«Seit Kriegsbeginn zahlt die Ukraine einen hohen Blutzoll»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)
General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

Zeitgeschehen im Fokus In einem Gastkommentar der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) traf der amerikanische Neocon, Eliot Cohen, folgende Aussage: «Die Ukraine muss bei ihren bevorstehenden Gegenoffensiven nicht nur Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen, sie muss auch weit mehr als einen geordneten Rückzug der Russen nach Waffenstillstandsverhandlungen zustande bringen. Brutal ausgedrückt: Sie muss es schaffen, dass russische Soldaten massenhaft fliehen, desertieren, Offiziere erschiessen, gefangen genommen werden oder umkommen. Die russische Niederlage muss in ein unmissverständlich grosses, blutiges Durcheinander münden.» Was ist von dieser Einschätzung zu halten? Ist ein solches Szenario denkbar?

General a. D. Harald Kujat Nein, das ist bei allem Verständnis für Emotionen in einem Angriffskrieg wie diesem fern jeglicher Realität. Es wird oft darauf hingewiesen, dass Russland in seiner Geschichte sehr viele Kriege und Krisen überstanden hat. Die historische Erfahrung, oft angegriffen worden zu sein, sei nach wie vor tief im Bewusstsein der Menschen verankert. Das ist die eine Seite der Medaille. Für die andere Seite sei nur der sow­jetisch-finnische Krieg und der Expansionismus der Sowjetunion und das Schicksal der baltischen Staaten genannt, die nach wenigen Jahren der Freiheit wieder unter sowjetische Herrschaft kamen. Das heutige Russland ist nicht die Sowjetunion. Allerdings ist die russische Aussen- und Sicherheitspolitik noch immer von den historischen Erfahrungen geprägt. Der zweite wichtige Aspekt ist die geostrategische Lage Russlands, die entscheidend für das aussen- und sicherheitspolitische Gefährdungskalkül ist. Die USA, der geopolitische Rivale, sind von zwei Weltmeeren umgeben, dem Nordatlantik und dem Pazifik. Der nördliche Nachbar, Kanada, ist ein enger Alliierter, Mexiko im Süden ein befreundeter Staat. Russland mit seiner gewaltigen Landmasse, die sich über 11 Zeitzonen erstreckt, ist von vielen Staaten umgeben, nicht nur von befreundeten, sondern von Staaten, mit denen es im Verlauf der Geschichte oft Probleme gab. Russ­land ist weder bereit, seine Geschichte abzustreifen, noch kann es seiner geostrategischen Lage entkommen.

Inwieweit spielt die geografische Lage in diesem Konflikt eine Rolle?

Die USA sind eine Luft- und Seemacht, mit einer geostrategisch vorteilhaften Lage, weil sie konventionell praktisch unangreifbar sind. Das russische Sicherheitsbedürfnis ist deshalb ein anderes als das der USA. Das drückt sich beispielsweise in der Nukleardoktrin Russlands aus, in der es heisst, dass Nuklearwaffen nur dann eingesetzt werden, wenn Russland selbst mit Nuklearwaffen angegriffen wird oder eine «existenzielle Bedrohung» durch einen konventionellen Krieg für das russische Volk und das Land entsteht. Dieser Terminus, «existenzielle Bedrohung», ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der russischen Strategie. Obwohl historische Vergleiche oft kritisch zu sehen sind, sind die geostrategischen Ursachen des Ukrainekrieges durchaus mit denen der Kubakrise vergleichbar.

Cohen sieht ein blutiges Durcheinander als Ziel der ukrainischen Offensive. Wie soll so eine Zielsetzung erreicht werden?   

Das Ziel der ukrainischen Regierung ist die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete einschliesslich der Krim. Aktuell hören wir immer nur von militärischen Erfolgen der Ukraine und den Stärken ihrer Streitkräfte. Richtig ist, dass diese durch die Ausbildung nach Nato-Standards und durch westliche Waffenlieferungen erheblich an Kampfkraft gewonnen haben. Aber ebenso richtig ist auch, dass die Ukraine seit Kriegsbeginn einen hohen Blutzoll zahlt und die sogenannte Grossoffensive – der normale Begriff «Offensive» reicht nicht aus – weitere erhebliche Verluste fordern wird. Die russischen Streitkräfte haben sich zu einer strategischen Defensive entschlossen. Russland will offenbar seine Eroberungen konsolidieren und hat zu diesem Zweck eine starke, tief gestaffelte Verteidigungsline aufgebaut. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat zu grossflächigen Überschwemmungen geführt, so dass die russischen Streitkräfte ihre Verteidigungsstellungen mehr als 10 Kilometer zurückziehen mussten und hat das betroffene Gelände für mechanisierte Verbände mehrere Monate unpassierbar gemacht. Fast täglich werden Angriffe auf Munitionsdepots, Treibstofflager und Führungsstäbe in der Nähe der Front durchgeführt. Zunehmend werden auch überall im Land Flugplätze angegriffen, um die Unterstützung der Landstreitkräfte durch die wenigen verbliebenen Flugzeuge auszuschalten. Auch Depots im Hinterland, im Westen der Ukraine, in denen westliche Waffen angeliefert und von dort verteilt werden, sind wichtige Ziele. Dadurch versucht Russland anscheinend, die Offensiv- und Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte so weit wie möglich zu schwächen, um aus der Defensive zum Gegenangriff anzusetzen. 

Welche Bedeutung hat die Offensive, die mehrmals verschoben wurde?

Die Offensive hat für die Ukraine eine sehr grosse Bedeutung. Zumindest ein Teilerfolg wäre wichtig, denn wenn sie scheitert, hat die Ukraine auf lange Zeit keine Chance, das Blatt zu wenden. In Washington weiss man, dass das Ziel, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern, unrealistisch ist. Da die Offensive monatelang gemeinsam mit dem amerikanischen Militär geplant und vorbereitet wurde, ist deshalb davon auszugehen, dass die ukrainischen Streitkräfte nur versuchen werden, bis zur Landbrücke zwischen Russland und der Krim vorzustossen, um die Krim zu isolieren. Zugleich käme die Kertsch-Brücke, die dann noch verbliebene Verbindung mit Russland, in die Reichweite der ukrainischen Waffen. Die Krim hat als Drehscheibe für die Unterstützung und Versorgung der russischen Verbände strategische Bedeutung. Ein Erfolg der Ukraine würde zudem die weitere Unterstützung des Westens sicherstellen. 

Die Ukraine hat seit dem 4. Juni mehrere Vorstösse unternommen, allerdings lediglich mit Kampfgruppen in der Grössenordnung von bis zu zwei Brigaden, noch dazu mit hohen Verlusten. Nach einigen Tagen zeichnet sich ab, dass dies nicht der Auftakt zur grossen Offensive durch die Zusammenfassung der insgesamt von Nato-Streitkräften ausgebildeten und mit westlichen Waffen ausgerüsteten etwa 12 Brigaden – ungefähr 50 000 Soldaten – ist, sondern der strategische Zweck durch kleinere, regional und kräftemässig begrenzte Vorstösse mit einer einheitlichen Zielsetzung erreicht werden soll. Das wird inzwischen auch von der russischen Führung so gesehen, wurde von der Ukraine jedoch bisher nicht bestätigt. Sollte den ukrainischen Streitkräften ein Einbruch oder ein Durchbruch durch die tief gestaffelten russischen Verteidigungslinien gelingen, ist es fraglich, ob sie in der Lage wären, genügend gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte nachzuführen, um einen Anfangserfolg auszubauen und erobertes Gelände zu halten. Falls ihre Offensive dadurch ins Stocken geraten sollte, wäre es schwierig, einen russischen Gegenangriff abzuwehren.

Was hätte das für Folgen?

Das hängt davon ab, wie weit die russischen Streitkräfte vorstossen können. Die ukrainische Regierung müsste sich entscheiden. Entweder verlangt sie einen Waffenstillstand und strebt einen Verhandlungsfrieden an, oder sie fordert Unterstützung durch westliche Streitkräfte. Die Entscheidung, ob und wie der Krieg fortgesetzt wird, müsste dann der Westen treffen. Jedenfalls würde damit eine Lage entstehen, die einen Waffenstillstand ermöglicht, denn nach meinem Eindruck erreichen beide Seiten einen Grad der Erschöpfung, der grössere militärische Fortschritte unmöglich macht.

Wenn man durchdenkt, was Sie jetzt ausgeführt und realistisch nachvollziehbar dargelegt haben, gibt es nur eine Lösung: Waffenstillstand und Verhandlungen über alle strittigen Punkte. 

Das Problem besteht darin, dass eine ganzheitliche Strategie des Westens zur Beendigung des Krieges bisher nicht erkennbar ist. Die westliche Politik besteht lediglich aus der finanziellen, materiellen und militärischen Unterstützung der Ukraine, damit diese den Krieg fortsetzen kann. Es geht nicht um das Ganze, um eine Gesamtstrategie, in der alle relevanten Aspekte im Sinne einer politischen Synergie zusammenwirken. Das heisst, dass neben der Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung immer auch bedacht wird, dass der Krieg politische Ursachen hat und zu einem politischen Ergebnis führen wird. Eine politische Lösung, die der Ukraine Sicherheit und Stabilität in einer europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur gewährleistet und einen weiteren Krieg verhindert, kann nur durch Verhandlungen mit Russland erzielt werden. 

Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Waffenstillstand und man verhandelte über eine Lösung im obengenannten Sinne. Wie verläss­lich sind denn die westeuropäischen Staaten für Russland, nachdem Merkel öffentlich bekannt hat, dass sie nie die Umsetzung des Minsker Abkommens, das nach dem Beschluss des Uno-Sicherheitsrats völkerrechtlich bindend ist, ins Auge gefasst habe, sondern nur Zeit gewinnen wollte, um die Ukraine aufzurüsten? Wie können so Verhandlungen noch zielführend sein? 

Als der französische Präsident Macron im Dezember Sicherheitsgarantien für Russland forderte, wurde er in Deutschland heftig kritisiert. Offenbar bezog er sich auf ein Kernproblem dieses Krieges, auf seine Ursachen, nämlich auf Russlands Verlangen, dass die Ukraine weder Mitglied der Nato wird noch amerikanische oder Nato-Truppen in der Ukraine stationiert werden. Ausserdem müssten der russischsprachigen Bevölkerung des Donbas Minderheitenrechte zugestanden werden, wie es im Minsk II-Abkommen vereinbart war. Merkel, Hollande und Poroschenko hatten öffentlich bestätigt, dass sie wie Selenskij nicht die Absicht hatten, das Abkommen zu realisieren, sondern Zeit für die Aufrüstung der Ukraine gewinnen wollten. Macron fordert auch Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die über das hinausgehen, was im Budapester Abkommen von 1994 vereinbart wurde. Sie sollen in ihrer Verbindlichkeit etwa zwischen einer Nato-Mitgliedschaft und dem «Modell Israel» liegen. Damit will er anscheinend eine Alternative zur Absicht einiger Nato-Staaten auf die Tagesordnung des Nato-Gipfels am 11./12. Juli in Litauen setzen, die eine feste Zusage für die Aufnahme der Ukraine in die Allianz fordern. Gegenwärtig wird in der US-Administration das Einfrieren des Krieges in der Form einer Korea-Lösung diskutiert. Die Ukraine würde entlang der aktuellen Frontlinie geteilt werden. In Südkorea sind 40 000 amerikanische Soldaten stationiert. Das ist genau das, was Russland verhindern will. Die Ukraine müsste nicht nur auf die Krim, sondern auch auf die vier von Russland annektierten Gebiete verzichten; wie in Korea für mehr als siebzig Jahre oder möglicherweise für immer. Diese Lösung scheint mir weder für die Ukraine noch für Russ­land akzeptabel. Was Ende März 2022 zwischen Russland und der Ukraine vereinbart wurde, war dagegen allem Anschein nach für beide Seiten akzeptabel, weil die beiderseitigen Sicherheitsinteressen berücksichtigt wurden. Die russischen Streitkräfte würden sich auf den Stand vor Beginn des Krieges zurückziehen. Die Ukraine würde weder Nato-Mitglied werden noch die Stationierung amerikanischer oder anderer Nato-Truppen erlauben. Garantiemächte sollten die Einhaltung des Abkommens sichern. Schliesslich sollte die Zukunft des Donbas innerhalb von 15 Jahren friedlich und unter Verzicht auf militärische Mittel einvernehmlich gelöst werden. Das war die Quintessenz dieser Vereinbarung. Die Ukraine zog sich auf Druck des Westens aus den Verhandlungen zurück. Danach haben beide Seiten durch Vorbedingungen Hürden aufgebaut, die die Aufnahme von Verhandlungen verhindern. 

Gibt es keine Variante, die eine Gesprächsbasis bieten könnte?

Doch, in diesem Zusammenhang ist das chinesische Positionspapier interessant. Zum einen, weil es sich auf die beiden Resolutionen der Uno bezieht, in denen Friedensverhandlungen gefordert werden. Zum anderen schlägt es die «Wiederaufnahme» der Verhandlungen vor, was sich offenbar auf den Ende März letzten Jahres erreichten Verhandlungsstand bezieht. Damit würden alle Vorbedingungen beiseitegeschoben. In den Verhandlungen könnten sie natürlich wieder auf den Tisch kommen, aber sie würden die Aufnahme der Verhandlungen nicht verhindern. 

Dieser Vorschlag wurde vom Westen als russische Propaganda abgetan. 

Ja, er wurde sofort reflexartig vom Westen abgelehnt, aber in der Zwischenzeit passiert im Hintergrund etwas. Die Chinesen haben einen Sonderbeauftragten bestimmt, der bereits nach Moskau und nach Kiew gereist ist, um die Verhandlungsbereitschaft auszuloten. Und nach dem Besuch des französischen Präsidenten in Peking gibt es offensichtlich eine bilaterale Zusammenarbeit an einem konkreten Verhandlungsplan.  

Ist das ein kleiner Hoffnungsschimmer neben dem ständigen Säbelrasseln?

