Mit globalen Vertragswerken gegen die Souveränität der Länder

von Reinhard Koradi

Wer erinnert sich noch an die Vertragsverhandlungen, die eine uneingeschränkte Globalisierung der Märkte forcieren und zementieren sollten? Mit der «Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP)» wurde die Wirtschaft als Einfallstor zur Unterwanderung der Nationalstaaten angepeilt. Der politische Widerstand brachte die Verhandlungen allerdings ins Stocken. Ein weiterer Versuch wurde durch den von den Uno-Mitgliedsstaaten 2018 beschlossenen «Globalen Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration» lanciert. Auch hier gab es auf nationaler Ebene Widerstand gegen die Absicht, gemeinsam die Migration grenzüberschreitend und kooperativ zu kontrollieren und zu organisieren. Und nun gerät das Gesundheitswesen ins Visier der global orientierten Zentralisten oder vielleicht exakter ausgedrückt, selbsternannter Gouverneure des «Board of Global Government».

Corona-Pandemie als Feldtest?

Weder über die Wirtschaft noch über die Flüchtlingsbewegungen ist es bisher gelungen, die Nationalstaaten im gewünschten Ausmass gefügig zu machen. Allerdings wurde die Souveränität der Völker schon so weit geschwächt, dass der Fahrplan zwar etwas ins Stocken geraten ist, doch der Boden für weitere Machtansprüche durch globale Institutionen und Interessensvertreter ist schon sehr gut bestellt. Immer mehr Regierungen zeigen sich, aus welchen Gründen auch immer, gegenüber den Taktgebern zur globalen Einflussnahme in innere Angelegenheiten der souveränen Nationalstaaten als sehr willfährig. Die Corona-Pandemie brachte in dieser Hinsicht einen kaum zu erwartenden Durchbruch. Die durch die WHO angeordneten Kampfmassnahmen gegen das Virus wurden mehr oder weniger von den meisten Regierungen der westlichen Welt rigoros zum geltenden Gesetz erklärt – ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Bevölkerung, die Steuerzahler, die wirtschaftlichen Konsequenzen und die Verfassung. Der emotionale Mix aus Angst, Desinformation und Drohungen, der zur Ausgrenzung führte, schaffte in weiten Teilen der Bevölkerung ein Klima unterwürfigen Gehorsams. Noch nie war der Graben in der Bevölkerung zwischen Gutmenschen und Bösmenschen derart ausgeprägt. Jede offene und freie Meinungs­äusserung wurde im Keim erstickt.  

Die veröffentlichte Meinung duldete keine Widerrede. Manipulation statt freier Meinungsbildung liess die Menschen verstummen. Der Widerstand war gebrochen und eine wesentliche Bedingung der direkten Demokratie ausgeschaltet. Fazit: Feldtest gelungen!

Die persönliche, direkte Betroffenheit, gemischt mit einer erheblichen manipulativen Emotionalität hat die Menschen gefügig gemacht. Es erstaunt daher nicht, dass die Eliten sich mit diesem Vorgehen weitere Erfolge versprechen, die nationale Souveränität durch global gesteuerte Unterdrückung zu brechen.

Ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag als Reaktion auf Corona

Vom 21. bis 28. Mai dieses Jahres  sind die neuen Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR) der WHO in Genf verhandelt worden. Wenig ist dazu an die Öffentlichkeit gedrungen. Und dies aus gutem Grund. Denn diese Vorschriften sollen die wichtigsten Übergriffe des sogenannten Pandemie-Pakts bereits heimlich etablieren – mit drastischen Auswirkungen auf die Freiheit und Souveränität der Mitgliedstaaten.

Aufgrund einer Initiative der EU und der G7 erarbeitete die WHO einen Pakt, der das länderübergreifende Verhalten bei Pandemien verbindlich regelt. Dieser soll im nächsten Jahr ratifiziert werden. Offensichtlich beabsichtigt der Bundesrat, diese Vereinbarung zu unterzeichnen. Das transnationale Abkommen gibt der WHO eine Führungsrolle bei der Bekämpfung von Pandemien. Sie kann eine Pandemie ohne Beweise ausrufen, Massnahmen zwingend einfordern und Staaten, die sich weigern, mit Sanktionen belasten. Ein Impfzwang für alle kann angeordnet werden, und es ist nicht auszuschliessen, dass unter dem Titel der Einheitsgesundheitsverordnung auch Verhaltensmassnahmen in Bezug auf Ernährung und Erderwärmung durch Diktat den Völkern aufgezwungen werden.

Die Nähe der WHO zu Bill Gates und damit zur Pharma-Lobby löst mit Recht Unbehagen aus. Warum wird hinter verschlossenen Türen verhandelt? Oder warum werden Gegner dieses Pakts bereits im Vorfeld der Diskussion als Verschwörungstheoretiker diffamiert? Tatsache ist, dass dieser Pakt unser Gesundheitswesen dem Diktat der WHO unterstellt. Wollen wir das oder verteidigen wir unser Recht, die Gesundheitspolitik auf nationaler Ebene zu regeln?

Freiheit gegen Diktatur der WHO eintauschen?

In den vergangenen Jahren der Corona-Pandemie haben wir erlebt, was WHO-Diktatur bedeutet. Sollte der Pakt durchgesetzt werden, dann haben wir mit noch weiteren Einschnitten in unsere Freiheit zu rechnen. Die Menschen sind es, die die Bürde eines derartigen Paktes tragen müssen. Es liegt daher in der Verantwortung der Regierungen und Verhandlungsdelegationen, die Öffentlichkeit über den Verlauf der Verhandlungen uneingeschränkt zu informieren.  

Es ist erschreckend, mit welcher Überheblichkeit Regierungen das Recht auf Information mit Füssen treten, die Massenmedien sich in den Dienst der Mächtigen stellen und die absolut notwendige Meinungsbildung in der Öffentlichkeit durch Informationsunterdrückung verhindern. Nur durch zufälliges Recherchieren bin ich auf den IHR gestossen. Dabei musste ich feststellen, dass man bei diesem Entwurf der WHO-Mitgliedstaaten sehr schnell auf Informationslücken stösst.

Heute gilt es wachzurütteln. Noch sind viele Fragen und Inhalte im Dunkeln. Es gibt Kritiker, die das Massnahmenpaket zur Vereinheitlichung der internationalen Gesundheitsvorschriften als verfassungswidrig einordnen. Die Schweiz müsste bei einer allfälligen Ratifizierung ihre Verfassung überarbeiten.

Um Widerstand aufzubauen, müssen wir mehr erfahren und wissen, was am Verhandlungstisch festgelegt wurde. Wir wollen mitreden und – wie in einer direkten Demokratie üblich – entscheiden. Wann begreift der Bundesrat endlich, dass wir nicht regiert werden, sondern dass wir der Exekutive Aufträge erteilen wollen? Dazu braucht es mündige Bürger und eine offene Gesprächskultur.

veröffentlicht 12.Juli 2023

Eine multipolare Weltordnung ist im Interesse der Wohlfahrt aller Menschen

Leserzuschrift

Der Kampf, die Auseinandersetzung um eine neue multipolare Weltordnung beziehungsweise für die Erhaltung der alten US-dominierten Weltordnung ist in vollem Gange. Auch der Krieg, der derzeit in der Ukraine tobt, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Für die neue multipolare, nicht mehr von der Hegemonialmacht USA dominierte Weltordnung, steht die BRICS-Gruppe, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die BRICS-Gruppe, die vor einer erheblichen Vergrösserung durch den Beitritt weiterer Staaten steht, vertritt heute schon 40 Prozent der Weltbevölkerung, die über 30 Prozent der Weltindustrieproduktion erwirtschaften, Tendenz steigend. Die Durchsetzung einer neuen multipolaren Weltordnung wird es allen Ländern der Welt ermöglichen, den Weg für ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, ohne dem Druck einer Hegemonialmacht unterworfen zu sein, frei wählen zu können.

Die USA und ihre Juniorpartner (EU und G7) versuchen alles, um diese Entwicklung mit wirtschaftlichem Druck (Sanktionen und Embargos) wie auch mit militärischer Gewalt aufzuhalten, aber diese Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein.

Wenn die Schweiz den Wirtschaftskrieg und die militärische Aufrüstung der USA und der EU-Staaten gegen Russland und gegen China mitmacht, schadet sie unserer Wirtschaft und damit der Bevölkerung unseres Landes, ohne davon einen künftigen Nutzen oder Vorteil zu haben. Die Folgen dieser Politik sind massiv gestiegene Energiepreise, Inflation und Zinsanstieg, steigende Preise, höhere Mieten, sinkende Kaufkraft. Diese Folgen treffen am härtesten die Menschen mit bescheidenen und mittleren Einkommen.

Viel klüger wäre es, die ohnehin unaufhaltsame, mit dem wirtschaftlichen Aufstieg zahlreicher nicht zum «Westen» gehörender Staaten verbundene Entwicklung zu einer neuen multipolaren Weltordnung zu akzeptieren und die sich daraus für unsere Exportwirtschaft ergebenden Chancen und Möglichkeiten zu nutzen – im Interesse der Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung.

Stefan Hofer

veröffentlicht 12.Juli 2023

«Wir benutzen die Ukraine, um Russland zu bekämpfen»

Interview mit Jacques Baud*

Jacques Baud (Bild thk)
Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Was lässt sich über den Fortschritt der ukrainischen Gegenoffensive sagen?

