lehrer wird im wahrsten Sinne des Wortes «das Heft aus der Hand genommen». Er wird zum fernen Lernbegleiter oder zum reinen Aufgabenlieferanten degradiert, denn die eigentlichen Lernbegleiter sind derzeit die Eltern, wenn sie das überhaupt leisten können.

In der Psychotherapie ist der einzige Wirkfaktor die Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten. So zählt auch in der Schule vor allem die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Jeder Schüler reift in seiner Persönlichkeit besonders durch die Beziehung zum Lehrer und durch dessen Feedback. Aus einer vertrauensvollen und verlässlichen Beziehung zum Lehrer gewinnt der Schüler naturgemäss einen Grossteil seiner Lernmotivation und Anstrengungsbereitschaft.

Digitaltechnik eignet sich ausschliesslich und durchaus erfolgreich als Ergänzung des analogen Unterrichts, zu mehr aber auch nicht. Jedes pädagogische Medienkonzept muss daher zwingend die folgenden Aspekte berücksichtigen:

Vergessen wir nicht über der Einübung digitaler Kompetenzen, analoge Lernformen zu pflegen, die grundsätzlich an erster Stelle stehen sollten.

Digitaltechnik darf als Werkzeug gezielt und reflektiert eingesetzt werden, sollte aber niemals die Schüler-Lehrer-Beziehung schwächen oder sogar ersetzen.

Passen wir die Nutzung der eingesetzten Digitaltechnik an die Altersentwicklung und Hirnreifung unserer Kinder an! So sorgen wir in der Schule (wie auch zuhause) für digitalfreie Zeitfenster, entsprechend der jeweiligen Altersgruppe.

Sehen wir uns vor, dass die Schuletats nicht durch Folgekosten der Digitaltechnik jeglichen Gestaltungsspielraum verlieren.

Stärken wir die Lehrer in ihrem professionellen Selbstverständnis und in ihrer Fähigkeit, die passenden Medien für ihre Schüler selbst auszuwählen und sinnvoll einzusetzen. Stärken wir sie darin, mutige und authentische Beziehungsgestalter zu sein.

Um Missbrauch und Entwendung sensibler Schülerdaten zu verhindern, ist in der Regel Offlinetechnik dem ständigen Arbeiten im World Wide Web vorzuziehen.

Auch Datennetze können zusammenbrechen – z. B. durch den Befall mit Viren der anderen Art. Sollten wir nicht vorsorgen, indem wir wenigstens die gute alte Tafel an den Wänden hängen lassen?

Last but not least: Wir müssen mit der heranwachsenden Generation in einen intensiven Austausch treten – über die schleichende Verbreitung eines Menschenbildes, in dem der Mensch von aussen (fern-)gesteuert über immer weniger Autonomie verfügt. Das bedeutet: Es schwindet seine Fähigkeit, selbstständig zu denken. Die Folgen wären für unsere Demokratie verheerend. 

Gottfried Böhme; Buchautor, «Der gesteuerte Mensch?»

Uwe Büsching; Vorstandsvorsitzender Stiftung «Kind und Jugend»

Matthias Burchardt; Bildungsphilosoph

Folke Hartwig; Ärztliche Psychotherapeutin

Peter Hensinger; Bündnis für humane Bildung

Ralf Lankau; Bündnis für humane Bildung

Ingo Leipner; Bündnis für humane Bildung

Herbert Renz-Polster; Kinderarzt

Sybille Schmitz; Beraterin für frühkindliche Bildung

Manfred Spitzer; Psychiater

Christoph Türcke; Philosoph

Elke Urban; eh. Leiterin des Schulmuseums Leipzig

Quelle: Bündnis für Humane Bildung, www.aufwach-s-en.de/2020/04/analoge-schule-ist-unverzichtbar/

8. April 2020

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