Das hängt auch vom Verlauf des Krieges und insbesondere der ukrainischen Offensive ab. Hinzu kommt, dass sich in den USA ein grösserer Realismus hinsichtlich dessen durchzusetzen scheint, was die Ukraine militärisch zu erreichen vermag, sowie in Bezug auf die amerikanische Absicht, Russ­land als geostrategischen Rivalen zu schwächen. Zumal der aus den BRICS-Staaten gebildete Block immer stärker wird und die geopolitische Vormachtstellung der USA gefährdet. Der Ukrainekrieg hat die grössten Risiken für Europa geschaffen. Für die USA entstehen dagegen immer grössere Herausforderungen als Folge des Aufstiegs Chinas zur führenden Weltmacht. Der amerikanische aussen- und sicherheitspolitische Fokus verlagert sich daher schneller und konsequenter nach Asien als bisher erwartet wurde.

Sie haben vorhin erwähnt, dass im Westen eine Gesamtschau der Situation fehlt und das Ganze mit einem sehr begrenzten Horizont betrachtet wird. Warum fehlt das auf westlicher Seite?

Ich würde von der deutschen Politik zumindest erwarten, dass sie sich von den eigenen nationalen Interessen leiten lässt und dies sowohl in ihrer Informationspolitik als auch in ihrem Handeln erkennbar ist. Ich halte beispielsweise das Fehlen einer deutschen Strategie für Waffenlieferungen, die auf einer rationalen militärischen Zweck-Mittel-Relation basiert und realistische Ziele im Einklang mit unseren nationalen Sicherheitsinteressen definiert für einen gefährlichen Blindflug. Im Zusammenhang mit dem starken Engagement anderer europäischer Staaten und der Europäischen Union wird dadurch das Risiko einer Europäisierung des Krieges zu einer realen Gefahr. Eine rationale Gesamtstrategie müsste Antworten auf folgende Fragen geben: Welche militärischen und politischen Ziele der ukrainischen Regierung ist die Bundesregierung gewillt zu unterstützen? Erfolgt diese Unterstützung nur, soweit diese Ziele mit den deutschen Sicherheitsinteressen vereinbar sind? In welchem Ausmass ist die Bundesregierung bereit, durch Sanktionen verursachte langfristige und möglicherweise irreversible Schäden der deutschen Wirtschaft zu akzeptieren?

Kommen wir noch einmal zur ukrainischen Offensive zurück. Wie soll denn die Offensive aussehen?   

Die Ukraine könnte einen militärischen Erfolg nur dann erreichen, wenn sie in der Lage wäre, Russ­land zwei wichtige strategische Vorteile zu nehmen. Der eine ist die strategische Fähigkeit Russlands, über eine Entfernung von zwei- bis dreitausend Kilometern wichtige ukrainische Ziele mit Drohnen, Marschflugkörpern und vor allem Hyperschallwaffen anzugreifen. Die Ukraine verfügt über moderne westliche Luftverteidigungssysteme, mit denen sie diese Waffen im Endanflug zum Teil erfolgreich bekämpfen kann. Sie erleidet dabei jedoch auch erhebliche Verluste. Vor allem ist sie nicht in der Lage, die Abschussanlagen der russischen Flugkörper auszuschalten, um derartige Angriffe zu unterbinden. Deshalb verlangt die Ukraine schon seit längerer Zeit weitreichende Raketen, was die USA allerdings bisher abgelehnt haben. Die US-Regierung will offenkundig eine direkte Konfrontation mit Russ­land vermeiden. Einige europäische Staaten haben sich nun entschlossen, der Ukraine F-16-Kampfflugzeuge zu liefern. Die USA haben ihr Einverständnis gegeben, werden aus wohlverstandenen nationalen Interessen aber keine eigenen Flugzeuge liefern. Präsident Biden hat in diesem Zusammenhang erwähnt, die Ukraine habe fest zugesagt, die Kampfflugzeuge nicht zum Angriff auf russisches Kernland einzusetzen. Ob sich die Ukraine daran halten wird, ist eine andere Frage. Wie bisher hat die Zusage sofort eine neue Forderung ausgelöst: Deutschland soll Eurofighter liefern. Bisher hat sich die Bundesregierung dazu nicht geäussert. Dagegen haben ein paar deutsche Politiker die Eskalationsschraube gleich ein grosses Stück weitergedreht. Unbedingt sollen auch Taurus Luft-Boden-Abstandswaffen zur Verfügung gestellt werden. Mit einer Reichweite von über 500 Kilometern ist Taurus geeignet, strategische Ziele in der Tiefe Russlands anzugreifen. Das wäre wohl der Punkt, der aus russischer Sicht eine existenzielle Bedrohung darstellt. 

Was bedeutet die Lieferung der F-16-Kampfflugzeuge für den Kriegsverlauf? Und wann wird die Ukraine über die Flugzeuge verfügen? 

Bislang galt jedes neue Waffensystem, das die Ukraine bekam, als «Gamechanger». Im Falle der F-16 ist der ukrainische Präsident sogar überzeugt, dass die Ukraine damit schon bald einen Sieg erringen wird. Bisher ist noch nicht klar, wie viel und von wem die F-16 geliefert werden und um welche Version mit welcher Bewaffnung es sich handelt. Es ist auch nicht bekannt, wie die Ukraine die Flugzeuge einsetzen wird – zur Unterstützung der Landstreitkräfte, im Verbund mit den bodengestützten Luftverteidigungssystemen oder zur Ausschaltung russischer Waffensysteme tief in Russland. Da die F-16 über keine Tarnkappentechnologie verfügt, sind die Flugzeuge gegenüber der effektiven russischen Luftverteidigung sehr verwundbar. Hinzu kommt, dass die Ausbildung der Flugzeugführer eine erhebliche Zeit dauert, insbesondere im Hinblick auf die Fähigkeit zum Kampfeinsatz in den verschiedenen Varianten. Auch die Ausbildung des Wartungs- und Instandsetzungspersonals und der Aufbau der Boden- und Logistikorganisation dauert viele Monate, wenn nicht Jahre. Selbst wenn alles reibungslos und in der kürzest möglichen Zeit ablaufen sollte: Ein «Gamechanger» in dem Sinne, dass die F-16 die strategische Lage grundlegend ändert, ist das Flugzeug ebenso wenig wie die bisher gelieferten westlichen Geschütze oder Panzer. Kommen wir noch einmal auf den zweiten strategischen Vorteil Russlands zu sprechen. Ich sagte schon, dass die Halbinsel Krim die Drehscheibe für die gesamte Unterstützung der russischen Streitkräfte ist, die in der Ukraine im Einsatz sind. Deshalb hat die Ukraine versucht, die Verbindung mit Russland durch die Sprengung der Kertsch-Brücke zu unterbrechen. Russland hat darauf mit wochenlangen massiven Schlägen ­gegen die ukrainische Versorgungsinfrastruktur reagiert. Das zeigt, welchen Stellenwert die Verbindung zur Krim für Russland hat. Deshalb werden die russischen Streitkräfte alles daransetzen, einen erfolgreichen Durchbruch bis zur Landenge zu verhindern. Angesichts der kritischen Lage der ukrainischen Streitkräfte könnte es eine grosse Herausforderung werden, während der Offensive genügend kampferfahrene Truppen nachzuführen und die Versorgung mit Munition, Treibstoff und Verpflegung sicherzustellen. Sollte dies nicht gelingen, werden die russischen Streitkräfte die Initiative übernehmen, und in einer derartigen Lage wäre es äusserst schwierig, einen russischen Gegenangriff abzuwehren. 

Die Russen setzen sich in ihren Verteidigungslinien fest und sie wollten von Anfang an Friedensverhandlungen. Daran kann man doch ablesen, dass es Russland nie um eine Eroberung der Ukraine gegangen ist. Oder wie sehen Sie das? 

Am 17. Dezember 2021 hat Russ­land Vertragsentwürfe als Grundlage für Verhandlungen an die USA und die Nato übermittelt, die die Kernforderungen Russ­lands enthielten. Es gab zwar Gespräche, aber keine wirklichen Verhandlungen. Über den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, dem harten Kern der russischen Position, wurde nicht einmal gesprochen. Es würde zu weit führen, hier die gesamte Entwicklung vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges darzustellen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass der russische Angriff zwar eine grundsätzliche Option, aber nicht von langer Hand geplant war, sondern die Entscheidung erst sehr spät fiel. Russland ist es nicht gelungen, durch eine militärische Drohkulisse an der ukrainischen Grenze substanzielle Verhandlungen zu erzwingen. Es gibt auch gute Gründe anzunehmen, dass Russland nicht geplant hatte, die gesamte Ukraine zu erobern. Denn der dann erfolgte Angriff wurde zunächst mit einem sehr geringen Kräfteansatz begonnen. Ziel war die ukrainische Hauptstadt, offenbar um die damalige Regierung durch eine russlandfreundliche zu ersetzen. Darauf deutet auch die Absicht der USA hin, Präsident Selenskij bereits in den ersten Kriegstagen auszufliegen. Der Versuch, die Ukraine insgesamt zu erobern, hätte ein Vielfaches an Angriffsformationen bedeutet, ebenso eine sehr grosse Besatzungstruppe und erhebliche finanzielle Aufwendungen, um diese zu unterhalten. Ein entscheidender Punkt ist, dass sich russische und Nato-Streitkräfte auf einer langen Front direkt gegenübergestanden hätten. Das Risiko, dass ein menschlicher Fehler oder ein technisches Versagen in einer solchen Lage zu einem grossen Krieg führen könnte, wollte Russ­land sicherlich nicht eingehen. Ebenso wenig wie einen jahrelangen – möglicherweise vom Westen massiv unterstützten – Guerillakrieg in diesem grossen Land. Als der handstreichartige Versuch scheiterte, Kiew einzunehmen, entschied sich die russische Führung dazu, die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu besetzen und sie aus dem ukrainischen Staatsverband herauszulösen. Das scheint auch von Anfang an das eigentliche Ziel des russischen Angriffs gewesen zu sein. Denn bereits kurz vor Kriegsbeginn hatten die «Volksrepubliken» ihre Unabhängigkeit erklärt und Russ­land um Beistand gebeten, was Russland ermöglichte, sich bei seinem Angriff auf Art. 51 der Uno-Charta zu berufen.

Kann man sagen, alle Indizien sprächen dafür, dass Russland keine vollständige Eroberung der Ukraine beabsichtigt und versucht hat, eine Verhandlungslösung zu finden?

Jedenfalls kann man sagen, dass die Möglichkeiten, den Krieg durch Verhandlungen zu verhindern, nicht ausgeschöpft wurden. Den Beweis dafür, dass dies möglich gewesen wäre, liefert das zwischen der Ukraine und Russland weitgehend ausgehandelte Abkommen von Ende März 2022. Ich bin nicht sicher, ob die damaligen positiven Ergebnisse für die Ukraine nach diesem verlustreichen und zerstörerischen Krieg in künftigen Verhandlungen noch erreichbar sind.

Abschliessend möchte ich Sie fragen, was Sie davon halten, dass, wie die Ukraine und einige Mitgliedstaaten fordern, vom Nato-Gipfel am 11./12. Juli in Vilnius ein starkes Signal für einen Nato-Beitritt der Ukraine gesendet wird.

Es mehren sich die Stimmen, die sagen, man solle der Forderung nachgeben und der Ukraine eine feste Zusage für einen Beitritt zur Allianz geben. Angesichts der zunehmend kritischen Lage der Ukraine wird verschiedentlich sogar gefordert, die Ukraine noch während des Krieges in die Nato aufzunehmen, um einen Sieg Russ­lands zu verhindern, was de facto den Kriegs­eintritt der Nato gegen Russ­land bedeutet. Andere erwarten vom Nato-Gipfel einen «Beitrittsfahrplan», der die Sicherheit und territoriale Integrität der Ukraine bis zu ihrem Nato-Beitritt schützt. Der Zweck der Allianz ist es nicht, die Sicherheit und Verteidigung eines Nicht-Nato-Staates zu übernehmen, indem dieser zur Mitgliedschaft eingeladen wird, beziehungsweise sich dazu bereits im Vorfeld einer Mitgliedschaft zu verpflichten. Die Allianz ist ein Bündnis gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Deshalb kann nur ein Land, das zur Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten ebenso beiträgt wie diese zu der des Beitrittskandidaten, Mitglied werden. Bundeskanzler Scholz hat kürzlich dazu gesagt: «Allen ist klar, dass das in absehbarer Zeit nicht ansteht. Auch weil zu den Kriterien der Nato eine ganze Reihe von Bedingungen gehören, die die Ukraine aktuell gar nicht erfüllen kann.» Damit bezieht er sich anscheinend auf die innerstaatlichen Verhältnisse. Zu berücksichtigen sind aber auch die aussen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und die sich aus einer Mitgliedschaft in der Allianz ergebenden strategischen Konsequenzen für die heutigen Mitgliedstaaten und die europäische Sicherheitsarchitektur als Ganzes. Hinzu kommt, dass es, wie der Nato-Generalsekretär mitteilte, in der Allianz keinen Konsens für eine Aufnahme gibt. Denn grundsätzlich kann ein europäischer Staat nur dann Mitglied der Allianz werden, wenn er durch einen einstimmigen Beschluss dazu eingeladen wird. Vorausgesetzt er ist in der Lage, zur Sicherheit aller Mitgliedstaaten im Vertragsgebiet beizutragen und die Grundsätze des Nordatlantikvertrages zu fördern. Dazu gehören insbesondere eine funktionierende Demokratie sowie die Freiheit der Person und die Herrschaft des Rechts zu gewährleisten. Russland wird das Ziel nicht aufgeben, strategische Vorteile des geopolitischen Rivalen USA durch eine Allianz-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern. Dieser geostrategische Antagonismus kann durch den Ukrainekrieg nicht aufgehoben werden. Er kann nur durch eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung gelöst werden, in der die Ukraine und Russland ihren Platz haben und die Rivalität der grossen Mächte USA und Russ­land die Selbstbehauptung Europas nicht gefährdet.