Jacques Baud Zunächst einmal war der Verlauf, den wir heute sehen, zu erwarten. Die russische Verteidigung hält vor der sogenannten Kontaktlinie (Nato-Bezeichnung: Forward Edge of the Battle Area, FEBA) eine Sicherheits- oder Überwachungszone in einer Tiefe von 5 bis 10 Kilometern.¹ Dann beginnt erst das eigentliche Verteidigungsdispositiv. Es gibt eine erste Verteidigungslinie, die ungefähr 5 bis 10 Kilometer tief ist. Dahinter liegen eine Pufferzone und eine weitere Verteidigungslinie. Im Raum Saporischja zum Beispiel gibt es drei dieser Verteidigungslinien. Das ist ein Verteidigungsdispositiv, das etwa 30 bis 50 Kilometer tief ist, wenn nicht noch mehr

In vier Wochen ist es den Ukrainern nicht gelungen – nirgends entlang der 900 Kilometer langen Front – die erste Verteidigungslinie der Russen (FEBA) zu erreichen. In der Überwachungszone befinden sich nicht nur Panzerabwehrminen, sondern auch sogenannte Jägerverbände (Okhotniki), die sehr mobile, speziell für die Panzerabwehr ausgebildete Einheiten sind.³ Mitte Juni behauptete der Militär-«Experte» Alexandre Vautravers in einem Westschweizer Fernsehsender4, dass die Russen nicht mehr genügend Soldaten hätten und ihre Elite-Spezialkräfte einsetzen müssten, um Infanteriearbeit zu leisten. Das ist völlig falsch. Er hat absolut nichts verstanden und verwechselt «Sondereinheiten» (спецотряд) mit «Spezialeinheiten» (войска специального назначения). Ich empfehle ihm die Lektüre meines Buches zu diesem Thema (das sogar in der Ukraine übersetzt wurde!).5

Diese «Jäger» sind leicht bewaffnet, aber sie können mit Lasern Ziele für luftgestützte Panzerabwehrsysteme oder Roboter markieren.⁶ Die Mehrheit der zerstörten Panzerfahrzeuge, die man gesehen hat wie den M113, Bradley, Leopard etc. wurden durch diese leichten Verbände und die Artillerie zerstört. Genaue Zahlen über die Verluste an Material zu bekommen, ist sehr schwierig, aber man geht davon aus, dass ungefähr 40 Prozent der Panzerfahrzeuge, die den Ukrainern geliefert wurden, bereits in der ersten Woche zerstört worden sind.

Grafik J. Baud

Grafik J. Baud

Das Problem ist, dass unsere Medien nur über die ukrainischen Angriffe berichten, aber nie die russischen Gegenangriffe erwähnen. Wir haben daher immer den Eindruck, dass die Ukrainer vorrücken. Die Realität ist für die Ukrainer jedoch viel dramatischer. Unsere Medien behaupten, dass die Russen keine Waffen7 und kein Personal mehr hätten, dass ihre Munition verrostet8 und ihr Militär demoralisiert sei⁹, dass es schlecht geführt werde.10

In allen Medien war von der Grossoffensive der Ukrainer die Rede. Inzwischen ist es etwas leiser geworden. Sehen Sie irgendeinen Erfolg der Ukraine?

Zunächst einmal muss man verstehen, dass diese «Gegenoffensive» die Erbin der von der Ukraine auf Grundlage von Selenskijs Dekret vom 24. März 2021 geplanten und vorbereiteten Offensive zur Rückeroberung der Krim und der Südukraine ist.11 Um die Ukraine von ihrer Durchführung abzuhalten, verlegte Russland ab April 2021 seine Truppen an die Grenze. Um die Rückeroberungen zu verhindern, beschloss Wladimir Putin am 24. Februar 2022, seine Spezielle Militäroperation (SVO) zu starten.

Vor der russischen Intervention hätte die Ukraine vielleicht Erfolg haben können. Doch seitdem ist die Lage für die Ukraine komplizierter geworden. Selenskij kündigte daraufhin eine Grossoffensive zur Rückeroberung der Krim mit einer Million Soldaten im Juli 2022 an.12 Doch konnte er nie die erforderliche Truppenstärke aufbringen, sondern auch der Grossteil seiner Ausrüstung wurde zerstört, und seit Juni 2022 ist er materiell von westlicher Hilfe abhängig.13 So konnte er trotz einer 700 000 Mann starken Armee14 seine Operation im Sommer 2022 nicht starten. Diese Operation wurde auf den Herbst, dann auf den Winter 2022, dann auf das Frühjahr 2023 verschoben und hat letztlich anscheinend am 4. Juni 2023 begonnen.

Das Gerede von der Offensive bleibt nebulös. Anfang Juni sagte Oleksiy Danilow, Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheitsrates, in der «Ukraïnskaya Prawda», es werde keine Ankündigung des Beginns der Gegenoffensive geben.15 Die Idee war, die Gegenoffensive erst dann anzukündigen, wenn die Kampfhandlungen Aussicht auf Erfolg haben. Wenn es keinen Erfolg gibt, gibt es auch keine Gegenoffensive. Aus diesem Grund begannen die Kampfhandlungen zwar bereits am 4. Juni, doch erst eine Woche später gab Präsident Selenskij zu, dass die Gegenoffensive begonnen habe. Dies zeigt, dass die Ukrainer selbst nicht an ihren Erfolg glauben. Der Grund für Selenskijs Ankündigung war, dass die ukrainischen Streitkräfte sieben bis acht kleine Dörfer einnehmen konnten, die sich alle in der Überwachungszone befinden, die nicht von Russland verteidigt wird.

Der mögliche Erfolg der Gegenoffensive muss vorsichtig eingeschätzt werden, da er nur auf der Grundlage der festgelegten Ziele bestimmt werden kann. Unsere Journalisten haben beispielsweise die Ziele der russischen Operation selbst definiert, um dann sagen zu können, dass die Russen diese nicht erreicht hätten. So behauptete die «NZZ», die Russen hätten Kiew erobern wollen, was ihnen nicht gelungen sei.16 Dies ist schlicht und einfach eine Lüge. In Wirklichkeit zeigte eine intelligente und ehrliche Analyse bereits im März 2022, dass die Russen dies nie auch nur versucht und nie genügend Truppen dafür eingesetzt hatten.

Ursprünglich war das von der Ukraine gesetzte Ziel die Rückeroberung der Krim und die Wiederherstellung ihrer Souveränität über das gesamte derzeit von Russland besetzte Gebiet. Dies ist übrigens auch die Bedingung, die Selenskij für die Aufnahme von Verhandlungen gestellt hat.17 Das Problem ist, dass niemand mehr ernsthaft glaubt, dass dieses Ziel realistisch ist.

Die Amerikaner ihrerseits scheinen vor dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs von Joe Biden  einen Lösungsansatz haben zu wollen.18 Die Ukrainer müssen also ein Ziel definieren, das vernünftig genug ist, um erreichbar zu sein, und wichtig genug, um als Hebel in einer Verhandlung zu dienen. Die wenigen Dörfer, die von den Ukrainern zurückerobert wurden, werden bei den Verhandlungen wahrscheinlich nicht sehr schwer wiegen. So scheinen, ohne die Möglichkeit eines Wunders auszuschliessen, bedeutende territoriale Erfolge für die Ukraine unerreichbar zu sein.

In Abwesenheit konkreter realistischer Ziele beschwört der Westen die etwas bizarre Idee herauf, die Gegenoffensive löse «eine Panik» in der militärischen und politischen Führung Russlands aus, die zu einem «Regimewechsel» führen könnte!19 Aus diesem Grund löste Prigoschins Meuterei im Westen eine grosse Begeisterung aus, da sie zu zeigen schien, dass diese Strategie funktionieren könnte. Aber wie üblich basieren die Analysen unserer Pseudo-Experten nicht auf ihrem Wissen und einer Reflexion, sondern auf Vorurteilen. In Wirklichkeit scheint dieser Vorfall Wladimir Putin eher gestärkt zu haben.

Dann sucht man nach neuen Zielen für die ukrainische Gegenoffensive. Deshalb erklärt Oleksiy Danilov heute, dass das Ziel nicht die Rückeroberung von Territorium, sondern die «Demilitarisierung» Russlands sei!20 Er verwendet fast die gleichen Worte wie der russische General Surowikin am 18. Oktober 2022.21

Wie der britische Experte Mark Galeotti im April dieses Jahres in «The Times» sagte: «Die Ukraine ist nicht bereit für ihre grosse Offensive, aber sie hat keine andere Wahl.»22 In der Tat hat sich die Ukraine in eine totale Abhängigkeit vom Westen begeben. Mit Hilfe unserer Medien tauschten die westlichen Regierungen – einschliesslich der Schweiz – die Rücknahme von Selenskijs Vorschlag, im März 2023 mit Russland zu verhandeln, gegen ihre Unterstützung für eine Lösung ein, die jeden Kompromiss mit Russland ausschliesst. Mit anderen Worten, sie tauschten Friedensaussichten gegen Unterstützung für «so lange wie nötig» ein.23

Dank der permanenten und irreführenden Unterschätzung der russischen Fähigkeiten durch unsere Medien und Geheimdienste schien die versprochene Unterstützung für die Ukraine realisierbar zu sein. Doch die Fähigkeiten Russlands sind erheblich grösser als von korrupten Experten verkündet. Die Medien und unsere Geheimdienste haben gelogen mit dem Ziel, die Rationalität und Inkompetenz der Russen zu beweisen. Der Westen hat sich also in der Falle eines «Blankoschecks» verfangen, was langsam schwer zu ertragen ist.

So ist Selenskij dazu verurteilt, vor dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. Juli ein Ergebnis vorzulegen, da er weiss, dass die Unterstützung des Westens sonst stark nachlassen wird. Denn es gibt innerhalb des Bündnisses Differenzen über die Beschaffung neuer Munition 24 und sogar zwischen Deutschland und Polen über die Wartung der Leopard 2 - Panzer.25 Er weiss auch, dass sein Land ohne westliche Unterstützung in nur wenigen Tagen zusammenbrechen würde.26 Denn trotz seiner Entschlossenheit stösst der Westen bei der Lieferung von Militärgütern an seine Grenzen. Das gesamte Material der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, das in Europa verblieben war, wurde bereits an die Ukraine geliefert. Es ist also nichts mehr übrig. Dies wirkt sich auf die ukrainische 152-mm-Artillerie aus, da die Munition fehlt. Ein Artilleriegeschütz ohne Munition ist nutzlos. Man hat daher begonnen, sowjetische Munitionsfabriken aus dem Kalten Krieg in Rumänien27 und der Slowakei28 zu reaktivieren. Die westlichen Kapazitäten zur Herstellung von 155-mm-Munition für die vom Westen gelieferte Artillerie können mit dem russischen Feuertempo nicht Schritt halten. Heute entspricht die gesamte westliche Produktionskapazität pro Monat der Menge, die Russland an einem einzigen Tag verschiesst! Der in den USA hergestellte Sprengstoff reicht nicht mehr aus, um mit der Produktion von Artilleriegeschossen Schritt zu halten, und muss daher in Japan gekauft werden.29 Der Westen ist am Ende seiner Kapazitäten angelangt.

Im Einsatz verliert die Ukraine, wie das «Forbes Magazin» feststellt, ihre Ausrüstung.30 Die von Frankreich gelieferten AMX-10 RC, die grundsätzlich Aufklärungsfahrzeuge sind, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, sind für den Krieg in der Ukraine ungeeignet.31 Die M2/3 Bradley Infanterie-Kampffahrzeuge, die einen gewissen Ruf der Unbesiegbarkeit hatten, fallen wie die Fliegen.32 Von den M113, die von fast jeder Infanteriewaffe zerstört werden, ist hier noch nicht einmal die Rede. Als «Augen» der ukrainischen Streitkräfte eingesetzt und von unseren Medien oft als «Stärke» der Ukrainer erwähnt, fallen ihre Drohnen laut dem Royal United Services Institute (RUSI) in London mit einer Rate von 10 000 pro Monat!33 Leopard 2-Panzer scheinen von den Russen erbeutet worden zu sein, damit sie diese eingehend untersuchen können.34 Um diese Situation zu vermeiden, haben die Briten so strenge Bedingungen für den Einsatz ihrer Challengers 2 aufgestellt,35 dass die Ukrainer sie kaum einsetzen können!

All diese Probleme zeigen, dass die Zeit gegen die Ukraine arbeitet. Sie muss schnell Ergebnisse erzielen, um die Unterstützung des Westens zu erhalten. Aus diesem Grund ist die Woche vor dem Nato-Gipfel in Vilnius sehr gefährlich. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Selenskij seit Anfang Juni behauptet, Russland bereite sich darauf vor, das Atomkraftwerk Saporoshje (ZNPP) in die Luft zu sprengen. In Wirklichkeit haben die Russen genauso wenig die Absicht, dieses Kraftwerk zu zerstören, wie sie die Absicht hatten, Nord Stream 2 zu zerstören! Stattdessen versucht Selenskij verzweifelt, eine Nato-Intervention in der Ukraine zu provozieren, weshalb er in einem Tweet erklärt, «it is the responsibility of everyone in the world to stop it.» (Es ist die Verantwortung eines jeden in der Welt, es zu stoppen)!36 Tatsächlich wendet er die gleiche Strategie wie im März 2022 an, um eine «No-Fly-Zone» über der Ukraine zu erreichen. Dies ist umso dringender, als die Nato-Länder offenbar nicht bereit sind, vor Ende der Gegenoffensive F-16-Flugzeuge zu liefern.37

Die Lage der russischen und ukrainischen Streitkräfte ist also genau umgekehrt, als unsere Medien behaupten.

Das ist richtig. In der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland haben unsere Medien so viel Angst, dass wir uns gegen unsere Regierungen auflehnen, die uns wie die Ukrainer und die Russen betrügen, dass sie diese Schummeleien nie erwähnen. Ich erinnere daran, dass es nicht darum geht, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu schaden.

Im Juni 2022 haben die Russen das von Wladimir Putin am 24. Februar 2022 formulierte Ziel der «Entmilitarisierung» erreicht. Von diesem Zeitpunkt an ist die Ukraine kampfmässig vom Westen abhängig, wie die sehr antirussische britische Zeitung «The Guardian» berichtet: «Wir haben fast keine Munition mehr und sind auf westliche Waffen angewiesen, sagt die Ukraine. [...] Der stellvertretende Leiter des militärischen Nachrichtendienstes sagt, es sei jetzt ein Artilleriekrieg und ‹alles hängt davon ab, was der Westen uns gibt.›»38

Und das alles, wenn alles gut läuft! Denn in Wirklichkeit haben unsere Länder – und unsere Medien – die gleiche Verachtung für das Leben der Ukrainer wie für das der Russischsprachigen im Donbas und der Russen in Russland! Die «New York Times» berichtet, dass die gelieferten Waffen oft fehlerhaft sind,39 ebenso wie die Luftabwehrsysteme, die von einem «europäischen Land» geliefert wurden, wie der «Kyiv Independent» mitteilt,40 und zwar dann, wenn sie die Kämpfer erreichen, obwohl die ukrainische Regierung Millionen dafür bezahlt hat! 41

Die gewollte Folge dieser permanenten und verlogenen Unterbewertung durch unsere Medien ist, dass die Ukrainer trotz des Wissens um die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes zum Kämpfen gedrängt werden. Denn die Moral des ukrainischen Militärs ist sehr niedrig. Dies wurde sogar zu einem Argument für Wolodymyr Selenskij, der gegenüber «CNN» erklärte, dass eine Einladung zur Nato zum jetzigen Zeitpunkt «eine enorme Motivation für die ukrainischen Soldaten wäre».42

Sie haben schon einige Aspekte des Verlaufs der «Grossoffensive» erwähnt. Wie lief sie denn im Gesamten bisher ab?

Die Ukrainer führten etwa ein Dutzend Angriffe in drei Hauptrichtungen durch. Es ist jedoch schwierig, diesen Angriffen ein bestimmtes operatives Ziel zuzuordnen. Tatsächlich scheinen die Ukrainer in der aktuellen Situation kein bestimmtes territoriales Ziel zu verfolgen, sondern lediglich einen Erfolg zu erzielen, den sie dem Westen präsentieren können. Unsere «Experten» nennen das «gewaltsame Aufklärung». Es kann schon sein, dass die Ukrainer diese gewaltsame Aufklärung betrieben haben, aber es ist fraglich. Ich selbst war als junger Leutnant in einem Aufklärungsbataillon, das für gewaltsame Aufklärung vorgesehen  war. Die gewaltsame Aufklärung wird nicht mit den stärksten Waffensystemen, sondern mit hochmobilen leichten Mitteln durchgeführt. Es geht nicht darum, die feindliche Verteidigung zu durchbrechen, sondern ihre Zusammensetzung und Stärke zu erkennen. Wird eine Verwundbarkeit festgestellt, dann werden stärkere Mittel eingesetzt. 

Aber hier hat die Ukraine direkt mit dem stärksten und schwersten Gerät begonnen. Meiner Meinung und meiner Erfahrung nach ist dies keine gewaltsame Aufklärung, sondern eher ein Hauptangriff, der jedoch erfolglos war. Daher kann man sagen, dass diese Offensive ein totaler Misserfolg ist. Im Westen wird das niemand zugeben, aber man spürt in den USA und auch in der Ukraine grosse Zweifel am Erfolg dieser Gegenoffensive. Selenskij muss diese Gegenoffensive durchführen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann heisst das doch, dass Selenskij seine Soldaten sinnlos verheizt, Kanonenfutter also. Dennoch vermitteln unsere Medien ein positives Bild von der ukrainischen Armee. Wie steht es tatsächlich um sie?

Wir haben eine ganz falsche Vorstellung von der Lage in der Ukraine. Ich habe vor kurzem ein Interview mit General Petraeus43 gesehen. Darin sagte er, die Russen würden schlecht kommandiert, sie hätten unfähige Leute etc., aber die Ukrainer würden gut kommandiert, hätten gut ausgebildetes Personal etc. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Die ukrainische Armee, die man heute sieht, ist nicht die gleiche wie vor einem Jahr, als sie noch existierte. Ein Reporter des «New Yorker», der eine ukrainische Einheit an der Front besuchte, stellte fest, dass die Männer «Zivilisten ohne (Kampf-)Erfahrung» waren und nur 30 Prozent der Truppe kampffähig waren.44

Es wird immer deutlicher, dass ein entscheidender Faktor für die russischen Erfolge die systematische Unterschätzung ihrer Kapazitäten ist. Vereinfacht gesagt, neigt der verteidigende Akteur in einem Krieg traditionellerweise dazu, seine Stärken durch Propaganda (wörtlich: «das, was wert ist, verbreitet zu werden») zu betonen, um stärker zu erscheinen, als er tatsächlich ist. Beim Angreifer ist es umgekehrt: Er muss seine Stärke verbergen, also muss er Desinformation betreiben, um schwächer zu erscheinen. Ironischerweise scheinen sich im Ukraine-Konflikt die Rollen zu vertauschen: Die Ukrainer betreiben Desinformation, während die Russen Propaganda betreiben. Die «post mortem»-Analyse der Informationen beider Seiten zeigt, dass die Ukrainer ihre eigenen Misserfolge auf die Russen projizieren, während diese versuchen, ihre Erfolge zu betonen.

Das Besondere an diesem Konflikt ist, dass Russland keine Desinformation zu betreiben braucht: Unsere Medien machen das für sie! Durch diese Desinformation wurden die russischen Fähigkeiten systematisch unterschätzt und die westliche/ukrainische Strategie an dieses Narrativ angepasst. Beispielsweise berichtete «RTS» im April 2023 über die «degradierten konventionellen militärischen Fähigkeiten» Russlands.45 Aber zur gleichen Zeit behauptet General Christopher Cavoli, Kommandeur des US-European-Command, vor einem Ausschuss des US-Kongresses, dass «Russlands Fähigkeiten in der Luft, auf See, im Weltraum, digital und strategisch während dieses Krieges nicht wesentlich beeinträchtigt wurden».46 Unsere Medien belügen uns also. Noch schlimmer ist jedoch, dass sie die Ukrainer belügen. So erklären ukrainische Kriegsgefangene, dass sie in die Schlacht getrieben wurden, indem man ihnen sagte, dass die «Russen schwach, schlecht ausgerüstet und müde seien».47

Bereits im März 2022 behauptete der französische Oberst Goya, dass Russland innerhalb von drei Wochen keine Raketen mehr haben würde.48 Ebenso behauptete die «NZZ» im Oktober 2022: «Russlands Arsenale leeren sich. Besonders die Produktion hochpräziser Raketen lässt sich nur schwer ankurbeln. Das wird für den Kreml zu einem wachsenden Problem49 Doch im Juni 2023 erklärte das sehr antirussische CSIS: «Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Russland jemals die Raketen ‹ausgehen› werden».50 Die Analyse der von Russland abgefeuerten Raketen zeigt, dass sie nicht nur ständig verbessert werden, sondern auch die Produktion sehr aktiv ist.51

In Wirklichkeit fehlt es den Russen an nichts.52 Der Konflikt in der Ukraine kostet sie bedeutend weniger als unsere Experten behaupten.53 Ihre Kriegsindustrie ist voll funktionsfähig und in der Lage, die von ihr produzierte Ausrüstung sehr schnell an veränderte Taktiken anzupassen. Dies gilt beispielsweise für die Software zur Bekämpfung der vom Westen gelieferten intelligenten Munition, wie HIMARS oder selbstlenkende Artilleriemunition.