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

Artikel veröffentlicht am 15.6 2023

Ukraine: Der Krieg dauert an, die Opferzahlen steigen, Waffen werden geliefert und kein Ende ist in Sicht

Es braucht dringend eine Verhandlungslösung

von Thomas Kaiser

«Unsere Waffen helfen, Menschenleben zu retten!»¹ Diesen Satz formulierte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock am 22. September 2022 in einem Interview mit der «FAZ», um die Öffentlichkeit auf die Lieferung von Leopard 2 – Kampfpanzern in die Ukraine einzustimmen und dies als einen Akt der Humanität zu verkaufen. Der zu erwartende Aufschrei nach dieser Aussage blieb aus. Die Medien unterstützten sie, indem sie immer wieder schwere Waffen für die Ukraine forderten. Zwar hat die Aussage Baerbocks mit Menschlichkeit nicht das geringste zu tun. Gemäss ihrer Aussage braucht man Waffen und keine Samariter, um «Menschenleben zu retten.» So ganz neu ist das allerdings nicht, aber was Frau Baerbock vor einigen Monaten vom Stapel liess, kann ihr zumindest einen Eintrag in die Geschichtsbücher bescheren, als erste Aussenministerin Deutschlands Waffen zu Lebensrettern gemacht zu haben. Doch diese Absurdität ist bis zu diesem Zeitpunkt noch keinem in den Sinn gekommen.

Töten von Menschen als «Akt der Humanität»

Szenenwechsel: Wir schreiben das Jahr 1999. Deutschland beteiligte sich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg an einem Angriffskrieg, und zwar gegen die Bundesrepublik Serbien – ein ungeheuerlicher Vorgang in mehrfacher Hinsicht: erstens, weil es ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war und damit ein eklatanter Verstoss gegen die Uno-Charta und gegen internationales Recht; zweitens, weil das «heilige» Gebot Deutschlands «nie wieder Krieg von deutschem Boden aus» mit Füssen getreten und damit ein Tabubruch vollzogen wurde, der im Nachgang des Krieges deutsche Soldaten nach Afghanistan und andere Länder führte; drittens, weil Deutschland ein Land angriff, das es im Zweiten Weltkrieg besetzt, die Menschen grausam behandelt und in Vergeltungsaktionen gegen jugoslawische Partisanen Tausende von Zivilisten gequält und ermordet hatte. Aber für Deutschland war der Krieg gegen Serbien die Feuertaufe im doppelten Sinne des Wortes: an der Seite seines «engsten Verbündeten», den USA, Krieg zu führen und in die Reihe der kriegführenden Mächte aufzusteigen. In der Folge der Balkankriege strengte man Kriegsverbrecherprozesse zumeist gegen serbische Offiziere an – die Völkerrechtsbrecher von 1999 liess man gewähren, ohne sie nur ansatzweise zur Verantwortung zu ziehen.

Jeder vierte Sowjetbürger gefallen

Dass Baerbock «lebensrettende Waffen» im Krieg gegen Russland fordert, hat erschreckende historische Parallelen. Auch hier geht Deutschland indirekt gegen ein Land vor, das in der Vergangenheit zweimal Kriegsgegner war. Besonders die Operation Barbarossa, wie der Überfall auf die Sowjetunion von Hitler tituliert wurde, betraf neben der Ukraine auch Russland, die grösste sozialistische Sowjetrepublik. Auch hier wird vom Westen die Geschichte völlig ausgeblendet, um sich blind und unreflektiert gegen Russland zu positionieren. Jeder vierte Sowjetbürger ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Es gab sozusagen keine Familie, die nicht mindestens einen Toten zu beklagen hatte.

Während in der aktuellen Auseinandersetzung die Waffen zu «Lebensrettern» werden, sprach man beim Angriff auf Serbien von einer «humanitären Intervention» – ein unglaublicher Begriff, der seit diesem Krieg salonfähig ist, zumindest für Kriege, die der Westen angezettelt hat. Die Wörter «Militär» oder «Krieg» wurden tunlichst gemieden.

Gerhard Schröder, der sich inzwischen zur Völkerrechtswidrigkeit seines Handelns bekannte, hatte sich am Tag des Kriegsbeginns im Ersten Deutschen Fernsehen an die deutsche Bevölkerung gewandt mit folgenden Worten: «Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.»² Städte zu bombardieren und Menschen zu töten wird zum «Akt der Humanität», wie das Liefern von Waffen.

Verhetzt und manipuliert

Wer nicht mehr weiss, was es heisst, im Krieg an der Front zu sein, wie zum Beispiel die deutsche Aussenministerin oder andere Kriegstreiber, deren es in Europa nicht wenige gibt, sei das Buch «Krieg dem Kriege» von Ernst Friedrich³ empfohlen. Hier sind die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf Körper und Psyche fotografisch dokumentiert. Nachdem man die ersten Bilder gesehen hat, überkommt einen das nackte Grauen, und man wird aufgrund der fürchterlichen Eindrücke von einem unangenehmen Schamgefühl beschlichen, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie mit gezielter Propaganda manipuliert, verhetzt und entmenschlicht werden. Man glaubt es nicht und kann darüber nur weinen. Das wird mit Waffen angerichtet, die angeblich Leben retten. 

Der Schriftsteller und engagierte Pazifist, Ernst Toller, war, getrieben von Propaganda und Kriegshysterie, zunächst freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen. Nach den Schrecken, die er dort erlebt hatte, änderte er radikal seine Einstellung. In seiner Autobiographie, «Eine Jugend in Deutschland», beschreibt er die Brutalitäten auf dem Schlachtfeld, die ihn zum überzeugten Kriegsgegner werden liessen. 

«Eines Nachts hören wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet, dann ist es still. Wird einer zu Tode getroffen sein, denken wir. Nach einer Stunde kommen die Schreie wieder. Nun hört es nicht mehr auf. Diese Nacht nicht. Die nächste Nacht nicht. Nackt und wortlos wimmert der Schrei, wir wissen nicht, dringt er aus der Kehle eines Deutschen oder eines Franzosen. Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an unsere Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unsern Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.

Wir haben erfahren, wer schreit, einer der Unsern, er hängt im Drahtverhau, niemand kann ihn retten, zwei haben's versucht, sie wurden erschossen, irgendeiner Mutter Sohn wehrt sich verzweifelt gegen seinen Tod, zum Teufel, er macht so viel Aufhebens davon, wir werden verrückt, wenn er noch lange schreit. Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.»⁴ 

Worte, die einem durch Mark und Bein gehen, wenn man nur ein bisschen Mitgefühl hat.

«Ein toter Mensch»

«Ich stehe im Graben, mit dem Pickel schürfe ich die Erde. Die stählerne Spitze bleibt hängen, ich zerre und ziehe sie mit einem Ruck heraus. An ihr hängt ein schleimiger Knoten, und wie ich mich beuge, sehe ich, es ist menschliches Gedärm. Ein toter Mensch ist hier begraben. Ein – toter – Mensch.

Warum halte ich inne? Warum zwingen diese Worte zum Verweilen, warum pressen sie mein Hirn mit der Gewalt eines Schraubstocks, warum schnüren sie mir die Kehle zu und das Herz ab? Drei Worte, wie irgendwelche drei andern.

Ein toter Mensch – ich will endlich diese drei Worte vergessen, was ist nur an diesen Worten, warum übermächtigen und überwältigen sie mich?

Ein – toter – Mensch –

Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.

Ein toter Mensch.

Nicht: ein toter Franzose.

Nicht: ein toter Deutscher.

Ein toter Mensch.»⁵

Der einzige Sohn für den «Endsieg» gefallen

Stehen wir heute Ukrainekrieg nicht vor der gleichen Tragödie? Müssen wir nicht «Franzose» durch Ukrainer und «Deutscher» durch Russe ersetzen? Befinden wir uns heute – über 100 Jahre später –  nicht am gleichen Punkt: Europäer stehen sich im Krieg gegenüber,  und Verhandlungslö]ungen sind in weite Ferne verbannt worden, weil alle auf die «Grossoffensive» warten und an den «Endsieg» glauben. Wieviel Elend mit dem Krieg verbunden ist, weiss unsere Generation möglicherweise noch von den Eltern und Grosseltern oder aus Büchern, wenn sie denn gelesen werden: 

«Am Wegrand sitzt ein Soldat, ein Knabe, dem die graue Uniform um die mageren Glieder schlottert, als gehöre sie nicht ihm, sondern seinem Vater, und er trage sie zu kindlichem Spiel. Der Knabe weint, er schlägt die Hände vors Gesicht, er presst die Nägel in die Handwurzeln. Die Arme lösen sich, sinken kraftlos zu Boden, der Körper sackt zusammen.

‹Junge›, sage ich.

Der Knabe strafft sich blicklos.

‹Junge›, sage ich noch einmal.

Der Knabe sitzt starr da, aus den Augen rinnen willenlos die Tränen.

Ich berühre seine Schultern, er weist mit müder Bewegung des Kopfes nach rückwärts.

Dort liegt ein zweiter Knabe, eine Mütze bedeckt sein Gesicht. Ich hebe die Mütze auf. Blonde Strähnen fallen wirr auf die gewölbte Stirn, die Augen im schmalen, kantigen Gesicht sind geschlossen, der Mund, das Kinn ... aber das ist blutiger Brei, der Knabe ist tot.

‹Er war mein Freund›, sagt der erste, ‹wir gingen in eine Schule, in eine Klasse. Er war ein Jahr jünger als ich, noch nicht siebzehn. Ich meldete mich freiwillig, er durfte nicht, seine Mutter wollte es nicht erlauben, er war der einzige Sohn. Er schämte sich, wir bettelten beide, endlich gab seine Mutter nach. Vor einer Woche kamen wir ins Feld, jetzt ist er tot. Was soll ich seiner Mutter schreiben?›»

Das geschieht mit Waffen, die «Menschenleben retten» sollen, wie Frau Baerbock vom bequemen Stuhl aus, täglich hergerichtet von ihrer Visagistin, in schicken Kleidern, massgeschneidert und figurbetont, uns glauben machen will.

Waffenlieferungen aus der Schweiz?

Doch nicht nur Annalena Baerbock, auch andere Politiker und Politikerinnen wollen Waffen schicken. Selbst in der Schweiz sind, unter völligem Verrat der Schweizer Neutralität, immer mehr solcher Stimmen zu hören. Wo ist vor allem Europa im 21. Jahrhundert gelandet? Wo ist die Humanität geblieben? Warum werden nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, Verhandlungen anzustreben und den Krieg sofort zu beenden? China machte einen gangbaren Vorschlag, wie man einen Frieden herbeiführen könnte. Noch werden weiter Waffen geliefert «die Menschenleben retten», während die Zahl der Toten ständig steigt.  

Eine aktuelle Studie untersucht die Opfer der Kriege, die von den USA seit 9/11 vom Zaune gebrochen oder mit deren Unterstützung geführt wurden.⁶ Die Zahlen sind exorbitant und gehen in die Millionen. Diesen Menschen, die von den Kriegen betroffen waren, sollte Baerbock erzählen, dass Waffen Menschleben retten. Man kann sich vorstellen, wie diese reagieren würden, anders als die wohlstandsverwöhnten Europäer, die unkommentiert solche Statements zulassen. 

Europäische Panzer als Grab

Am Sonntag, 4. Juni, begann die Ukraine mit der lang erwarteten Grossoffensive. Bereits am ersten Tag starben viele ukrainische Soldaten, und mehrere Panzer wurden zerstört. Die meisten Journalisten, die über den Ukrainekrieg berichten, lassen keine Gelegenheit aus, die antirussische Stimmung anzuheizen, wobei sie sich bei ihren Berichten immer absichern mit Floskeln wie «es scheint», «man sagt», «man hört», «es ist zu vermuten», «man kann annehmen». Damit sagen sie eigentlich nie, wie es wirklich ist, weil sie es wahrscheinlich selbst nicht wissen. Aber sie setzten etwas in die Welt, ohne dass sie es wohl überprüft haben, aber es passt ins gut-böse Schema und dient der weiteren Stimmungsmache. Trotz aller Euphemismen müssen sie seit dem Beginn der ukrainischen Offensive eingestehen, wenn auch zögerlich, dass die Zahl der Toten und die Zerstörung von militärischem Material auf der ukrainischen Seite sehr hoch sind, und stellen in Aussicht, es könnte eine blutige Auseinandersetzung werden.⁷

Wie das Schweizer Radio oder Fernsehen und andere Medien im In- und Ausland berichtet die «NZZ» ebenfalls von Misserfolgen der ukrainischen Armee: Fotos bestätigen laut der Analyse-Plattform Oryx, dass die Ukrainer mindestens vier Leopard 2-Kampfpanzer und vier Bradley-Schützenpanzer verloren haben. Sie waren Teil der westlichen Waffenlieferungen der vergangenen Monate, mit denen neue Kampfbrigaden aufgebaut wurden.⁸ In jedem Panzer sitzen junge Menschen im Glauben, sie hätten jetzt die «Wunderwaffe» aus dem Westen, mit der sie die Russen besiegen könnten, und finden darin ihr Grab. Das sind Baerbocks Waffen, die «helfen, Menschenleben zu retten». 