Die ukrainische Armee ist ein «Patchwork» aus verschiedenen Systemen, die ursprünglich für verschiedene Armeen gebaut wurden, mit unterschiedlichen Einsatzphilosophien und unterschiedlichen technischen Lösungen. Für die ukrainische Führung ist es äusserst schwierig, diese Systeme in einem kohärenten Kampf der verbundenen Waffen einzusetzen.

Es gab Meldungen, wonach die Ukraine russische Infrastruktur angegriffen habe. Wie bedeutungsvoll sind solche Angriffe? Haben sie einen Einfluss auf den Kriegsverlauf?

Nein, das hat überhaupt keine Auswirkungen gehabt. Wenn die Ukraine angegriffen hatte, ging das meistens gegen zivile Infrastrukturen. Aber die waren so weit weg von der Front, dass es keine Auswirkungen auf die Operationen gehabt hat. Es gibt sehr viele Angriffe mit sehr wenig Erfolg, weil die meisten Attacken abgewehrt beziehungsweise die Geschosse abgefangen werden. 

In unseren Medien wird das ganz anders dargestellt, nämlich es sei ein grosser Erfolg für die ukrainische Armee.

Nein, das ist falsch. Das ist genau das, was unsere Medien machen: Sie wecken falsche Hoffnungen, indem sie die Fähigkeiten der Russen minimieren und die kleinen Erfolge der Ukrainer maximieren. Das ist eine Mischung von Desinformation und Propaganda und widerspiegelt nicht die Realität auf dem Feld. Das ist tragisch, denn aufgrund dieser unrealistischen Einschätzung stossen wir die Ukrainer in einen Kampf, der hoffnungslos ist. Die USA wussten von Anfang an, dass die Gegenoffensive zu sehr hohen Verlusten für die Ukrainer führen würde, da sie diese berechnet hatten.54 Wir wussten es also. Das ist die perverse Rolle unserer Medien. Anstatt die Situation richtig darzustellen, um vielleicht eine vernünftigere Lösung zu finden, ermutigt man die Ukraine, diese Offensive zu führen, obwohl man genau weiss, dass sie scheitern wird. Kein seriöser Experte behauptet heute, dass die Ukraine die Krim zurückerobern oder bis zum Asowschen Meer vordringen könnte.

Und dabei werden wieder hunderte junger Menschen geopfert…

Unsere Medien berichten natürlich nie über die Verluste an Menschenleben in der Ukraine. Beachten Sie, dass sie auch nie über die Verluste im Donbas zwischen 2014 und 2022 berichten. Es lässt sich nachweisen, dass für die Journalisten der Schweizer Medien die Slawen «Untermenschen» sind, deren Leben bedeutungslos ist. Die Hauptsache ist der Kampf gegen Russland (und nicht nur gegen Wladimir Putin). Aus diesem Grund haben Medien wie der «Blick», die «NZZ» oder «RTS» in der Schweiz, «LCI» und «France 5» in Frankreich und «RTBF» in Belgien systematisch versucht, die ukrainischen Verluste herunterzuspielen.

Die Realität sieht ganz anders aus. Zunächst einmal muss man bedenken, dass die Russen zehnmal mehr Artilleriegeschosse abfeuern als die Ukrainer.55 Zweitens rechnet man allgemein damit, dass 65 bis 75 Prozent der Verluste auf die Artillerie zurückzuführen sind.56 Man kann davon ausgehen, dass auf jeden getöteten Russen zehn bis elf ukrainische Tote kommen. Nach Meinung einiger könnte dieses Verhältnis sogar 17 zu 1 betragen! Das sind natürlich nur Zahlen, aber ein Bericht des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew vom 29. Juni zeigt, dass 63 Prozent der Ukrainer mindestens drei Personen kennen, die bei den Kämpfen getötet wurden, und 78 Prozent kennen mindestens sieben Personen, die getötet oder verletzt wurden.57 Das erklärt, warum die ukrainischen Jugendlichen keine Lust mehr haben zu kämpfen. Laut dem «Spiegel» erfinden Leopard 2-Besatzungen Probleme bei ihren Panzern, um nicht in den Kampf ziehen zu müssen.58 Es wird aber auch festgestellt, dass sie ihre Ausrüstung schlecht kennen und Bedienungsanleitungen auf Deutsch entziffern müssen. All dies motiviert nicht sehr.

Quelle: Kiyv International Institure of Sociology

Quelle: Kiyv International Institure of Sociology

Dies erklärt die Verschärfung des Militärstrafgesetzes Ende 2022/Anfang 2023 zur Bekämpfung von Desertion,59 die Ausweitung der Rekrutierungskriterien zur Bekämpfung der wachsenden Abneigung junger Menschen, zur Verteidigung des Regimes zu gehen60 und die Massnahmen zur allgemeinen Mobilmachung in mehreren Oblasten der Ukraine.

Was hat es mit der Geschichte mit Prigoschin auf sich, die in unseren Medien so hochgespielt wird?

Das ist ein sekundäres Problem. Um es zu verstehen, muss man zu den Fakten zurückkehren, denn unsere Medien haben es nicht richtig dargestellt. Ende Oktober 2022 unterzeichnete General Surowikin einen 6-monatigen Vertrag mit Wagner zur Vernichtung des Feindes in Bachmut. Das Ziel bestand nicht darin, die Stadt einzunehmen, sondern den Feind dort zu vernichten, im Einklang mit Surowikins Strategie und dem von Wladimir Putin am 24. Februar 2022 formulierten ursprünglichen Ziel der «Demilitarisierung». Dies war die Operation «Fleischwolf».

In der Tat scheint die «New York Times» die russische Strategie sehr gut verstanden zu haben, denn in ihrer Ausgabe vom 27. November 2022 schreibt sie unter Bezugnahme auf die beginnende Schlacht um Bachmut sehr deutlich, dass die Stadt ein «ressourcenintensives schwarzes Loch für Kiew» sein wird.61 In der Tat scheinen nur die europäischen Medien und Politiker nicht verstanden zu haben, was auf dem Spiel stand.

Wagner ist keine militärische Einheit und nicht in die russische Kommandostruktur integriert. Wagner hat keine Artillerie, erhält aber Munition, um seinen Auftrag zu erfüllen. Am 17. Februar 2023 beschuldigte Prigoschin das Moskauer Kommando, den Untergang Wagners zu wollen, indem es ihm nicht genügend Artilleriemunition zuweise. Die Realität ist ein wenig nuancierter. Erstens: Ukrainischen Quellen zufolge haben die russischen Streitkräfte ihren Verbrauch an Artilleriegeschossen auf 20 000 Schuss pro Tag reduziert.62 Dies ist schwer zu verifizieren, könnte aber mit den Vorbereitungen – auf beiden Seiten der Frontlinie – auf die grosse ukrainische Gegenoffensive im Frühjahr erklärt werden. In dieser Phase ist die russische Armee bestrebt, ihre in der Donbas-Region konzentrierten Fähigkeiten auf die gesamte Frontlinie auszudehnen Als Reaktion auf diese Behauptungen erklärte das russische Verteidigungsministerium, es habe Wagner für zwei Tage (18. bis 20. Februar) 1660 Raketen für Mehrfachraketenwerfer und 10 171 Artilleriegranaten zur Verfügung gestellt.63 Das sind über 800 Raketen und 5000 Granaten pro Tag. Mit anderen Worten: Wagner hätte allein im Sektor Bachmut mehr Artilleriemunition pro Tag zur Verfügung gehabt als die gesamte ukrainische Armee im gesamten Einsatzgebiet!64

Die Anschuldigungen Prigoschins erscheinen daher unbegründet: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass das russische Verteidigungsministerium Wagner schaden wollte. Ende April 2023 läuft der Sechsmonatsvertrag aus, und das Ziel, den Feind in Bachmut zu vernichten, ist erreicht. Die russische Armee stellt daher ihre Artillerie- und Logistikunterstützung für Wagners Truppen ein, die abgezogen und durch reguläre russische Truppen ersetzt werden sollen.

Das Problem war, dass Wagners «Musiker» die Stadt Haus für Haus einnehmen mussten, um die ukrainischen Truppen zu vernichten. So blieb Ende April, obwohl Wagner seinen Vertrag erfüllt hatte, ein kleiner Teil der Stadt unter ukrainischer Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt bat Prigoschin um die Erlaubnis, die Arbeit zu Ende zu bringen, die letzten Widerstandsnester zu beseitigen und die Kontrolle über die gesamte Stadt zu übernehmen.

Dies erklärt das Psychodrama von Anfang Mai 2023, als Prigoschin forderte, dass ihm die Mittel zur weiteren Einnahme von Bachmut zur Verfügung gestellt würden.65 Sein sehr virulenter und aggressiver Ton gegenüber Schoigu und Gerassimow liess die westlichen Medien über die interne Spaltung66 des russischen Lagers und einen möglichen «Putsch»67 gegen das Moskauer «Regime» phantasieren.

Russland braucht keine Kontroversen, um die westliche Propaganda zu nähren. Um die Lage zu beruhigen und vor allem die «Akte Bachmut» ein für alle Mal zu schliessen, stimmte das russische Verteidigungsministerium einer Verlängerung von Wagners Vertrag zu.68 Der Vertrag endete am Tag nach der Einnahme der Stadt, am 21. Mai 2023, und Wagners Truppen wurden aus dem Einsatzgebiet abgezogen. Das Verteidigungsministerium teilte daraufhin mit, dass Wagners Einsatz in Bachmut eine Ausnahme gewesen sei und dass man nicht mehr auf private Streitkräfte zurückgreifen wolle. Das Problem ist, dass die Einbindung privater Truppen in einen Kampf der verbundenen Waffen zahlreiche Probleme mit sich bringt. So sollten ab dem 1. Juli die Wagner-Kampftruppen aufgelöst werden, und ihre Angehörigen hätten Möglichkeiten, sich der russischen Armee anzuschliessen. Prigoschin wollte sein Unternehmen natürlich nicht auflösen. Das Wagner-Militär hatte die Möglichkeit, sich der russischen Armee anzuschliessen, aber die Wagner-Kampftruppen würden dann aufgelöst werden. Sicherheitsmissionen, zum Beispiel in Afrika, würden hingegen fortgesetzt.