Sicher wird es auch auf russischer Seite Opfer gegeben haben, die ebenfalls durch Waffen umkamen – Waffen, die helfen, «Menschenleben zu retten». Auf beiden Seiten sterben Menschen durch Waffen. Diese Erkenntnis brachte Ernst Toller zum Umdenken. Alle, die sich für weitere Waffenlieferungen stark machen, wohl kaum:

«Der Krieg liess mich zum Kriegsgegner werden, ich hatte erkannt, dass der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande unseres Jahrhunderts ist. Über die Frage, wer den Krieg verschuldet hat, machte ich mir keine Gedanken …Wir sind betrogen, unser Einsatz war umsonst, bei dieser Erkenntnis stürzt mir eine Welt zusammen. Ich war gläubig wie alle Menschen in Deutschland, gläubig wie die namenlosen Massen des Volkes.»⁹

Trotz aller Unbill darf die Hoffnung nicht verloren gehen. Europa ist nicht die einzige Region in dieser Welt. Andere Staaten in anderen Regionen machen sich ernsthafte Gedanken, wie der Krieg beendet werden könnte, bevor junge Menschen sinnlos ihr Leben opfern. Die Wandlung Ernst Tollers, die Grausamkeiten des Krieges in einen Einsatz für den Frieden zu wandeln und sich nicht mehr manipulieren zu lassen, steht jedem Menschen offen. Der Aufklärer Immanuel Kant formulierte es so: «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» 

¹ https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/interview-aussenministerin-baerbock-faz/2553542
² https://programm.ard.de/?sendung=281116097670119
³ Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. Berlin 1980
⁴ Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Reinbek 1978. S. 51
⁵ ebenda S.52
https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2023/Indirect%20Deaths%20Executive%20Summary-2.pdf
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/kachowka-damm-wasserpegel-des-stausees-sinkt?partId=12401890
⁸ «NZZ» vom 10. 06. 2023
⁹ Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. S. 62

Artikel veröffentlicht am 15.6 2023

«Die Länder des sogenannten globalen Südens versuchen, den Konflikt in der Ukraine einzudämmen»

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)
Andrej Hunko, MdB, DIE LINKE (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Es gab in Reykjavik am 16. und 17. Mai einen Europarat-Gipfel auf höchster Ebene. Was für eine Entwicklung lässt sich dort erkennen?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Der vierte Gipfel der Staats- und Regierungschefs des Europarats nach 74 Jahren setzt neue Akzente. Ein Gipfel auf dieser Ebene wurde bislang nur bei einer fundamentalen Neuausrichtung abgehalten. Das war zum Beispiel nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Systems im Osten. Der Europarat öffnete sich darauf für die postsowjetischen Länder. Jetzt wurde der 4.  Gipfel abgehalten, bei dem über 30 Staaten auf Ebene der Staats-und Regierungschefs vertreten waren.

Das ist eine beachtliche Zahl.

Ja, das ist eine hohe Anzahl, vor allem weil der Europarat in Europa ein Schattendasein führt. In der EU treffen sich ständig die Staat- und Regierungschefs. Aber es ist auch ein qualitatives Signal des Abrückens von den «westlichen Werten» der friedlichen Gestaltung. Der Europarat soll nun in die politische Ausrichtung auf Konfrontationspolitik mit Russland und China eingebunden werden. Dazu kommt der Vorschlag von Macron mit der Bildung einer europäischen politischen Gemeinschaft. Hier sollen sich alle 6 Monate praktisch die gleichen Personen, die auch im Europarat sitzen, treffen, aber informell, ausserhalb der Konventionen und ausserhalb der parlamentarischen Kontrolle. Das  letzte Treffen fand gerade in Moldawien statt. Der Kosovo ist auch dabei. Im Europarat ist er bislang nicht als vollwertiges Mitglied anerkannt.

Was kam bei dem Gipfel in Reykjavik heraus?

Es gibt eine Erklärung von Reykjavik, bei der verschiedene Punkte durchaus ihre Berechtigung haben wie zum Beispiel der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention, der immer noch nicht vollzogen ist, oder die Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angesichts der Nicht-Umsetzung verschiedener Urteile, etwa in der Türkei. Auch die Erweiterung von Grundrechten hin zu einem Recht auf eine gesunde Umwelt. Ebenso wurde die Entwicklung einer Konvention zum Umgang mit künstlicher Intelligenz diskutiert, was meines Erachtens dringend geboten ist. Für solche Fragen ist der Europarat prädestiniert. All das wurde zwar in der Abschlusserklärung erwähnt, spielte jedoch dort nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stand die Errichtung eines Registers für Kriegsverbrechen in der Ukraine, um später die Grundlage zu haben, Russland vor ein internationales Tribunal ziehen zu können. Dazu kommt noch die explizite Forderung nach der Einrichtung eines solchen Tribunals. Am Rande haben sich die Staats- und Regierungschefs auch über die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine beraten.

Was hat das mit den Grundsätzen des Europarats zu tun?

Es hat nichts damit zu tun, deshalb haben sie die Diskussion in einem Side-Event geführt, sie haben die Konferenz dazu benutzt, die verhandlungsverweigernde Linie der Nato und der EU-Kommission auch im Europarat durchzusetzen. In den Medien war nur noch zu lesen, dass der Europarat ein Register für die russischen Kriegsverbrechen und ein Tribunal fordere. Alles andere war keine Zeile wert. Die vorhin erwähnten anderen Aspekte tauchten überhaupt nicht mehr auf.

Wenn ich das so höre, muss man doch konstatieren, dass der Europarat seine ursprünglichen Ziele völlig vernachlässigt.

Ja, die eigentlichen Grundlagen, Demokratie, Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, werden geopolitisch überlagert. Auch die Anliegen, die im Vorfeld diskutiert wurden, zeigen genau dieses Bild. Wenn man die Abschlusserklärung durchliest, stehen durchaus vernünftige Sachen darin, aber alles ist dominiert von der Konfrontationspolitik gegenüber Russ­land. Nirgendwo ein Gedanke, wie der Krieg beendet werden kann. Schon vor dem Ausschluss Russ­lands aus dem Europarat und nach dem Beginn des Ukrainekriegs hat es eine Verschiebung in Richtung konfrontativer Geopolitik gegeben, die jetzt in der Abschlusserklärung ins Auge springt.

In welchem Sinne war die Verschiebung?

Die Verschiebung geht in Richtung Nato. Es gilt nur noch die rein westliche Sichtweise. Ich war auch in Reykjavik. Es gab dort auch eine parlamentarische Dimension. Dort hat das «Standing Komitee» der parlamentarischen Versammlung ebenfalls getagt. Das ist ein Leitungsgremium, in dem ich als Vertreter der Fraktion anwesend war. In meinem Beitrag habe ich darauf hingewiesen, dass sich der Europarat in seiner Wahrnehmung von Menschenrechten und auch des Krieges immer weiter vom Rest der Welt entfernt. Wie der Rest der Welt etwa die ausufernde Sanktionspolitik wahrnimmt, lässt sich zum Beispiel im Uno-Menschenrechtsrat erkennen, wo eine grosse Mehrheit der Mitgliedsstaaten einer Resolution, die die menschenrechtlichen Auswirkungen von einseitigen Sanktionen als unrechtmässige Zwangsmassnahmen verurteilt. Nur die Nato-Staaten und ihre engeren Verbündeten hatten dagegen gestimmt. Auf diese Entkoppelung habe ich hingewiesen, dass es wünschenswert wäre, wenigstens eine Kenntnisnahme der politischen Entscheidung des Uno-Menschenrechtsrats und damit der tatsächlichen internationalen Verhältnisse auch ausserhalb Europas zu leisten. Eine engere Kommunikation des Europarats mit dem Uno-Menschenrechtsrat könnte einen Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung leisten.

Diese besteht nicht?

Nein. Die gibt es nicht. Aber wenn man die Institution genau betrachtet, ist der Menschenrechtsrat auf der Ebene der Uno eigentlich das Pendent zum Europarat. Genf ist auch nicht so weit von Strasbourg entfernt. Es gibt zwar eine abstrakte Kommunikation mit der Uno in New York, aber nicht mit dem Menschenrechtsrat. Eine weitere Option wäre ein Kontakt mit dem globalen Süden, der die ­Dinge anders sieht. Mein Vorschlag in Rejkjavik war, dass man Lula da Silva in die Parlamentarische Versammlung des Europarats einladen könnte, um den berechtigten Interessen der mit den BRICS assoziierten Staaten eine öffentliche Erörterung und somit Anerkennung zuzugestehen. Aber im Europarat gibt es im Moment nur noch ein Sich-Heissreden und sprachliches Eskalieren gegenüber Russland und zunehmend gegenüber China. Es ist wie ein geschlossener Block, bei dem die Kernkompetenzen des Europarats unter die Räder kommen.

Es wird mir immer bewusster, dass die ganzen illegalen Sanktionen und Beschlagnahmungen wie zum Beispiel des venezolanischen Goldes durch die britische Bank ihre Auswirkungen haben werden. 2022 hat die Beschlagnahmung der Devisenreserven Russlands in Höhe von 300 Mrd. $ einen grundlegenden Vertrauensbruch in die Verlässlichkeit des Westens in ihren internationalen Beziehungen ausgelöst, der kaum noch heilbar ist. Auch wenn jetzt in der EU russische Gelder beschlagnahmt werden, beobachtet das der Rest der Welt mit Argusaugen und zieht seine Konsequenzen daraus. Das Vertrauen in die Rechtsbindung der westlichen Akteure sinkt rapide und beschleunigt diesen Abkoppelungsprozess, der bereits zu einem so gigantischen Ausstieg aus der Leitwährung Dollar geführt hat, dass nun im Weltmassstab das BIP der G-7 Staaten nur noch bei 28% liegt, also bereits deutlich unter dem BIP der mit BRICS assoziierten Staaten. Daher der Vorschlag, dass der Europarat in Kommunikation geht mit Prozessen, die sich ausserhalb der «westlichen» Blase vollziehen. Diese Position werde ich verstärkt in die Diskussion in Strassburg einbringen, sonst beschränkt sich das Ganze dort nur auf «Russlandbashing», ohne alternative Positionen, die etwa die fatalen Folgen der westlichen Massnahmen zur Stützung des Ukrainekriegs auch für die europäische Wirtschaft formuliert. Dann wäre es wenigsten eine Debatte. Aber so wie das jetzt abläuft, ist es verheerend.

Es wird völlig substanzlos sein und nicht faktenbasiert.

Ja, natürlich. Es ist einfach schwarz-weiss. Es ist ohne eine Gegenposition, die das anders oder differenzierter sehen würde. Der Direktor des «UN Sustainable Development Solutions Network», Jeffrey Sachs etwa, hat vor wenigen Tagen einen ausgezeichneten Artikel veröffentlicht, in dem er klar festhält, dass der Krieg zu verurteilen sei, aber nicht unprovoziert gewesen sei. Es gebe eine lange Tradition, die den Krieg herbeiprovoziert habe. Das müsse alles auf den Tisch. Diese Betrachtungsweise wird aus der offiziellen Sichtweise ausgegrenzt. Das geschieht auf EU-Ebene, im Europarat, aber auch im Bundestag und in den deutschen Medien. 

Die Krise um die Ukraine hat eine lange Vorgeschichte …

Ja, das beginnt bereits in den 90er Jahren, als die USA die Nato-Osterweiterung ins Auge gefasst hatten. Zunächst die mündlichen Versprechen, das nicht zu tun, und dennoch hat man von Seiten der USA unvermindert darauf hingearbeitet. Auch die Unterstützung der rechtsradikalen Kräfte durch die USA im Westen der Ukraine, sie militärisch auszubilden etc., auf die man später zurückgreifen konnte, gehört ins gleiche Kapitel. Nato-General Stoltenberg gab ja im Frühjahr zu, dass der Ukrainekrieg seit 2014 läuft. Jeffrey Sachs ist im Moment einer der wichtigsten Stimmen. Es ist jemand, den man nicht so richtig ins Abseits stellen kann. Alle anderen, die eine ähnliche Position haben, werden persönlich angegriffen, wie das im Moment in Deutschland extrem geschieht. Bei der grossen Friedens-Kundgebung in Berlin mit Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer wurde eine Video-Botschaft von Jeffrey Sachs eingespielt, in der er seine Position zum Ukrainekrieg klar darlegte.

Sie haben vorhin erwähnt, dass es in Deutschland kaum mehr möglich ist, eine andere Position zu vertreten, als die offiziell durch die Medien kolportierte. Wie sieht das konkret aus?

Man kann sagen, dass alle, die einen anderen Blick auf den Krieg haben und dabei sind, Einfluss zu gewinnen, durch gezielte Medienkampagnen desavouiert und mittlerweile sogar strafrechtlich belangt werden. Der neue Höhepunkt in dieser Entwicklung ist die strafrechtliche Ermittlung gegen den Kopf von Pink Floyd, Roger Waters. Er hat Konzerte in Berlin und anderen deutschen Städten gegeben. Man versuchte diese Konzerte zu verbieten. Das haben Gerichte zurückgewiesen. In Berlin machte er das, was er seit vielen Jahren macht, auch in dem Film «The Wall»: Er persifliert einen faschistischen Diktator. Auf dieser Grundlage hat jetzt die Polizei wegen Verstoss gegen Paragraph 130, Volksverhetzung und Verherrlichung des Nationalsozialismus, strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Wenn die US-Behörden 1940 Charly Chaplins Film «Der grosse Diktator» als Verherrlichung des Nazi-Regimes strafrechtlich verfolgt hätten, wäre dieses ein vergleichbares Vorgehen gewesen.

Das glaubt man ja kaum …

Das ist leider kein schlechter Witz, sondern bitterer Ernst.  Auch wenn das Ganze, so hoffe ich, im Sande verläuft, ist es eine neue Qualität. Roger Waters macht das seit 40 Jahren und bei den Bühnenshows spielt er den Diktator und aus dem Kontext ist klar zu entnehmen, dass es sich um eine Persiflage handelt. Bisher hat es deswegen noch nie ein Theater gegeben. Er ist auch in Israel aufgetreten, was nie zu Problemen geführt hat. Was wir hier beobachten können, ist, dass gezielte Kampagnen gegen diejenigen geführt werden, die dem kriegerischen Wortgeklingel gegen eine Verhandlungslösung im Ukrainekrieg öffentlich widersprechen. Flankiert wird das von den Medien, die damit zu Akteuren der Staatsdoktrin werden und ihren Auftrag als «vierte Gewalt» nicht mehr wahrnehmen. Es wird eine Stimmung aufgebaut, die zum Verbot von Konzerten führen soll oder zur Absage von Veranstaltungen wie bei dem Schweizer Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser, dem keinerlei Vergehen nachgewiesen werden konnte. Und am Schluss versucht man, das Strafrecht zu bemühen. Das Ganze geschieht systematisch, und es ist verheerend, wie weit dieser Demokratieverlust in die politischen Milieus hineinreicht, wie begierig Bürgermeister, Abgeordnete, auch linke, das aufgreifen. Sie sehen nicht, was für eine Kampagne läuft und in wessen Interesse sie gesteuert wird, sondern man macht dann auch noch mit. Das ist so verheerend.

Die Leute meinen doch auch, sie seien auf der richtigen Seite.