Dies ist der Hintergrund der Ereignisse von vor zwei Wochen. Prigoschin wollte die Auflösung seines Kampfverbands verhindern und wollte direkt – von Angesicht zu Angesicht – mit Generalstabschef Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu verhandeln. Er hatte absolut nichts gegen Putin, wie in unseren Medien behauptet wurde. Es handelte sich um einen Unternehmer, der sein Geschäft retten wollte, und nicht um eine politische Angelegenheit, wie unsere Medien behaupteten. Der Marsch auf Moskau war kein Putschversuch, es ging nicht darum, die Regierung zu stürzen, und auch nicht darum, Gerassimow und Schoigu zu stürzen, sondern Prigoschin wollte beide zu Gesprächen zwingen.

In unseren Medien wird darüber berichtet, dass Putin deswegen geschwächt sei. Sie reden davon, dass er Ende Jahr sein Amt abgeben werde. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür?

Nein, das sind Lügen. Putin war nie im Visier von Prigoschin. Das sind Behauptungen, die von verschwörungstheoretischen Journalisten aufgestellt wurden. Es handelte sich im Wesentlichen um ein Problem der «Humanressources». Es war weder politisch noch strategisch, obwohl Prigoschin mehrmals sagte, dass er eine offensive Strategie einer defensiven Strategie vorziehen würde, wie General Surowikin entschieden hatte. Dieses Ereignis hatte absolut keine politischen Konsequenzen. In Russ­land weiss jeder, was passiert ist. Im Gegenteil, es zeigt sich, dass Prigoschin trotz des Prestiges, das seine Truppen in der Schlacht von Bachmut erlangt hatten, keinerlei politische Unterstützung erhielt. Keine politische Partei nutzte die Gelegenheit, um eine Aktion durchzuführen, nicht einmal die Fans von Nawalny. Unsere Journalisten scheinen zu vergessen, dass Politiker nicht danach beurteilt werden, ob es Krisen gibt, sondern danach, wie sie diese lösen. Dasselbe galt für die Covid-Krise bei uns: Das Problem war nicht, dass wir diese Krise hatten, sondern dass wir nicht wussten, wie wir sie geschickt lösen konnten! Im Fall von Wagner hat Wladimir Putin das Problem innerhalb von 24 Stunden gelöst, ohne dass es eskalierte. Das ist es, was die Russen letztlich behalten haben.

Die westlichen Fantasien und Spekulationen sind reine Propaganda und Desinformation. Sie spiegeln jedoch die Art und Weise wider, wie unsere Medien den Konflikt seit 2014 darstellen: Sie halten ihr Wunschdenken für Realität. Das ist eine Art, Krisen zu bewältigen. Das ist genau das, was derzeit in Frankreich passiert. Dort wird angewandt, was die Franzosen die «Coué-Methode» nennen. Man redet sich ein, dass alles gut ist, und macht weiter. So haben sie es 60 Jahre lang mit der Einwanderung gemacht! So haben sie es mit dem Minsker Abkommen gemacht und so tun sie es immer noch, um den Konflikt in der Ukraine darzustellen.

Das Ganze ist letztlich eine menschliche Katastrophe!

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 12.Juli 2023

Dieses Interview ist auch in französischer Sprache erschienen.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

¹ https://studfile.net/preview/7511393/page:4/
² https://www.bbc.com/news/world-europe-65615184
³ https://www.dialog.ua/russia/267455_1675683736
4 https://www.lemanbleu.ch/fr/Emissions/189661-Geneve-a-Chaud.html
5 https://constitutions.ru/wp-content/uploads/specnaz.pdf
https://hromadske.radio/ru/news/2023/02/02/okhotnyky-za-leopardamy-okkupant-zavezly-na-donbass-ustroystva-kotor-e-iakob-mohut-popast-v-tanky-zapadnoho-obraztsa
7 https://www.liberation.fr/international/guerre-en-ukraine-a-ce-rythme-les-russes-nont-plus-de-missiles-dans-trois-semaines-20220323_LTACIYGPW5G5XGOKTQL3LJRSQQ/
8 https://www.blick.ch/ausland/ausruestung-immer-schlechter-mit-dieser-rost-munition-muessen-putins-soldaten-kaempfen-id18343393.html
9 https://www.dhnet.be/actu/monde/2022/08/24/la-russie-fait-face-a-une-penurie-de-munitions-de-vehicules-et-de-personnel-leur-moral-est-au-plus-bas-V7KDYW7UAJCH3MNO4BNJUXBS6E/
10 https://nepassubir.fr/2023/06/18/loperation-de-liberation-de-lukraine-nest-encore-ni-un-echec-ni-un-succes-puisquelle-est-en-cours/
11 https://www.president.gov.ua/documents/1172021-37533
12 https://www.independent.co.uk/news/world/europe/ukraine-million-army-russia-weapons-b2120445.html
13 https://www.lepoint.fr/monde/ayant-epuise-tout-son-armement-l-ukraine-depend-totalement-des-allies-09-06-2022-2478984_24.php
14 Emily McGarvey, «Ukraine aims to amass 'million-strong army' to fight Russia, says defence minister», BBC News, 11 July 2022 (https://www.bbc.com/news/world-europe-62118953)
15 https://www.pravda.com.ua/eng/news/2023/06/4/7405242/
16 https://www.nzz.ch/international/krieg-gegen-die-ukraine/warum-russland-im-kampf-um-kiew-scheiterte-ld.1679477?reduced=true
17 https://www.cnn.com/europe/live-news/russia-ukraine-war-news-06-16-23/index.html
18 https://responsiblestatecraft.org/2023/06/13/is-the-us-military-more-intent-on-ending-ukraine-war-than-us-diplomats/
19 https://www.independent.co.uk/news/world/europe/ukraine-counteroffensive-russian-losses-putin-b2334687.html
20 https://twitter.com/OleksiyDanilov/status/1676118862998257664
21 «Суровикин: российская группировка на Украине методично "перемалывает" войска противника», TASS, 18 octobre 2022 (https://tass.ru/armiya-i-opk/16090805)
22 https://www.thetimes.co.uk/article/ukraine-isn-t-ready-for-its-big-offensive-but-it-has-no-choice-b7qrq3vcr
23 https://www.voanews.com/a/biden-us-will-support-ukraine-as-long-as-it-takes-/6953138.html
24 https://euromaidanpress.com/2023/04/27/eu-ambassadors-again-failed-to-agree-on-joint-procurement-of-ammunition-for-ukraine-media/
25 https://kyivindependent.com/spiegel-poland-and-germany-cannot-agree-on-repair-center-for-leopard-tanks-used-by-ukraine-in-war/
26 https://www.euronews.com/my-europe/2023/05/05/if-we-dont-support-ukraine-ukraine-will-fall-in-a-matter-of-days-says-josep-borrell
27 https://doi.org/10.1108/OXAN-ES274684
28 https://defence24.com/armed-forces/slovakia-restarts-production-of-post-soviet-munitions-to-support-ukraine

29 https://euromaidanpress.com/2023/06/02/japan-will-supply-tnt-explosives-to-the-us-to-increase-the-155mm-artillery-shells-production/
30 https://www.forbes.com/sites/davidaxe/2023/06/13/as-losses-pile-up-ukraine-needs-a-lot-more-tanks-and-fighting-vehicles/
31 https://www.forbes.com/sites/davidaxe/2023/06/14/the-ukrainian-marine-corps-amx-10rc-recon-vehicles-didnt-last-long-in-a-frontal-assault-on-russian-defenses/?sh=41f2c254103f
32 https://youtu.be/vP6NdM5hEPk
33 https://static.rusi.org/403-SR-Russian-Tactics-web-final.pdf
34 https://www.thedrive.com/the-war-zone/russian-capture-of-ukrainian-leopard-tank-bradleys-seen-in-video
35 Inder Singh Bisht, « UK Planning to Avoid Challenger Tank from Falling into Russian Hands », The Defense Post, 30 janvier 2023 (https://www.thedefensepost.com/2023/01/30/uk-challenger-tank-russian/)
36 https://twitter.com/ZelenskyyUa/status/1676336904285966336
37 https://www.pravda.com.ua/eng/news/2023/07/4/7409726/
38 https://www.theguardian.com/world/2022/jun/10/were-almost-out-of-ammunition-and-relying-on-western-arms-says-ukraine
39 https://www.businessinsider.com/zelenskyy-says-ukraine-received-faulty-air-defense-system-europe-ally-2023-3
40 https://www.businessinsider.com/zelenskyy-says-ukraine-received-faulty-air-defense-system-europe-ally-2023-3
41 https://fr.businessam.be/ukraine-armes-achat-livraison/
42 https://edition.cnn.com/europe/live-news/russia-ukraine-war-news-07-04-23/h_9ffed7e97423cb666d3e0079ec06e978?embed=true
43 https://youtu.be/L3qCYIPaPqU
44 https://www.newyorker.com/magazine/2023/05/29/two-weeks-at-the-front-in-ukraine
45 https://www.rts.ch/info/monde/13940354-des-documents-classifies-decrivent-des-luttes-intestines-dans-les-cercles-de-pouvoir-russes.html
46 https://armedservices.house.gov/sites/republicans.armedservices.house.gov/files/04.26.23 Cavoli Statement v2.pdf
47 https://twitter.com/MyLordBebo/status/1672196798297899010
48 https://www.liberation.fr/international/guerre-en-ukraine-a-ce-rythme-les-russes-nont-plus-de-missiles-dans-trois-semaines-20220323_LTACIYGPW5G5XGOKTQL3LJRSQQ/
49 https://www.nzz.ch/international/ukraine-putin-uebt-vergeltung-aber-russland-hat-zu-wenig-raketen-ld.1706697?reduced=true
50 https://www.csis.org/analysis/russia-isnt-going-run-out-missiles
51 https://breakingdefense.com/2023/05/weapons-tracing-shows-russia-firing-new-cruise-missiles-at-ukraine-just-weeks-after-production/
52 https://www.fraenkischertag.de/ueberregional/politik/bnd-chef-russland-setzt-in-der-ukraine-auf-zeit-und-masse-art-258525
53 https://markets.businessinsider.com/news/commodities/russia-economy-spending-war-ukraine-defense-budget-gdp-europe-investing-2023-6
54 https://www.defense.gov/News/Transcripts/Transcript/Article/3433535/deputy-pentagon-press-secretary-sabrina-singh-holds-a-press-briefing/
55 https://english.elpais.com/international/2023-03-01/ukraine-outgunned-10-to-1-in-massive-artillery-battle-with-russia.html
56 https://matthew.krupczak.org/2021/04/10/medical-department-u-s-army-wound-ballistics-causative-agents-of-battle-casualties-in-wwii/

57 https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1254&page=1&y=2023&m=6
58 https://www.spiegel.de/international/world/on-the-front-in-ukraine-going-into-battle-in-a-leopard-2-tank-a-9baffb53-1e5b-4a18-8ec5-173d067721af
59 «Zelensky Signs Controversial Law Toughening Punishment for Desertion in Army », AFP/Kiyv Post, 25 janvier 2023 (https://www.kyivpost.com/post/11498)
60 https://www.lemonde.fr/en/international/article/2023/04/07/in-ukraine-military-recruitment-is-struggling_6021970_4.html#
61 https://www.nytimes.com/2022/11/27/world/europe/ukraine-war-bakhmut.html
62 https://en.defence-ua.com/industries/russia_spends_20000_artillery_shells_per_day_production_cannot_keep_up_with_such_rates_ukraines_intelligence_chief-5312.html
63 https://function.mil.ru/news_page/country/more.htm?id=12455382@egNews
64 https://www.nytimes.com/2022/11/25/us/ukraine-artillery-breakdown.html
65 https://t.me/Prigozhin_hat/3251
66 https://www.cnn.com/2023/05/05/europe/wagner-prigozhin-russia-ukraine-analysis-intl/index.html
67 https://www.cnn.com/2023/05/24/europe/wagner-prigozhin-russia-manpower-ukraine-intl/index.html
68 https://www.cnn.com/2023/05/05/europe/wagner-military-group-prigozhin-ammunition-tirade-intl-hnk-ml/index.html

«Die Menschenrechte werden zunehmend politisiert und als Waffen eingesetzt»

«Wer die Menschenrechte liebt, muss dafür sorgen, dass die Institutionen saniert werden»

Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger

Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)
Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Herr Professor de Zayas, Sie haben ein Buch über die Menschrechtsindustrie geschrieben, obwohl Sie lange an der Uno gearbeitet haben und am Schluss ein Mandat über die Förderung einer demokratischen und friedlichen internationalen Ordnung bekleideten. Warum schreiben Sie ein Buch mit solch einem Titel?

Prof. Dr. Alfred de Zayas Gerade weil ich die Menschenrechte fördern will, darum will ich auf die Krankheiten der Institutionen hinweisen. Dabei bleibe ich nicht bei einer pessimistischen Diagnose, ich bemühe mich, eine mögliche Prognose zu formulieren, nämlich konkrete Sanierungsvorschläge für alle im System der Förderung der Menschenrechte.

Ich schrieb eine Menschenrechts-Trilogie: «Building a Just World Order» (2021), «Countering Mainstream Narratives» (2022) und nun «The Human Rights Industry» (2023), weil ich eben fünf Jahrzehnte meines Lebens der Förderung der Menschenwürde gewidmet habe. Ich sage bewusst Menschenwürde, denn alle Menschenrechte sind nur ein Ausdruck der Menschenwürde. Hinzu kommen die kodifizierten Menschenrechte, die allerdings sehr unvollständig sind, zum Beispiel das fundamentale Recht auf Frieden, das Menschenrecht auf die eigene Identität, auf die eigene Sprache und Kultur sind in der allgemeine Erklärung der Menschenrechte nur unvollständig beziehungsweise nicht expressis verbis formuliert. Dasselbe gilt für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Leider werden die Menschenrechte zunehmend politisiert und als Waffen eingesetzt, als allgemeine Kalaschnikows, die man gegen politische Rivalen verwendet. Anstatt die universale Solidarität und internationale Kooperation, die Menschenrechte in allen Ländern zu fördern, instrumentalisieren die Politiker und Diplomaten die Menschenrechte, um andere Länder zu dämonisieren, um künstliche Krisen zu erzeugen, die dann als Vorwand beziehungsweise Gelegenheit dienen, eine sogenannte «humanitäre Intervention» durchzuführen und einen undemokratischen «Regime Change» zu erzwingen.

Ist das neu, dass man die Menschenrechte vermehrt missbraucht?

Es war nicht so, als ich mich in den 60er Jahren um den Frieden in Vietnam, um die Menschenrechte der Autochtonen Amerikas und Kanadas, um die Alphabetisierung der Bevölkerung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens bemühte, und für Meinungsfreiheit in Harvard 1967 bis 1970 plädierte. Die Situation war in den 70er Jahren auch anders, als ich als junger Anwalt bei Cyrus Vance an der Wall Street meine juristischen Dienste auch pro bono in den Armenvierteln Manhattans zur Verfügung stellte (Die Cyrus-Vance-Kanzlei befürwortete diese Aktivitäten). Es war anders, als ich am Max-Planck-Institut in Heidelberg unter Prof. Karl Doehring und Prof. Rudolf Bernhardt wissenschaftlich arbeitete. Es war anders, als Professor Theo van Boven mich im Jahre 1980 in die Menschenrechtsabteilung der Vereinten Nationen nach Genf holte.

Wie gehen Sie heute mit der veränderten Lage um?

Es tut weh, wenn man feststellt, wie sehr die Menschenrechte korrumpiert worden sind. Es tut weh, wenn man die Selektivität und doppelte Moral des heutigen Menschenrechtssystems konstatiert. Es tut weh, die Erklärungen von mehreren Hochkommissaren für Menschenrechte zu den Flüchtlingen zu lesen, wenn sie, anstatt Präventiv zu wirken, nur ex post facto verdammen – und dann nur bestimmte Staaten wie Kuba, Nicaragua, Venezuela, Syrien, China, Russland, Belarus etc.

Es ist allzu offensichtlich, wie diese Hochkommissare nur bestimmte Länder und Politiker anprangern – und die anderen schonen. Diese Hochkommissare lieben die Konfrontation und scheuen die ruhige Diplomatie, meiden die Mediation und konstruktive Kooperation. Sie praktizieren «Naming and shaming» (Nennen und Beschämen) – anstatt Ländern dabei zu helfen, die fundamentalen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, die Ursache von so vielen Menschenrechtsverletzungen sind.

Damit wird das Amt zur Farce, wenn man sich nicht mehr ehrlich und redlich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt. Was hat das für Auswirkungen?

Besonders ärgerlich ist es, wenn die Uno-Hochkommissare und mehrere Uno-Sonderberichterstatter sogar die unilateralen Zwangsmassnahmen gegen Kuba, Nicaragua, Venezuela befürworten, obwohl sie «kollektive Bestrafung» darstellen, obwohl Zehntausende Menschen wegen dieser illegalen Zwangsmassnahmen verstorben sind, weil man ihnen den Zugang zu Medikamenten, Dialyseapparaten, Beatmungsgeräte usw. verweigert. Es tut weh, wenn man denkt, dass diese Aberrationen beziehungsweise diese Ungerechtigkeiten mit vollkommen falschen Argumenten gerechtfertigt werden, wenn man sie im Namen der Menschenrechte auferlegt. Fazit: Sanktionen töten, und dies als «friedens-» oder «menschenrechtsfördernde» Massnahmen zu verkaufen und weiss zu waschen, ist eine Blasphemie, ein Sakrileg.

Wie haben Sie versucht, hier Einfluss zu nehmen?

Mehr als fünfzig Jahre war ich bemüht, in verschiedenen Rollen die Menschenrechte zu fördern – als Bürger, NGO-Aktivist, Akademiker, Uno-Beamter, Konsultant, Panellist im Menschenrechtsrat, Präsident von NGO’s mit Uno-Konsultativstatus, Sonderberichterstatter und als Buchautor. Darum kenne ich die Probleme, an der die Menschenrechtsinstitutionen leiden aus eigener Erfahrung. Ich möchte die Probleme beim Namen nennen und realistische Lösungsvorschläge anbieten. Ich kritisiere, weil ich liebe. Ich bin nach wie vor ein überzeugter Kämpfer für die Menschen und für ihre Menschenrechte. Wie das Sprichwort lautet: «Ein wahrer Freund ist derjenige, der dir die Wahrheit sagt, statt dir zu erzählen, dass du stets die Wahrheit sprichst.» Wer die Menschenrechte liebt, muss dafür sorgen, dass die Institutionen saniert werden, damit sie effektiver wirken, und nicht nur pro forma arbeiten.

Welche Uno-Organisationen sind hier besonders anfällig, die Fahne nach dem Wind zu drehen?

Das Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, der Menschenrechtsrat, die Uno-Sonderberichterstatter, die Uno-Spezial-Kommissionen, der Internationale Strafgerichtshof, die Organisation für das Verbot der chemischen Waffen, der Europäische Gerichtshof, der Inter-Amerikanische Gerichtshof etc. Weniger korrumpiert ist der Internationale Gerichtshof, aber auch diese Institution ist politisiert und manche Entscheidungen sind nicht juristisch, sondern politisch-opportunistisch motiviert. Alle diese Institutionen stehen zunehmend im Dienste des «Collective West», im Dienste Washingtons und Brüssels, und vergessen dabei die Menschenrechte von Millionen Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien. 