Es wird eine derartige moralinsaure Gemengelage konstruiert, dass die Menschen zu den Guten gehören wollen, was die gnadenlose Verurteilung der vermeintlich Schlechten einschliesst. Diese Spaltungspolitik funktioniert, und viele Politiker machen quer durch alle Parteien mit. Dieser entpolitisierende Zugzwang wird aber nicht als die systematische Verschleierung der eigentlich relevanten Interessenkonflikte wahrgenommen. Man sieht richtig, wie bestimmte Kräfte das kampagnenartig steuern und Journalisten und Politiker dem hinterherlaufen. Das ist schon sehr bedenklich. Es geht nicht mehr darum, unterschiedliche Auffassungen auszudiskutieren, so wie Demokratie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg definiert wurde. Sondern es gibt nur gute oder schlechte Menschen, und letztere werden stigmatisiert. Diejenigen, die sich während Corona nicht impfen lassen wollten, sind Egoisten. Wieder andere sind Putin-Trolle, die Kriegsverbrechen verharmlosen, oder sie sind Holocaust-Relativierer bzw. Nazi-Verharmloser. Dabei ist alles auf den Kopf gestellt. Tatsächlich findet in unseren Medien tagtäglich eine Naziverharmlosung statt. Russland wird gleichgesetzt mit dem NS-Regime. Der jetzige Krieg gleichgesetzt mit Hitlers Operation Barbarossa. Das ukrainische Aussenministerium hat einen Tweet veröffentlicht, auf dem man einen deutschen Leopard 2-Kampfpanzer sieht mit einer Fahne der ukrainischen Nazi-Kollaborateure der 40er Jahre, die heute die Grundlage der ukrainischen Rechtsextremen bilden. Ich habe zu diesem Vorgang eine Frage an den deutschen Verteidigungsminister gerichtet, auf dessen schriftlich Antwort warte ich noch. Man fragt sich wirklich, ob noch Grenzen gezogen werden bei der Falschdarstellung der eigentlichen Verhältnisse. Vieles, was mal historisch als gesichert galt, verschwimmt. Geschichte wird umgedeutet.

 Wie könnte sich das Blatt wenden. Sehen Sie irgendwo eine Gegenbewegung?

Ja, die sehe ich, aber nicht primär in Europa. Die Initiativen von China, von Lula da Silva und Obrador, von sechs afrikanischen Staatschefs oder Indonesiens, die jetzt auch nochmal einen Versuch gestartet haben, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Aus ihrer wachsenden geopolitischen Bedeutung heraus versuchen die Länder des sogenannten globalen Südens, Einfluss zu nehmen. Sie versuchen, den Konflikt in der Ukraine einzudämmen, da sie die Triebkräfte für die kriegerischen Entwicklungen auch auf der Seite der westlichen Staaten, inklusive Südkoreas, Japans, Singapurs etc. verorten, aber ganz besonders auf der als imperialistisch wahrgenommenen USA. Es geht inzwischen um einen als erbarmungslos wahrgenommen Selbsterhalt der westlichen Hemisphäre, der bereits zu einem wirtschafts- und finanzpolitischen Entkoppelungsprozess des globalen Südens geführt hat. Wie weit der schon gediehen ist und dass «Entdollarisierung» nicht mehr nur eine erklärte Absicht ist, sieht man ja schon beispielsweise am Kränkeln des IWFs, der gegen die neue Finanzordnung nach dem gegenseitigen Win-Win-Prinzip mit seinen Zwangsprogrammen und Dauerverschuldungen nichts mehr auszurichten hat. Der grösste Teil der Welt hat erkannt, dass eine respektvolle, auf gegenseitige Finanz- und Wirtschaftshilfe ausgerichtete Weltwirtschaft durch eine neue Finanzordnung – ausgehend vom BRICS plus-Prozess mit derzeit rund 25 Anwärterländern – allen mehr Vor- als Nachteile bringt. Jetzt kommt es darauf an, dass auch massgebliche Kräfte in Europa sich mit dieser Bewegung koordinieren. 

Das scheint doch sehr wichtig, dass diese Länder sich auf gleicher Stufe neben die Europäer stellen und diese Vorschläge zur Beendigung des Krieges unterbreiten …

Das machen sie natürlich auch im eigenen Interesse. Gerade in China ist man sich bewusst, dass der Konflikt in der Ukraine die Blaupause für den Konflikt China-Taiwan bedeutet. Dieser wird seit langem, seit Obamas «Pivot to Asia», und seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine gerade ganz systematisch hochgezogen.  In vielen Teilen der Welt spürt man zudem die wirtschaftlichen Folgen des Krieges, zum Beispiel die beschränkten Lieferungen von Getreide, worunter die Länder auch leiden. Deswegen haben sie auch ein Interesse daran. Diese Länder nehmen den Wirtschaftskrieg gegen Russland als fatale Fehlentscheidung westlicher Staaten wahr, die das ausgelöst hat, zugunsten einer bedingungslosen Gefolgschaft der Selbsterhaltungsstrategie der US-Hegemonie.  Man muss die eigentlichen Beweggründe verstehen, warum alles bisher Gültige aufs Spiel gesetzt wird, statt dass Europa sich auf eine positive Zukunft in einer neuen, gleichberechtigten Weltwirtschaft an der Seite der Länder des Globalen Südens orientiert. Das scheinbar Absurde ist, dass die Europäer, insbesondere die Deutschen, auch darunter leiden. Die deutsche Rezession reisst nun auch die europäische Wirtschaft runter. Was sich langsam in Deutschland abzeichnet, ist ein dauerhafter wirtschaftlicher Niedergang, wenn die Firmen wegen der hohen Energiepreise und wegen des 400 Mrd. $ US-«IRA»-Subventionsprogramms abwandern. Aber trotzdem macht die deutsche Regierung immer weiter. «What ever it takes», «We stand with Ukraine, whatever it takes.» Also bis zum bitteren Ende. Diese Formulierung ist auch in der Erklärung von Reykjavik enthalten. Dagegen sollte sich dringend eine neue europäische Vernunft durchsetzen.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Artikel veröffentlicht am 15.6 2023

Hashim Thaçi und der Präzedenzfall Kosovo

Aus den Balkankriegen wären Lehren zu ziehen für den Konflikt in der Ukraine. Dabei träte die Doppelmoral des Westens zutage.

von Dr. phil. Helmut Scheben*

Am 24. März 1999 begann die Nato einen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien, das damals faktisch nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Der Krieg entbehrte eines Uno-Mandats und jeder Rechtsgrundlage. Er verstiess gegen die Uno-Charta, die Nato-Statuten und auch gegen nationale Verfassungen der angreifenden Staaten.

Begründet wurde er mit dem Argument, es gelte, auf dem Balkan die Menschenrechte durchzusetzen. Die Nato erklärte, sie müsse die Bevölkerung des Kosovo schützen. Die Serben hätten den Plan, die ethnisch-albanische Mehrheit der Region Kosovo zu vertreiben und zu vernichten.

Falsche Narrative verbreitet

Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping war einer der schrillsten Kriegsbefürworter. Seine Versuche, die Serben als Täter und alle anderen Konfliktparteien als Opfer darzustellen, führten zu grotesken Behauptungen: Die Serben «spielen mit den abgeschnittenen Köpfen Fussball, zerstückeln Leichen, schneiden den Schwangeren die Föten aus dem Leib und grillen sie».1

Schon während der Nato-Luftangriffe wurden Zweifel an den offiziellen westlichen Rechtfertigungen laut. Scharping hielt jedoch daran fest. Er publizierte noch im selben Jahr 1999 seine Kriegstagebücher unter dem Titel «Wir dürfen nicht wegsehen». Dort heisst es: «Erhalte von Joschka Fischer aus Geheimdienstquellen ein Papier, das die Vorbereitungen und die Durchführung der ‹Operation Hufeisen› der jugoslawischen Armee belegt (…) Endlich haben wir einen Beweis dafür, dass schon im Dezember 1998 eine systematische Säuberung und Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant war.»

Der Westdeutsche Rundfunk widerlegte Scharping mit dem Dokumentarfilm «Es begann mit einer Lüge». Der deutsche General Heinz Loquai und zahlreiche andere Experten bezeichneten die Operation Hufeisen später als Fälschung.

Wenn aus den Balkankriegen der neunziger Jahre eine Lehre zu ziehen wäre, dann wäre es die, dass es meist schwierig ist, in Kriegen Täter und Opfer eindeutig zu benennen. Propagandalügen grosser PR-Agenturen, False-Flag-Operationen, versteckte Interessen und Intrigen sind im Fall Kosovo erst viel später ans Licht gekommen.2

Verbrechen wurden auf dem Balkan von allen Konfliktparteien verübt. Der Glaube, ein Militärpakt wie die Nato sei berufen, ethnische Konflikte auf dieser Welt zu lösen, indem man die einen als «Opfer» und die andern als «Täter» definiert und Letztere dann bombardiert, ist ein Irrglaube. Er nützt vor allem der Rüstungsindustrie.

Umso erstaunlicher ist es, dass die grossen westlichen Medien letzte Woche die Anklage gegen den ehemaligen kosovarischen Präsidenten Hashim Thaçi nicht zum Anlass nahmen, Bezüge zum Krieg in der Ukraine herzustellen. Denn der Fall Kosovo zeigt in aller Deutlichkeit die kurze Halbwertszeit sogenannter historischer «Wahrheiten». 

Thaçi als strahlendes Vorbild verkauft – jetzt vor Gericht

Aber der Reihe nach. Hashim Thaçi war einer der Führer der paramilitärischen UÇK, die im Kosovo-Krieg mit Hilfe der Nato die gewaltsame Abtrennung der Region Kosovo von Serbien erkämpfte. Im Februar 2008 rief Thaçi die Unabhängigkeit aus, kurz vorher war er zum ersten Ministerpräsidenten der neu entstandenen Republik gewählt worden. 

Thaçi figurierte in den führenden westlichen Medien lange als strahlender Volksheld, seine UÇK wurde und wird im Kosovo bis heute verehrt als eine Guerrilla, die das Volk aus der serbischen Unterdrückung befreit hat. 2008 bezeichnete Joe Biden, damals Vizepräsident der USA, Herrn Thaçi als den «George Washington des Kosovo». Unsere Medien ergriffen Partei für die UÇK. Die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens zum Beispiel sendete 1998 und 1999 Beiträge, die man nicht anders nennen konnte als massive UÇK-Propaganda. 

Seit Anfang April steht Thaçi nun vor einem Kosovo-Sondertribunal in Den Haag. Ihm wird vorgeworfen, für etwa hundert Morde an Serben, Roma, Juden und Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten verantwortlich zu sein. Darunter nicht zuletzt Fememorde an Kosovo-Albanern, die als «Verräter» angesehen wurden. 

Vom Beginn des Nato-Angriffs bis zum serbischen Rückzug herrschte im Kosovo ein Zustand der Anarchie, der auch noch lange andauerte, als die Uno mit ihren Nato-Einheiten die Verwaltung des Protektorats Kosovo übernahm. Sowohl die serbische Polizei und Armee wie auch die UÇK führten ethnische Vertreibungen und «Säuberungen» durch. 

Für die Gräuel, die damals von serbischen Einheiten begangen wurden, sind serbische Offiziere und Politiker in Den Haag verurteilt worden. Für die Gräuel, die die UÇK begangen hat, muss sich UÇK-Führer Hashim Thaçi erst heute – ein Vierteljahrhundert später – vor Gericht verantworten. 1999 war er in der veröffentlichten Meinung der Freiheitsheld schlechthin. 

Freiheitskämpfer mit kurzem Verfallsdatum

Unsere Freiheitskämpfer haben oft ein kurzes Verfallsdatum. Von den gefeierten syrischen «Rebellen» erschienen viele ab 2014 plötzlich als üble Dschihadisten und Kopfabschneider des Islamischen Staates, und von den jugendlichen Turnschuhkämpfern des arabischen Frühlings, die 2011 auf allen TV-Kanälen den Sturz Gaddafis und den Ausbruch der Demokratie bejubelten, ist nichts übriggeblieben als ein Haufen Warlords in einem zerfallenen Staat.  

Am 24. März 1999 endete der Nachkriegsfrieden in Europa. Die Nato-Allianz, die drei Tage zuvor um Tschechien, Polen und Ungarn auf 19 Staaten erweitert worden war, griff den souveränen Staat Jugoslawien an. Es gab keine Kriegserklärung. Rund tausend Kampfjets bombardierten in 35 000 Lufteinsätzen 78 Tage lang nicht nur militärische Ziele, sondern auch Fabriken, Raffinerien, Wasserwerke, Brücken und Eisenbahnlinien. 850 000 Vertriebene, 6500 getötete Zivilisten und brennende serbische Dörfer waren das Resultat. Rathäuser, Kirchen, Klöster, Schulen, Spitäler, Universitäten lagen teilweise in Schutt und Asche. 

«Der Holocaust in dieser Region entstanden»

Das Ganze wurde von beteiligten Regierungen und grossen Medien als «Krieg für die Menschenrechte» dargestellt. Kein Propagandamittel war zu billig, kein Fake zu durchsichtig, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. US-Präsident Bill Clinton verteidigte den Angriff noch in der Nacht auf den 24. März mit einer infamen Geschichtsklitterung. In einer Erklärung auf CNN an das einheimische Publikum deutete er an, die Serben hätten nicht nur den Ersten Weltkrieg ausgelöst, sondern auch der Holocaust sei «in dieser Region» entstanden.

Dass es ganz im Gegenteil die kroatische Ustascha war, die im Bündnis mit der deutschen Wehrmacht Serben und Juden massakrierte, und dass es kein Volk auf dem Balkan gab, welches seine jüdischen Mitbürger dermassen gegen Hitler-Deutschland in Schutz genommen hatte wie die Serben: Wen interessierte das? Wer wollte etwas hören von der SS-Division Skanderbeg, die 1944 mehrheitlich aus Kosovo-Albanern bestand und auf Befehl Hitlers mit äusserster Brutalität gegen Serben, Juden und Roma vorging? Niemand wollte das hören. Westeuropa applaudierte 1999 der Nato und ihrem Krieg gegen Serbien.

Die Instrumentalisierung des Holocaust für die Kriegspropaganda griff um sich wie ein Lauffeuer. Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer schlug im Gleichschritt mit US-Kollegin Madeleine Albright die Kriegstrommel mit der Parole «Nie wieder Auschwitz». Verteidigungsminister Rudolf Scharping wusste angeblich von einem «Konzentrationslager» im Fussballstadion von Pristina, was sich später als freie Erfindung herausstellte.

«Bitterste Erfahrung»

Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Jugoslawien-Strafgerichts in Den Haag, widmete in einem autobiographischen Buch ein ganzes Kapitel dem Kosovo. Sie schildert dort ausführlich, wie sie bei ihrem monatelangen Versuch, den zahlreichen Informationen über Verbrechen der UÇK nachzugehen, gegen eine Wand lief. Es sei ihre bitterste Erfahrung in Den Haag gewesen: «Le indagini sull’ UÇK si sarebbo rivelate le piu frustranti tra quelle intraprese dal Tribunale per la Yugoslavia.»3 

Del Ponte sprach bei KFor-Offizieren und Chefs der Kosovo-Mission Unmik vor, klopfte in Washington und London an Türen, liess nichts unversucht, um UÇK-Kommandanten wie Hashim Thaçi vor Gericht zu bringen. Sie stiess auf eine Mauer von höflicher Zurückhaltung, Untätigkeit und Schweigen. Die Nato hatte alles Interesse daran, die Sache unter dem Deckel zu halten. Sie hatte der UÇK militärisch zum Sieg verholfen und hätte ihrem eigenen «humanitären Kriegseinsatz» die Legitimation entzogen, wenn sie zugeben hätte, dass das simple Täter-Opfer-Schema auf dem Balkan ein Fantasiegebilde war. 

Del Ponte berichtet von Informationen, dass die UÇK serbischen Gefangenen, bevor sie sie töteten, Organe entnahm, um diese zu verkaufen. Del Pontes detaillierte Schilderung der Vorgänge und der Indizien, die bei einer späteren Besichtigung des vermutlichen Tatortes gefunden wurden, deuten darauf hin, dass sie die Vorwürfe ernst nahm und für glaubwürdig hielt. 

Es kam nie zu einer entsprechenden Anklage, und der Sachverhalt wird auch im nun anlaufenden Prozess gegen Thaçi kaum zur Sprache kommen. Das hängt nicht zuletzt mit der Omertà zusammen, die die kosovarische Clan-Gesellschaft traditionell kennzeichnete. Es finden sich keine Zeugen, die gewillt sind, vor Gericht auszusagen.

Zeugen umgebracht

Der ehemalige UÇK-Kommandant Ramush Haradinaj, vom Dezember 2004 bis März 2005 Premierminister des Kosovo, wurde 2008 in Den Haag mangels Beweisen freigesprochen vom Vorwurf der Folter, des Mordes und der Entführung in zahlreichen Fällen. Denn von zehn Zeugen, die gegen ihn aussagen sollten, war zu diesem Zeitpunkt nur noch einer am Leben, und sie waren keines natürlichen Todes gestorben. Die Kosovo Force (KFor) der Uno hatte den Haradinaj-Clan als «the most powerful criminal organisation» der Region bezeichnet. Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) kam in geheimen Rapporten zu ähnlicher Einschätzung in Hinsicht auf die Verwicklung von Hashim Thaçi und Kumpanen in die organisierte Kriminalität auf dem Balkan.4 

1999 galt es unseren führenden Medien als erwiesen, dass die Nato Serbien angriff, weil Belgrad sich geweigert hatte, in Rambouillet einen Friedensvertrag zu unterschreiben, den Hashim Thaçi fernsehwirksam unterschrieben hatte, während die serbischen Stühle leer blieben. Dass man die Serben mit einem späten Zusatz im Kleingedruckten über den Tisch ziehen wollte, kam erst ans Licht, als man schon lange daran war, «die jugoslawische Führung mit massiver Feuerkraft zum Nachgeben zu zwingen», so die damalige Sprachregelung in unseren News. Der ominöse Zusatz sah eine faktische Übernahme Serbiens durch die Nato vor. Henry Kissinger, fürwahr kein Milosevic-Sympathisant, schrieb damals zur Abtrennung der Provinz Kosovo:

«Von Jugoslawien, einem souveränen Staat, verlangt man die Übergabe der Kontrolle und Souveränität über eine Provinz mit etlichen nationalen Heiligtümern an ausländisches Militär. Analog dazu könnte man die Amerikaner auffordern, fremde Truppen in Alamo einmarschieren zu lassen, um die Stadt an Mexiko zurückzugeben, weil das ethnische Gleichgewicht sich dort verschoben hat.»5 

Unabhängigkeitserklärung unter Missachtung der Verfassung

1991 erklärten Kroatien und Slowenien – unter Missachtung der jugoslawischen Verfassung – ihre Unabhängigkeit und schlugen die Warnungen vieler unabhängiger Beobachter in den Wind, dass dies unvermeidlich in den Krieg führen würde. Die westeuropäischen Industrieländer erwiesen sich als Kriegstreiber und beriefen sich darauf, dass die jugoslawischen Völker ein Recht auf Sezession hätten, was die Uno-Charta tatsächlich in Fällen schwerer Unterdrückung ethnischer Gruppen zubilligt. Es ging in Wirklichkeit wohl weniger um Völkerrecht und Menschenrechte als um das Interesse am Balkan als einem grossen zukünftigen Markt. Es ging um das Interesse am freien Verkehr von Waren, Kapital und Arbeitskräften. 

Das schwer zu Begreifende an dieser Geschichte ist, dass die Nato-Staaten, die sich gerne als «Wertegemeinschaft» darstellen, heute in Abrede stellen, dass die russischsprachige Minderheit in der Ukraine dasselbe Recht auf Sezession beanspruchen kann, welches dem Kosovo zugebilligt wurde. Eine Unredlichkeit tritt zutage, wenn grosse westliche Medien den Krieg im Februar 2022 beginnen lassen und die Vorgeschichte des Konfliktes ignorieren. Schon die übliche Sprachregelung, «Putin hat die Ukraine angegriffen» erfasst nur die halbe Wahrheit, denn es gibt nicht «die Ukraine», sondern spätestens seit 2014 zwei Ukrainen, die sich bekämpfen. 2014 leisteten auf der Krim und in den Bezirken Luhansk und Donezk Hunderttausende Menschen Widerstand gegen eine Regierung in Kiew, die durch einen Umsturz an die Macht kam, der vom Westen unterstützt wurde. 

Wenn es nach der Logik ginge, die im Kosovo galt, dann müsste die Nato Kiew bombardieren. Aber Krieg löst – wie man heute im Kosovo sieht – die Probleme nicht. Sowohl im Kosovo als auch in der Ukraine hätte Krieg vermieden werden können, wenn über Autonomie-Befugnisse oder eventuelle Grenzänderungen in einem verfassungsgemässen Verhandlungsprozess entschieden worden wäre. 

In Erich Kästners Gedicht «Alter Mann geht vorüber» heisst es: «Die nach uns kamen, hatten schnell vergessen. Die nach uns kamen, hatten nichts gelernt. Sie hatten Krieg. Sie sahen, wie er war. Sie litten Not und sah’n, wie sie entstand. Die grossen Lügen wurden offenbar. Die grossen Lügen werden nie erkannt.»

Kästner publizierte diese Verse zweimal: erst 1933 nach dem Ersten Weltkrieg und dann 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg.

1 Le Monde Diplomatique: Das Märchen vom Plan Hufeisen. April 2019
2 vgl. Jörg Becker u. Mira Beham: Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. 2008
3 La Caccia: Io e i criminali di guerra. 2008. S. 291
4 Jürgen Roth, in: Weltwoche 43/2005
Welt am Sonntag, 28. Februar 1999

* Helmut Scheben studierte Romanistik. 1980 promovierte er zum Dr. phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagenturreporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter beim Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre bei der Tagesschau.

Quelle: www.infosperber.ch/politik/welt/hashim-thaci-und-der-praezedenzfall-kosovo/

Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

Artikel veröffentlicht am 18.6.2023

Der Fall Credit Suisse

von Reinhard Koradi

Ständerat und Nationalrat haben beschlossen, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen, um die Not-Übernahme der Credit Suisse durch die UBS zu durchleuchten. Die PUK soll Antworten auf die Frage finden: Wer hat wann was rund um die Not-Übernahme der Credit Suisse durch die UBS gewusst? Mag sein, dass da die eine oder andere Ungereimtheit ans Tageslicht kommen wird. Aber ist es die richtige Fragestellung? Stellt sich uns nicht viel mehr die Frage: Was geschah und geschieht in den letzten Jahrzehnten mit dem einst sehr soliden Finanzplatz Schweiz?

Das Bankwesen war in der Anfangsphase eine Domäne der Genossenschaft. Eine grosse Zahl von Geldinstituten sind in Europa dem Genossenschaftsgedanken entsprungen. Raiffeisen ist wohl eine der bekanntesten Banken, deren Ursprung auf die Genossenschaftsbewegung zurückzuführen ist. Auch die Schweizerische Volksbank (SVB) orientierte sich an der Idee «Einer für alle, alle für Einen.» Sie wurde 1869 von Vertretern aus Arbeiter-, Beamten- und Gewerbekreisen unter dem Namen «Volksbank in Bern» gegründet. Der statutarische Zweck der Genossenschaft bestand nach dem Vorbild der deutschen Vorschuss- und Kreditvereine in der Förderung des allgemeinen Wohlstands und speziell desjenigen der Genossenschafter¹. 

Die damalige Geschäftsidee hat sich im Laufe der Jahre sehr stark verändert. Dies unter anderem auch durch den massiven Einfluss und Druck seitens der Finanzaristokratie, politisch gestützt durch die US-Administration und London. Deren Eingriffe auf die Finanz-, Geld- und Kapitalmärkte bewirkten eine Marktdynamik, die kaum kontrollierbar war und erhebliche Klumpenrisiken mit weitreichendem Zerstörungspotential in sich barg. Mit der Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte einher geht die Globalisierung, die letztlich die Kontrolle und Beeinflussung der nationalen Finanzmärkte in den einzelnen Staaten weitgehend ausser Kraft setzte. Eindrückliche Beispiele sind die Geldmengenausdehnung, um die durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöste Überschuldung einzelner Staaten abzufedern und um am Abgrund stehende Banken zu retten, wie auch die Währungspolitik der Schweizerischen Nationalbank, die gegen die Interessen der Schweiz Fremdwährungen aufkaufen musste, um den Schweizer Franken zu schwächen.

Mit Druck nationales Recht ausschalten

Über verschiedene transnationale Organisationen (OECD, Weltbank, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ,  (Internationaler Währungsfonds IWF) wurde länderübergreifend Einfluss auf die nationale Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik genommen. Wer nicht spurte, wurde auf schwarze Listen oder unter anhaltenden Druck gesetzt. Die Schweiz spürte dies unter anderem, als es um die Abschaffung des Bankgeheimnisses ging.  

Im Jahr 2008 prahlte Bundesrat Hans-Rudolf Merz noch, dass sich das Ausland am Schweizer Bankgeheimnis die Zähne ausbeissen werde. Doch der Beissdruck aus Übersee war stärker, als unser Wille, das Bankgeheimnis zu verteidigen. Die US-Steuerbehörde (IRS) stellte ein formelles Amtshilfegesuch, um Einblick in Kundenbeziehungen mutmasslicher Steuerbetrüger bei der UBS zu erhalten. Im Februar 2009 segnete der Bundesrat die Einigung zwischen der IRS und der UBS ab. Die Schweizer Grossbank lieferte daraufhin Informationen über 255 amerikanische Kunden. Gleichzeitig einigte sich die UBS mit dem amerikanischen Justizministerium und der US-Börsenaufsicht auf einen Vergleich und zahlte 780 Millionen Dollar.

Wirtschaftskrieg oder doch Wohlstand für alle?

Liberalisierung und Deregulierung brachten die sogenannte Marktwirtschaft und leiteten den Übergang zur neoliberalen, globalen Wirtschaftsform ein. Parallel zu dieser Neuordnung der Wirtschaftsphilosophie setzte sich auch eine neue Managementdoktrin in allen Wirtschaftskreisen und somit auch im Bankwesen durch. Galt es früher, die Unternehmen durch eine ausgeprägte Kunden­orientierung und hervorragende Leistungen im Markt zu positionieren, setzte sich im Laufe der Zeit die Optimierung des Shareholder-Values immer mehr durch. Ziel des Managements war nicht mehr eine hohe Produktequalität, innovative Produkte und einen optimalen Kundenservice zu vernünftigen Preisen auf den Markt zu bringen, sondern den Wert des Unternehmens kurzfristig zu steigern. Das Management befasste sich also weniger mit dem Markt, dafür umso mehr mit der Gewinnmaximierung und möglichen Firmenübernahmen. So verwirrend es auch klingt, primäres Ziel der Unternehmen war es nicht mehr, die Realwirtschaft aufrecht zu erhalten, sondern die Gewinnmaximierung zu Gunsten der Aktionäre und des Top-Managements (Boni). Entsprechend wurde das Kapital der Realwirtschaft entzogen und in die Finanzmärkte umgeleitet. Ein Prozess, der im überbordenden Spekulationsfieber allerhand an Blüten und Blasen hervorbrachte, und die Krisenanfälligkeit von Finanz- und Kapitalwirtschaft enorm anheizte. 