Ich spreche selten von Korruption und verwende lieber das Wort «Instrumentalisierung» der Menschenrechte. Natürlich besteht auch eine Korruption durch die Staaten und Korporationen, die versuchen, die Menschenrechte für die eigenen Zwecke einzusetzen, Zwecke, die der Menschenwürde diametral entgegen stehen. Es gibt eine Korruption durch Spenden, denn die Institutionen wollen immer mehr Geld, und so verkaufen sie sich freiwillig an die ­Spender, unter anderem an George Soros und seine vielen Organisationen. Korruption bedeutet auch die Zerstörung der Sprache, wie von ­Aldous Huxley (Brave new world) und George Orwell (1984) vorausgesehen wurde. Man leidet an kognitiver Dissonanz. Frieden ist Krieg, Freiheit ist Sklaverei usw.

Wenn die Institutionen Worte wie «Demokratie», «Rechtsstaat», «Fortschritt» verwenden, muss man sich in Acht nehmen, denn oft meinen sie etwas ganz anderes, als wir denken. 

Was könnte man dagegen unternehmen, um der unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten?

Man muss den Informationskrieg gewinnen. Im «kollektiven Westen» sind die Medien in den Händen der Oligarchen, Imperialisten, Kriegstreiber – die man fälschlicherweise als unsere «Eliten» bezeichnet. Um sich verteidigen zu können und gegen die täglichen Aggressionen der Medien zu schützen, müssen wir Zugang zu allen Informationen haben. Dies wird ständig schwieriger, denn wir schwimmen in einem Ozean von Fake News, Fake History, Fake Law, Fake Diplomacy und Fake Freedom.

Wir müssen nicht nur die «New York Times», «Washington Post», «CNN», «BBC», «FAZ», «NZZ» konsultieren, sondern auch andere Informationsquellen wie zum Beispiel «Le MONDE diplomatique», «Die Weltwoche», «Zeitgeschehen im Fokus», «Zeit-Fragen», «Schweizer Standpunkt», «Counterpunch», «Consortium News, «Truthout», «Greyzone», «Democracy Now», «the Real News Network», usw. Man muss auch die Meinungen von anderen Ländern und Kulturen lesen – «Asia Times», «CGTN», «Global Times», «Xinhua», «Russia Today», «Sputnik», «Telesur». 

Wir müssen auch unsere «Whistleblower» ehren und gegen die Verfolgung durch die Staaten schützen. Wir brauchen mehr Whistleblower, echte Pilaren der Demokratie, denn wir haben ein Recht zu wissen, was unsere Politiker in unserem Namen tun. Julian Assange und Edward Snowden sind Helden unserer Zeit. Als Sonderberichterstatter habe ich mich wiederholte Male für eine «Charter of Rights of Whistleblowers» eingesetzt.

In wessen Auftrag arbeitet der Hochkommissar für Menschenrechte?

Die Aufgaben des Hochkommissars sind in Resolution 48/141 definiert. Nicht alle Hochkommissare halten sich daran. Der beste Hochkommissar war vielleicht der «Deputy High Commissioner», später «Acting High Commissioner for Human Rights», Bertrand Ramcharan aus Guyana (2002 bis 2004), der dem getöteten Hochkommissar Sergio Viera de Mello folgte. Er war ein Uno-Beamter vom P-1 bis zum Under-Secretary General, aber er erhielt den Titel Hochkommissar nie, denn er war kein Politiker oder ehemaliger Politiker, und wollte sich auch nicht verkaufen. Auch sehr professionell und engagiert war Navi Pillay aus Südafrika (2008 bis 2014). Man muss leider feststellen, dass viele Hochkommissare versagt haben, geschwiegen haben, wenn ihre Stimme nötig war, und mit den Wölfen geheult haben, als es «politisch korrekt» und dem Zeitgeist gemäss war. Ich denke an eine Bemerkung des sowjetischen Dissidenten Jewgeni Jewtuschenko, der sagte :

«When truth is replaced by silence, the silence is a lie.» «Wenn die Wahrheit durch Schweigen ersetzt wird, ist das Schweigen eine Lüge.» Viele Hochkommissare schweigen über die Verbrechen der Vereinigten Staaten und der Nato, über den westlichen Imperialismus, die Ausbeutung der «Dritten Welt», über Erpressung und Kriegstreiberei.

Sie sprechen in Ihrem Buch von der Instrumentalisierung der Menschenrechte. Inwiefern kann man das beobachten beziehungsweise  die Auswirkungen erkennen?

Mit Instrumentalisierung meine ich die Denaturierung der Werte, die die Menschenrechte schützen sollten. Ich habe bereits von Doppelmoral gesprochen, wobei Staaten, wo man eine «Colour Revolution» durchführen will, zunächst dämonisiert werden und ihre Präsidenten oder Regierungschefs als korrupt bezeichnet. Die Menschenrechte wurden instrumentalisiert gegen Saddam Hussein, um die Aggression gegen den Irak 2003 zu rechtfertigen. Dasselbe geschah mit Muammar Gaddafi im Jahre 2011. Dort haben die USA (Barack Obama und Hillary Clinton) eine anti-Gaddafi Kampagne losgelassen und dabei die «Opposition» unterstützt. Heute, 12 Jahre später, ist Libyen ein Chaos, ein «failed state», den wir bewusst verursacht haben. Die Zustände dort sind verheerend, Menschen leiden, aber die «Eliten» in Washington, London, Paris, Berlin scheren sich einen Dreck darum. – Hauptsache der Westen kontrolliert das lybische Öl! Ähnlich ist es in Syrien, wo Bashir Al Assad non-stopp diffamiert wird, in einem bisher erfolglosen Versuch, ihn zu stürzen. Jede «Colour Revolution» stellt eine Korrumpierung der Menschenrechte und eine menschenverachtende Haltung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker dar. Wir massen uns an, anderen Ländern zu sagen, wer sie regieren soll. Man denke an diese Figur Juan Guaidó in Venezuela. Diese Manipulationen geschehen im Namen der Menschenrechte. Ein Hohn, ein Skandal. 

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist immer die Rede von gemeinsamen Werten. Selenskij gilt als Kämpfer für die westlichen Werte. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Lächerlich. Selenskij ist kein Demokrat, sondern ein Autokrat, der von korrupten ukrainischen Oligarchen abhängig war und ist. Er wurde für eine Friedenspolitik gewählt und hat genau das Gegenteil getan. Er ist eine Marionette Washingtons und Brüssels und fühlt sich gut dabei. Ein Problem liegt darin, dass der Westen, insbesondere die Europäer, nur Lippenbekenntnisse von ihren «Werten» abgeben. Die Europäische Union ist – unter dem Aspekt der Menschenrechte – eine leere Schale. Man redet von Menschenrechten, praktiziert aber knallharte Geopolitik. 

Die Nato sowie die EU betonen, dass sie die europäischen Werte verteidigen und bezeichnen sich als die Retter der Menschenrechte. Sie berufen sich auf die EMRK oder die Uno-Charta. Was ist das für eine Haltung?

Es ist eine Farce, aber eine Farce, die plausibel klingt, denn die manipulierten Medien wiederholen sie ad nauseam. Die Bevölkerung Europas ist indoktriniert worden, und man sorgt dafür, dass sie keine anderen Perspektiven hört. Darum werden «RT» und «Sputnik» überall in den EU-Ländern blockiert. Dies stellt eine eklatante Verletzung der EMRK und des Artikels 19 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte dar. 

Was müsste man unternehmen, damit die bisher mächtigen Staaten sich nicht das Recht herausnehmen, die Menschenrechte nach ihrem Gusto à la carte zu interpretieren?

Quis custodiet ipsos custodes? (Juvenalis, Satiren). Wer wacht über die Wächter? Genau dort liegt ein fundamentales Problem – nämlich, dass die Institutionen, die uns schützen sollen, uns systematisch belügen und verraten. Man kann sich nicht auf den Generalsekretär der Vereinten Nationen verlassen, der so oft geschwiegen, so oft versagt hat, genauso wenig auf den Hochkommissar für Menschenrechte bzw. Hochkommissar für Flüchtlinge. Im Grossen und Ganzen dienen sie den Interessen der Eliten des Westens. Ich sagte «Eliten», weil die Bevölkerung Amerikas, Kanadas, Grossbritanniens, Frankreichs, Deutschlands – alle leiden unter den stupiden Interventionen und Kriegen ihrer Regierungen, alle leiden an der Verschwendung des Haushalts für Panzer und Drohnen anstatt Schulen und Krankenhäuser zu bauen. Diese abnormale Situation wird aber nicht immer so bleiben. In Europa gibt es noch Politiker, die die Wahrheit sagen, wie zum Beispiel Viktor Orban. Mittlerweile sind die Afrikaner und Asiaten im Begriff aufzuwachen, und nun wollen sie ihre Stimmen erheben und ihre Interessen vertreten, denn sie haben auch Menschenrechte, und wir im Westen haben bestimmt kein Monopol.

Wie könnte man den Menschenrechten wieder zu ihrer ursprünglichen Bedeutung verhelfen?

Wir sind die Wächter. Es liegt an uns, die Politisierung des Menschenrechtsrates beim Namen zu nennen, die Instrumentalisierung des Menschenrechtsrates durch Washington, London, Brüssel abzulehnen. Wir müssen aktiver werden, uns nicht mehr belügen lassen – weder durch Politiker noch durch Diplomaten, und auch nicht durch Amnesty International und Human Rights Watch. In meinem Buch habe ich dokumentiert, wie diese und andere Nichtregierungsorganisationen im Dienste Washingtons und Brüssels stehen, wie sehr sie die geopolitischen Interessen Washingtons vertreten, und wie systematisch sie über wichtigere Sachen schweigen. 

Sie waren Präsident des PEN-Zentrums Suisse romande (2006 bis 2009 und wieder 2013 bis 2017), haben alle drei Schweizer PEN Clubs mehrfach vertreten, und heute sind Sie noch der PEN Delegierte zum Komitee der Schriftsteller für den Frieden. Wie ist die Tagung dieses Komitees 2023 verlaufen?