Die Globalisierung sollte entsprechend der Propaganda die Menschheit von Hunger und Armut befreien. Was jedoch nie geschehen ist. Vielmehr öffnete sich der Graben zwischen einer kleinen Minderheit von Superreichen und der grossen Mehrheit, die täglich um ihre Existenz kämpfen musste. Selbstverständlich gibt es so etwas wie einen Mittelstand, der allerdings in der Globalisierungsfalle gefangen ist und zusehen muss, wie seine Errungenschaften sich immer mehr durch höhere Abgaben, Inflation und ruinösen Wettbewerb im Nichts auflösen. Die Globalisierung entpuppt sich immer mehr als Angriff auf die souveränen Nationalstaaten und damit auf deren Fähigkeiten, die Interessen des Landes und seiner Bürger wahrzunehmen. Insofern kann schon behauptet werden, dass wir mit einem massiven Angriff seitens der USA zusammen mit ihren Helfershelfern auf die Selbstbestimmung der Völker konfrontiert sind. Dazu gehört dann eben auch die Wirtschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten in Europa eine völlig neue Logik entwickelt hat, und sich immer mehr vom Erfolgsmodel «Soziale Marktwirtschaft» entfernte und sich vermehrt dem «Diktat des Kapitals» unterordnete. Ein Paradigmenwechsel, der in einigen Ländern erheblichen Schaden verursachte, und da die Wirtschaft die Achillesferse souveräner Staaten ist, auch zu Desorientierung und Destabilisierung des gesamten Selbstverständnisses führte. 

Hat eine Verkettung ungünstiger Vorfälle die Credit Suisse zu Fall gebracht? 

Der freie Markt ohne staatliche Einflussnahme und die globale Ausrichtung der Finanzmärkte schufen Raum für eine höhere Risikobereitschaft. Neue spekulative Finanzprodukte kamen auf den Markt, die aufgrund der Geldmengenausweitung eine überbordende Nachfrage auslösten. Künstlich erweiterte Investitionsvolumen blähten den Finanzsektor auf. Die Aussicht auf Boni verdrängte die Sorgfaltspflicht und beflügelte eine generöse Risikobereitschaft. Aber sind das die wirklichen Gründe, die die Schweizer Bank ins Taumeln brachte? Bestimmt hat das oberste Führungsgremium Fehler gemacht, vor allem auch in der Öffentlichkeitsarbeit und der Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Es wird aber auch hinter vorgehaltener Hand die Vermutung geäussert, dass ein entsprechendes E-Mail die Bankkunden verunsichert habe und es daher zu erheblichen Geldabzügen gekommen sei. Tatsache bleibt, die Bank war grundsätzlich sehr solide, hatte aber einen Liquiditätsengpass, der letztlich die Krisensituation auslöste. Für das bessere Verständnis der Vorgänge rund um die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS wäre es bestimmt sehr nützlich, wenn die PUK auch die Frage klären könnte: Welche Ursachen haben die CS zu Fall gebracht? Wohl keiner kann ausschliessen, dass nicht die unsichtbare Hand des freien Marktes mit im Spiel war. Es wäre nicht der erste unfreundliche Angriff auf den Finanzplatz Schweiz!

Zusammengefasst lässt sich unschwer festhalten, dass die CS das Opfer einer überbordenden Risikofreudigkeit in einer deregulierten, globalen Finanz- und Kapitalmarktunordnung sowie einem diffusen Geschäftsmodell wurde; angeheizt durch eine unverhältnismässige Ausdehnung der Geldmengen durch die Notenbanken und einer ungebremsten Profitgier des Top-Managements. Dabei kann es sehr gut passen, dass ein kleiner Schubser von aussen das Zusammenbrechen des Spekulationscasinos auslöste.

Welche Lehren sollten wir ziehen?

Ganz einfach! Die in der Zusammenfassung erwähnten Ursachen ins Positive umkehren und vielleicht wieder einmal die Idee der Genossenschaft aufleben lassen, um die Macht des Kapitals über die Allgemeinheit und die Politik zu brechen. 

¹ Jan-Henning Baumann: «Schweizerische Volksbank (SVB )», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.10.2012.
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/041976/2012-10-30/, aufgerufen am 23.05.2023.

Artikel veröffentlicht am 15.6 2023

Eine der blühendsten und schönsten Ausdrucksformen des Wissens des sahraouischen Volkes ist seine Poesie

von Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger

Die 2020 erschienene Antología de la Poesia Nacional Saharaui,1 die die sahraouische Dichtung sichtbar macht und ihren Poeten eine Stimme gibt, entstand in einer Forschungsarbeit von sahraouischen und spanischen Sozialwissenschaftlern gemeinsam mit sahraouischen ­Sozial- und Kulturaktivisten. Die Dichter «bekannt zu machen, ist an sich schon ein wertvoller Beitrag zur Entkolonialisierung der eurozentrischen Literatur», schreibt der Sozialwissenschaftler Boaventura de Sousa Santos im Vorwort der Antología². Es ist universitäre Forschung, die ihre politische Verantwortung wahrnimmt, so de Sousa Santos: «Sie verstehen ihre Arbeit als ein Wissen mit dem sahraouischen Volk, nicht als Wissen über das sahraouische Volk. Es ist ein Wissen in Solidarität mit dem politischen Kampf des sahraouischen Volkes für seine Selbstbestimmung, für seine politische, soziale und kulturelle Befreiung.»

Die sahraouische Dichtung, ursprünglich in Hassania, wurde von sahraouischen Dichtern der «La generation de la Amistad», die selber auf Spanisch schreiben, für die Antología ins Spanische übersetzt. 

In den von der Polisario befreiten Gebieten nomadisieren auch heute noch Sahraouis mit ihren Herden. (Bilder hhg)

In den von der Polisario befreiten Gebieten nomadisieren auch heute noch Sahraouis mit ihren Herden. (Bilder hhg)

Dichter – Weber des Gedächtnisses des Lebens und der Wüste

Poetisch ist auch die Sprache in der Boaventura de Sousa Santos sahra­ouisches Leben, Tradition, Geschichte und Dichtung zu einem faszinierenden Ganzen fügt:

«Das Volk der Sahraouis, das Volk der Beduinen, nomadisch, das während Jahrhunderten seine Herden geweidet hat in den Weiten der Wüste, lebt in der Wüste und von der Wüste. Es kennt die Wüste in ihrem Inneren, weil die Wüste in ihm ist (…) aus dem Wissen geboren im Kampf gegen die Wüste und für die Wüste, im Kampf gegen mächtige Feinde wie das Klima oder die Kolonisatoren, letztlich im Kampf ums Überleben und um die Würde, oft unter widrigen Bedingungen. Eine der blühendsten und schönsten Ausdrucksformen des Wissens des sahraouischen Volkes ist seine Poesie. Die Dichter sind los tejedores (Weber, Flechter) des Gedächtnisses des Lebens und der Wüste. Mit ihrer Dichtung verbinden sie Generationen, da die Gedichte die Geschichte der Familien und der Stämme nachzeichnen in der ganzen Breite der Pfade der Wüste und der Zeit. »

Mündliche Dichtung gehört zum sahraouischen Alltag. «Manchmal sagt man mit einem Vers, dass ein Tee sehr bitter ist, oder wenn man möchte, dass du einen Tee zubereitest, sagt man es dir ebenfalls in einem Vers», äussert der Dichter Badi Mohamed Salem, «manchmal schreiben wir Verse an eine Akazie, einen Busch, eine Düne».³ 

Auch Diskussionen wurden auf poetischer Ebene geführt, so auch eine hitzige Debatte zwischen sahraouischen Dichtern über die Frage, ob bei der traditionellen Teezeremonie auch weiterhin vier Gläser gereicht oder diese auf drei Gläser reduziert werden sollten. Die Befürworter der vier Gläser argumentierten religiös: 

Gott hat bereits vier Engel 

herabgesandt, höre zu, du, der du hören kannst, und er hat vier der umfassendsten Bücher herabgesandt, die mit der Weihe und den berühmtesten Kalifen kamen, das ist die endgültige Antwort, und vier Gläser sind besser und von höherem Range als jene drei.⁴

Während der Kolonialzeit arbeiteten Sahraouis auch für spanische Unternehmen und hatten nur wenig Zeit für Familie und Freunde. Daher argumentierten die gegnerischen Dichter zugunsten der drei Gläser mit dem Faktor Zeit.  

Die Dichtung befasst sich auch mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Luali Leshan, ein junger sahraouischer Dichter, beschreibt seelische Empfindungen bei einer herzlichen Begrüssung, wenn man die Hände des anderen länger in den seinen hält, einfühlsam poetisch: «Hände sind die Vorhut⁵  der Seele und verstehen es, mit anderen Händen zu verschmelzen und zu einer Stütze in Zuneigung und als Richtschnur⁶ zu werden. Und sie sind befähigt, die Grenze zum anderen aufzuheben und ihn in die unmittelbare Nähe der Seele zu führen. Sie verstehen es, das Seil zu sein, das andere Hände zieht, und sie können die Wunden heilen, die von den  Stürmen auf ihrem Weg durch das Leben hinterlassen werden».⁷ 

Nomadisierende Sahraouis in den befreiten Gebieten leben häufig in ihren traditionellen Zelten.

Nomadisierende Sahraouis in den befreiten Gebieten leben häufig in ihren traditionellen Zelten.

Mohamed Salem Uld Abdelahe, Badi, el decano der sahraouischen Dichtung

Dichter in der Sahara kommen aus Dichterfamilien über Generationen, so auch Badi: «Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind neben meinem Vater sass und den Leuten erzählte, was sie sich gegenseitig vorgesungen hatten. Auf diese Weise habe ich auch meinen älteren Brüdern zugehört.»⁸ Badi wuchs in einer grossen Familie auf, die mit ihren Kamelen und Ziegen nomadisierte. In guten Zeiten versammelten sich die Nomaden abends um die Wasserquellen, um Legenden und Geschichten zu erzählen und Gedichte zu rezitieren. 

Unter der spanischen Kolonialmacht begann Badi mit einem Freund Verse zu schreiben anläss­lich der Proteste vom 17. Juni 1970 gegen die Spanier in Zemla bei El Aiun. «Ich erinnere mich», so Badi, «dass wir in dieser Zeit viele Verse schrieben, und ich erinnere mich auch an ein ganzes Gedicht, das ich über die Spitzel schrieb. […] der Prophet selbst warnt uns vor ihnen.» ⁹

Ein grosser Teil sahraouischer Dichtung spiegelt die Sehnsucht der Vertriebenen nach dem verloren Land ihrer Kindheit wieder, so auch bei Badi, wie sein Gedicht «Imbeidi und seine Düne» zeigt. 

Imbeidi und seine Düne

Imbeidi und seine Düne, wo der Abhang des Hügels beginnt, 

der nach dem Berg von Ashalai ausgerichtet ist, 

ich liebe sie, 

Berg, Düne, Hügel und Orientierung.

Ich mag diesen Ort, nach Süden ausgerichtet 

und die Lage des kleinen Berges im Schatten 

des Hügels, 

in der Nähe der Akazie und dem Felsenbrunnen am Fusse des 

Berges. 

Die schwarzen Hügel des Westens, 

die das Tal überblicken und die sich nach Süden erstrecken, ich liebe sie.

Aber von dem Hügel nach Norden 

ich wünschte es so, und das sind keine leeren Worte.

An Imbeidi und seine Düne, wo der Abhang des Hügels beginnt, 

der nach dem Berg von Ashalai ausgerichtet ist, 

ich liebe sie, 

Berg, Düne, Hügel und Orientierung.

Im Osten die Grenzen von Sueid, die ich liebe, 

und der Berg von El Id und die kleine Erhebung 

von Elmusful und Dums. Oh herrlich! Ich liebe sie 

voller Intensität und aus tiefster Seele und wenn es einen Ort gibt, den ich am

meisten liebe, 

oh Herrlicher! Es ist nur Imbeidi und seine Düne. 

Die Hügel von Amashkarif, 

der Fluss von Abd y Lasquilla, 

die Rinnen der Saline und der kleine Weg der Dünen 

und im Hintergrund der schwarze Berg. 

Dies ist die Heimat derer, die nicht vergessen, 

und wenn sie sich erinnern, im Guten wie im Schlechten,

dann bleibt nichts anderes, als sich 

an Imbeidi und seine Düne zu erinnern.

Ich erinnere mich also an die schönen Zelte

in der Nähe der Berge von Buserz, Budarga, 

und in der Nähe von Buguetaya. 

Ich erinnere mich an geliebte Menschen, die ich nicht vergessen kann. 

Wie sie gibt es nichts mehr auf der Erde. 

Es gibt keine Freunde der ewigen Jugend mehr, 

keine Tage mehr wie die Tage von 

Imbeidi und seiner Düne, wo der Abhang des Hügels beginnt, 

der nach dem Berg von Ashalai ausgerichtet ist, ich liebe sie, 

Berg, Düne, Hügel und Orientierung.13

Noch mit 80 Jahren wandte sich Badi mit grossem Interesse Neuem zu: «Ich entdecke Reime und Meere, neue musikalische Hintergründe, die ich nicht kannte. Der Strom des Wissens wächst und wächst, er nimmt kein Ende.» 10 

Kurz vor seinem Tode wandte sich Badi 2019 an sein Volk mit dem weisen Rat, im Kampf für die nationale Souveränität die  Einheit zu bewahren:

Oh, mein Volk, bleib standhaft 

in Deinen Prinzipien, 

stell Deine Einheit nicht in Frage, nutzte sie nicht, 

um dem Wütenden nachzugeben 

noch entwerte sie, 

um dem Söldner zu schmeicheln.11

Ljadra Mint Mabrouk, la poetisa del fusil 

Die sahraouische Dichterin «wurde in der Nähe des Brunnens von Amoigiz geboren», liest man in der Antología, «in einem Jahr, das ihre Familie das Jahr von Gleib Lajdar nannte, weil man zu dieser Zeit die Zelte in der Nähe eines grünen Hügels aufgeschlagen hatte.»12 Mit ihrer Familie gehörte sie zu einem grossen nomadisierenden sahra­ouischen Stamm. Lesen und Schreiben hat Ljadra nicht gelernt. Ihre Gedichte bewahrte sie in ihrem Gedächtnis und rezitierte sie alle auswendig. 

Mit dem Krieg Marokkos gegen die Sahraouis flüchtete Ljadra 1975 mit ihrer Familie in die Lager nach Algerien, wo sie mit ihren Gedichten die Frente Polisario in ihrem Unabhängigkeitskrieg sowie den Aufbau der DARS in den Flüchtlingslagern begleitete und unterstützte. Gerade die Frauen leisteten beim Aufbau einen grossen Einsatz, so Ljadra in der Antología: «In jenen Jahren arbeiteten wir alle, aber die Frauen arbeiteten sehr viel.» Wenn die gemeinsamen Arbeiten beim Aufbau beendet waren, ruhten die Männer. Die Frauen hatten noch viel zu tun, «machten Tee, kochten, kümmerten sich um die Kinder, bereiteten das Essen für den morgigen Tag vor und gingen dann zur Ruhe. […] Die Sahraouis haben viel gearbeitet. Haben Sie das nationale Krankenhaus in Rabuni besucht? Wir haben es selbst gebaut. Backstein für Backstein, wir haben den ganzen Zement gemacht.»14 

Bei einem Besuch mit dem Schweizerischen Unterstützungskomitees für die Sahraouis (SUKS) in den Lagern waren wir 2019 bei der Dichterin Ljadra zu Besuch. Mit grosser Ausdruckskraft, Energie und innerer Beteiligung trug sie einige ihrer Gedichte vor. Unsere sahraouischen Begleiterinnen und Begleiter waren tief bewegt, und in ihren Augen standen Tränen. Von den Sahraouis, die Dichtung lieben, wird ihre grosse Dichterin hochgeschätzt. Ihre Gedichte sind gelebte Geschichte: 

«Ihr seid als Kolonisatoren zu uns gekommen. 

Andere waren aber vor euch da,  und ihr habt keine Rechte hier.» 

In einem anderen Gedicht trug Ljadra vor, wie sie als ältere Frau mit jungen Soldaten in der Frente Polisario gekämpft hatte. Die jungen Sahraouis kämpften – ohne Angst vor dem Tode – wie die Löwen. 

In der Antología, in der das folgende Gedicht verschriftlicht wurde, wird die Dichterin als «La poetisa del fusil» charakterisiert. 

Die jahrzehntelange Unterdrückung, die Missachtung ihres Selbstbestimmungsrechts, das ihnen von der Uno explizit zuerkannt wurde, die militärischen Übergriffe Marokkos prägen die Stimmung in diesem Gedicht.

Unsere politische Führung

Unsere Anführer sind ein Vorbild als Avantgarde und für unsere Einigkeit.

Sie tragen nichts als Flicken, 

Sie essen nichts als die Reste von unserem Teller, und wenn uns jemand angreift sind sie die Ersten, die unsere Kinder retten, so wie sie uns gerettet haben als Bomben fielen auf uns, auf unsere alten Leute und unser Hab und Gut.

Was im Ausland von den Sendern ausgestrahlt wird, ist Frucht der Kämpfe einer mutigen und tapferen Armee geboren aus unserem Volk und ohne Fehl und Tadel.

Treu ergeben unserem Einsatz gegenüber und ironisch gegenüber jenen, die auf Kosten des Volkes leben und sich rühmen eine Monarchie zu sein. 

[…]

Wir verspotten jene Menschen die auf Kosten des Volkes leben und sich rühmen, eine Monarchie zu sein.15

Diese ungebrochene Würde und die sahraouische Identität sowie der Wille zur Rückkehr in die ursprüngliche Heimat, die Ljadra in diesem Gedicht zum Ausdruck bringt, ist bei allen Generationen auch heute noch da – trotz aller Widrigkeiten! Dazu haben die sahraouischen Dichter einen bedeutenden Beitrag geleistet. 

¹ Mit Anthologie wird eine Sammlung oder Auswahl von Gedichten oder Prosastücken bezeichnet. Die «Antología de la Poesía Nacional Saharaui» ist der erste Sammelband in spanischer Sprache zur mündlichen sahraouischen Dichtung in Hassania.
² Poetas y Poesía Del Sahara Occidental, Antología de la Poesía Nacional Saharaui, Malaga 2020, S. 11–14.
³ Antología, S. 79
⁴ Antología, S. 30–31.
⁵ La vanguardia del alma
⁶ en sosten y en caricia y en norte
⁷ Antología, S. 58.
⁸ Antología, S. 53.
⁹ Antología, S. 57.
10 Antología, S. 59
11 Antología, S. 79.
12 Gemäss Ljadra handelt es sich um das Jahr 1930. Die sahraouischen Nomaden benannten die Jahre entsprechend ihren aktuellen Lagerorte. Geographisch handelt es sich um das Gebiet um Tiris. Antología, S. 154.
13 Antología, S. 87.
14 Antología, S. 165.
15 Antología, S. 172.

Übersetzung der Texte aus dem Spanischen hhg.

 

Westsahara – Heimat der Sahraouis

Bis heute völkerrechtswidrig von Marokko besetzt

hhg. Die Westsahara mit riesigen Phosphatvorkommen und ergiebigen Fischgründen vor der Atlantikküste war lange Zeit spanische Kolonie. 1960 entschied die Uno, dass alle kolonisierten Länder und Völker das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung haben, so auch die Sahraouis in der spanischen Kolonie Spanisch-Sahara, der heutigen Westsahara. 1975 zog sich Spanien aus der Westsahara zurück, die daraufhin von Marokko und Mauretanien besetzt wurde. Viele Sahraouis flohen in die algerische Sahara, wo sie bis heute in Flüchtlingslagern leben, während die sahraouische Widerstandsarmee Polisario gegen die Besatzer kämpfte. 1979 verzichtete Mauretanien auf seine Ansprüche auf die Westsahara zugunsten der Sahraouis. 1991 vermittelte die Uno einen Waffenstillstand zwischen Marokko und der Polisario, unter der Bedingung, dass in der Westsahara unter Aufsicht der Uno eine Volksabstimmung stattfindet, ob die Westsahara unabhängig werden soll, oder ob sie in das Königreich Marokko integriert wird.

Seit 1991 warten die Sahraouis in der besetzten Westsahara und in den Flüchtlingslagern in der algerischen Sahara auf die von der Uno versprochene Volksabstimmung über die Zukunft ihres Landes, die von Marokko bis heute hintertrieben wird.

Artikel veröffentlicht am 15.6.2023

Bildung: «Lesen – wahrlich ein selt’nes Glück»

von Dr. phil. Carl Bossard*

Es wird weniger gelesen. Die Lesekompetenz der Jugendlichen sinkt. Ein verdrängtes Faktum. Bildungspolitik und Schule müssten gegenhalten und diese Kulturtechnik fördern, wie dies schon einmal der Fall gewesen ist. Ein Blick zurück zeigt es.

Eine Kindheit als eigene Lebensphase und mit Schulzeit gab es lange nicht. Die Kinder werden als ökonomische Ressource schnell zu kleinen Erwachsenen. Früh treten sie in die handwerklich und landwirtschaftlich dominierte Arbeitswelt ein. Man braucht sie fürs Werken und Rackern auf Feld und Hof – und später in den Fabriken. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. «Lesen [ist darum] wahrlich ein selt’nes Glück», wie es der arme Mann aus dem Toggenburg, Ulrich Bräker, um 1775 ausdrückt.¹ 

 Früh übt sich: Ein ausgeprägtes Leseverständnis ist zentral. Wer gut liest, hat es in der Schule einfacher.  (Bilder zvg)

Früh übt sich: Ein ausgeprägtes Leseverständnis ist zentral. Wer gut liest, hat es in der Schule einfacher.
(Bilder zvg)

Unterricht aus dem Wirrwarr des Zufallslernen befreien

Viele Kinder bleiben Analphabeten; sie sind aufs Vorlesen oder bestenfalls auf gemeinsames Buchstabieren und Deuten eines Textes angewiesen. Eindrücklich schildert dies der Pädagoge und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) im «Stanser Brief»: «Unter zehn Kindern, konnte kaum eins das A b c.» Und er fügt bei: «Von anderm Schulunterrichte […] war noch weniger die Rede.»2 

Das will die neue helvetische Regierung um 1800 ändern. Sie möchte die Kinder aus den Ar-beitswelten herausholen und ihren Schulunterricht aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreien. Die Helvetik (1798 – 1803) versteht sich als konsequente Antithese zum Ancien Régime. Sie realisiert Ideen der Aufklärung und nimmt mit dem bislang ­ungewohnten Gedanken der Gleichheit einen irreversiblen Mentalitätswandel vor: etwas völlig Neues, gar Radikales. Die patrizisch-aristokratische Oberschicht, das «Volk in Seide», wie Pestalozzi es formuliert, hat sich bis dahin kaum richtig bemüht, den gewöhnlichen Leuten, dem «Volk im Zwilch», zu politischer Gleichheit zu verhelfen. «Der gemeine Mann darf kein Gelehrter werden», so die Denkweise. Bildung bleibt darum ein Privileg weniger.

Kampf zwischen Idealität und Realität

Die helvetische Regierung versteht sich als eine Art Sarastro – und dieser Sarastro setzt sich zur Aufgabe, die Menschen zu bilden. Der Glaube, dass eben nur ein gebildetes Volk die Prinzipien der neuen Zeit anerkennen könne, gibt im neuen helvetischen Staat dem Auf- und Ausbau der Schulen höchste Priorität. Das Unterfangen ist dornig und der Pfad steinig, der pädagogische Wandel zäh und der Fortschritt ein hartnäckiger Kampf zwischen Utopie und Machbarkeit, zwischen Idealität und Realität. Er braucht Zeit und Energie.

Die Wirklichkeit im Schweizer Bildungswesen erfährt in Struktur und Programm nach und nach eine zeitgemässe Verbesserung. Die pädagogische «Frühlingssaat» der Helvetik und ihrer bahnbrechenden Schulpolitik geht langsam auf. Der neue Bundesstaat nach 1848 realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was die Helvetische Republik erreichen wollte: eine umfassende Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates. Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben und ebenso Rechnen werden zum Allgemeingut. Ein zäher und langer Weg!

Lesekompetenz und Textverständnis schwinden

Die Lesekompetenz hat stetig zugenommen, speziell spürbar seit Ende des Zweiten Weltkrieges. In den Schulen wurde intensiv gelesen und geübt. Doch heute sinkt das Lesevermögen wieder – besonders einschneidend bei jenen Personen, die ab Ende der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zur Welt gekommen sind. Die internationalen Vergleichsstudien wie PISA (Programme for International Student Assessment) oder PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) zeigen es: Die jüngere Generation hält weder bei der gelesenen Textmenge pro Zeiteinheit noch beim Textverständnis mit.³ Lesefreude und Lesekompetenz schwinden. 

Das gilt auch für die Schweiz; beim Lesen liegt sie heute unterhalb des OECD-Durchschnitts von 75 Ländern.⁴ Der Anteil schwacher Leserinnen und Leser steigt. Jeder vierte Schulabsolvent kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie von 2019. Er verharrt auf dem untersten Niveau von sechs Kompetenzstufen. Das heisst, er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Ein Viertel vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Ge-samtkontext nicht. Dabei wäre ein ausgeprägtes Leseverständnis elementar. Die sprachliche Heterogenität heutiger Klassen akzentuiert das Problem noch.⁵ 

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones: Fast-Food Information, in Sekundenhäppchen präsentiert und konsumiert. Wie soll man da Gedanken zu Nikolaus Kopernikus oder Charles Darwin verstehen? Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Wer in den sozialen Netzwerken viele Freunde kennt, wird täglich von fünfzehnsekündigen Videoausschnitten förmlich überschwemmt. Mit Bildwelten aber kann sich kein Denken verbinden. Sie rauschen unkontrolliert oder unreflektiert an mir vorbei.

Dazu kommt, dass elektronische Geräte – anders als gedruckte Bücher – kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verste-hens- wie auch zu Akzeptanzproblemen. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. Für die Lehrer bedeutet diese Unbehagens-Disposition der jungen Leute einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung. Manche schauen weg und resignieren. «Was soll’s?» So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Der Lesenotstand verschärft sich.

Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach

Vertieftes und konzentriertes Lesen oder «deep reading»,⁶ wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, nicht als Beschäftigungstherapie vor den Ferien, nicht begleitend im Film, sondern im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.» ⁷

Das didaktische Medium «Schulbuch» legt die Basis fürs Lesen. Erstklass-Lesebuch aus den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts .

Das didaktische Medium «Schulbuch» legt die Basis fürs Lesen. Erstklass-Lesebuch aus den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts .

Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe

Nur ein gebildetes und lesefähiges Volk ist auch ein demokratiefähiges Volk! – Davon war die helvetische Regierung von 1798 zutiefst überzeugt. Sie förderte die Kulturtechnik des Lesens wie auch des Schreibens. Für den Einzelnen und die Gesellschaft. Was damals so wichtig war, gilt auch heute noch: Zur sozialen und politischen Teilhabe gehört eine angemessene Lesekompetenz. Nur informierte und unabhängige Bürgerinnen und Bürger interessieren sich für gesellschaftliche und demokratische Prozesse. Es ist kein Zufall, dass die Helvetik ein erster Schritt zur schweizerischen Demokratie wurde. Sie wusste: Die Förderung des demokratischen Lebens basiert auf der kollektiven Lesekompetenz.

Der Bildungspolitik und der Schule kommt darum eine hohe Verantwortung zu. Lesen darf nicht «zum selt’nen Glück» verkommen.

Erstveröffentlichung: www.journal21.ch, 20. März 2023.

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

¹ Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer (sic) des armen Mannes im Tockenburg. In: Bräkers Werke in einem Band. Berlin und Weimar 1966, S. 83ff.
² Pestalozzi über seine Anstalt in Stans [kurz: «Stanser Brief» von 1799] (1997). Mit einer Interpretation und neuer Einleitung von Wolfgang Klafki. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 9. 
³ Klaus Zierer: Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre. In: DIE ZEIT, 21. 04. 2022, S. 38.
⁴ Vgl. https://www.edk.ch/dyn/32703.php [abgerufen: 19.03.2023]
⁵ Tanja Polli: Spricht hier jemand Deutsch? In: Beobachter 7/2023, S. 17 – 19. Jedes dritte Kind hat heute ein Sprachproblem, wenn es in den Kindergarten kommt.  
⁶ Häufig liest man auch den Ausdruck «higher-lever reading». Man möchte so das Idyll des kindlichen Lesens und die Assoziation mit dem vertrauten Buchgenuss vermeiden.
⁷ Zierer, a.a.O.

Artikel veröffentlicht am 15.6.2023

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