Die Tagung fand in Bled, Slowenien, vom 15. bis 18. Mai 2023 statt. Ich habe das PEN-Zentrum Suisse romande vertreten. Leider ist das Komitee inzwischen amerika- und europahörig geworden und agiert nicht mehr im Sinne des Bled Manifestos für den Frieden. Ich war entsetzt, als mehrere PEN-Zentren sich gegen die Mediation aussprachen und die Lieferung von Waffen an die Ukraine verlangten. Dies ist mit der Charta von PEN-International und mit dem Bled Manifesto nicht in Einklang zu bringen. Ich habe wiederholte Male die menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Aspekte des Krieges neutral und ausgewogen besprochen, und mehrere andere Zentren haben sich meiner Meinung angeschlossen. Aber eine Mehrheit der Zentren war für den Krieg und lehnten einen Waffenstillstand ab. Deshalb habe ich einen Entwurf einer prinzipiellen Resolution für den Frieden in der Ukraine verfasst, bezweifle aber, dass meine Resolution angenommen wird. Fazit: nicht nur Amnesty International und Human Rights Watch dienen dem «Washington consensus», sondern anscheinend auch PEN, wo mehr Kriegstreiber als Friedensmacher zu treffen sind.

Wie sieht es in der Zukunft aus?

Wir konstatieren, dass der Menschenrechtsrat, das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte, der Internationale Strafgerichtshof – alle haben noble Funktionen, die sie aber vernachlässigen. Man muss zur Spiritualität der Universalen Erklärung der Menschenrechte zurückfinden und wahre Helden wie Julian Assange, Edward Snowden, Jeffrey Sterling ehren. Ich habe mein Buch «The Human Rights Industry» diesen und 30 weiteren genannten Whistleblowern gewidmet.

Wir brauchen diese Institutionen – aber wir müssen dafür sorgen, dass sie saniert werden. Dafür brauchen wir Whistleblower und Politiker, die sich für den Menschen einsetzen, und nicht für abstruse Ideologien des Neo-Liberalismus und für die Geopolitik des Geldes. Meine 25 Prinzipien der Weltordnung, die ich bereits 2018 dem Uno-Menschenrechtsrat vorlegt habe, sind eine «roadmap» zur notwendigen Sanierung.

Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

veröffentlicht 12.Juli 2023

Wir und die Energiewende

von Dr. Ing. Stefan Nold

1996, als wir in den Ferien mit unseren Kindern die Nordseeküste entlang geradelt sind, kamen wir eines Abends nach Cuxhaven. Nachdem wir in der Jugendherberge unser Zimmer bezogen hatten, gingen wir zur Rezeption und fragten: «Wo geht es denn hier zum Strand?» «Jooaaa. Dann wollen wir mal gucken, ob Wasser da ist», sagte eine nette Dame und schaute auf den Gezeitenkalender. An der Nordsee legt die Ebbe Flächen mit Schlick frei, so weit das Auge reicht. 

Als wir kürzlich vor der Entscheidung standen, ob wir unsere Gasbrennwerttherme durch eine Wärmepumpe ersetzen oder eine neue Gasheizung einbauen lassen, musste ich an den flotten Spruch von damals denken und fragte mich: Wollen wir mal gucken, ob grüner Strom da ist? Das prüfen wir jetzt:

Berechnung des Pro-Kopf-Verbrauchs an elektrischer Leistung in Deutschland.

Abschätzung der zusätzlich erforderlichen elektrischen Leistung pro Kopf, wenn 80 % Wärmepumpen einsetzen. Wohnungen, die mit Fernwärme oder Einzelöfen beheizt werden (ca. 20 %)¹ lassen wir aussen vor.

Abschätzung der zusätzlich erforderlichen Kapazität an regenerativen Energien.

Bewertung der Umsetzbarkeit.

Schritt 1: Berechnung des Pro-Kopf-Verbrauchs an elektrischer Leistung

2022 in Deutschland erzeugte und verbrauchte elektrische Energie: E=  509 TWh²

(TWh: Terawattstunde = 1012 Wh = 1000 GWh)

Stunden im Jahr: Δt = 365 * 24h = 8.760 h

Im Mittel abgegebene elektrische Leistung:

 

Bevölkerung in Deutschland 2022: M= 84,3 Millionen³

Durchschnittliche Pro-Kopf-Leistung:

 

Jede Person in Deutschland zieht im Schnitt 0,69 kW elektrische Leistung. Zum Vergleich: USA: 1,41, Japan: 0,82, Russland: 0,75, China: 0,55, Indien: 0,1, Äthiopien: 0,01 kW, Werte abgeleitet aus: «Länderdaten».4

Schritt 2: Abschätzung des Pro-Kopf-Heizwärmebedarfs in Deutschland

Seit August letzten Jahres führen wir Protokoll über den Gasverbrauch in unserem 2001 gebauten Reihenmittelhaus (214 m², Wandheizung, Energieeffizienzklasse zwischen C und D). Im letzten Winter haben wir mit fünf Bewohnern im Schnitt pro Tag 90 kWh an thermischer Energie verraucht. Die drei ehemaligen Kinderzimmer sind an Studenten, Praktikanten oder junge Berufstätige vermietet. Rechnerisch stehen 42,8 m² pro Person zur Verfügung, etwas geringer als im bundesdeutschen Schnitt (47,7 m²/Person).5 2033 soll Klasse D Mindeststandard werden. Falls das klappt, wird unser Verbrauch in etwa dem allgemeinen Heizwärmebedarf entsprechen. Nehmen wir an, dass dann die Wärmepumpe die übliche Heizung ist. Um der kalten Aussenluft, bzw. dem Erdreich Energie zu entziehen und ins warme Innere des Hauses zu befördern, muss man 1/3 dieser thermischen Energie an elektrischer Energie einsetzen. Bei uns wären das 90 kWh/3 = 30 kWh. Wie viel erforderlich ist, hängt vom Unterschied zwischen Aussen- und Vorlauftemperatur ab. Werden Fussboden oder Wände beheizt, kommt man mit niedrigen Vorlauftemperaturen aus, so dass Wärmepumpen deutlich effizienter arbeiten als Heizkörper. Bei grossen Temperaturdifferenzen, z. B. wenn an einem kalten Tag ein Heizkörper warm gemacht werden muss, ist die Wärmepumpe nicht besser als ein stromfressender Radiator. Mit unserer Wandheizung sind die Verhältnisse günstiger als sonst im Bestand. Wenn wir die für 214 m2 erforderliche Wärmemenge auf die derzeitige pro Kopf-Wohnfläche umrechnen, erhalten wir die Menge an elektrischer Energie, die jeder mindestens zusätzlich für die Heizung benötigt:

 

Ein Wort zur Fernwärme: Hier wird die ohnehin abfallende Abwärme von thermischen Kraftwerken oder Müllheizkraftwerken⁶ genutzt. In Ballungsgebieten ist das eine gute Sache. Aber diese Kraftwerke sollen abgeschaltet werden. Regenerativer Ersatz, z. B. durch Nutzung von Geothermie oder Flusswärme7, ist möglich (Beispiel: Flusswärmepumpe in Wien), aber auch dafür braucht man Strom. Wir betrachten aber nur die 80 %, bei denen fossil betriebene Heizungen durch Wärmepumpen ersetzt werden. Diese benötigen pro Kopf und Tag mindestens 6,75 kWh*0,8 = 5,4 kWh zusätzliche Energie. Der Tag hat 24 Stunden. Wir müssen also in Deutschland pro Kopf rund 5,4 kWh/24h = 0,23 kW elektrische Leistung erzeugen. Die Stromproduktion müsste in den Wintermonaten um wenigstens 0,23 kW / 0,69 kW = 33 % gesteigert werden.

Schritt 3: Abschätzung der zusätzlich erforderlichen regenerativen Energien in den Wintermonaten

Nach den Plänen der Bundesregierung sollen hierfür ab 2030 (!) weder Kernkraft noch fossile Energien eingesetzt werden. Damit stünden dann noch folgende Energien zur Verfügung:

Energieträger

Derzeitiger Anteil an der
Stromproduktion [2]

Wind

24,1%

Biogas

5,8%

Wasser

3,2%

Sonstige

2,6%

Photovoltaik*

2,0%

Summe

37,7%

Elektrische Energie aus regenerativer Energie in Deutschland im Winter

*) Der Anteil der Sonnenenergie beträgt zwar derzeit 10 %, jedoch liegt der Energieertrag in den Wintermonaten nur bei 10 bis 20 % des Jahresmittelwerts8 , so dass ihr Anteil in den Wintermonaten auf 2 % sinkt. Wenn keine fossilen Energien mehr verwendet werden und gleichzeitig komplett auf Wärmepumpen umgestellt wird, muss der Anteil von Wind, Biogas, Wasser, sonstigen und Photovoltaik um den Faktor

 

erhöht werden.

In der Schweiz, in Österreich oder Norwegen kann Wasserkraft genutzt werden, in Deutschland steht im Winter regenerativ im Wesentlichen nur die Windenergie zur Verfügung, die im Schnitt 14 GW liefert (24,1 % von 58 GW Gesamterzeugung). Der Wind bläst nicht ständig, so dass

 

der installierten Windleistung von 64 GW abgerufen werden können.⁹

Schritt 4: Bewertung der Umsetzbarkeit

Wenn man die installierte Windenergieleistung auf 224 GW steigert, könnte man rechnerisch den Energiebedarf decken. Das Problem: Die Zeiten, in denen der Wind nicht weht, kann man auch mit der doppelten und dreifachen Anzahl der Windräder nicht abdecken. Wenn wir die Kohlekraftwerke abschalten, hätten wir an einem trüben windstillen Wintertag nur 13,6 % der elektrischen Energie zur Verfügung, die wir heute verbrauchen. Wir hätten pro Kopf soviel wie derzeit Indien – und ein Fünftel dessen, was China hat. Das langt uns vorne und hinten nicht. Die Kohlekraftwerke werden am Netz bleiben müssen – und zwar auch ohne die Umstellung auf Wärmepumpen und E-Autos. Wenn dann noch in grösserem Umfang Wärmepumpen zum Einsatz kommen und der Bedarf im Winter um 30 % steigt, wird man auch bereits stillgelegte Kohlekraftwerke wieder anfahren müssen.

Hinzu kommt: Der erforderliche Strom muss in die Fläche zu den Privathaushalten gebracht werden. Die hierfür erforderliche Infrastruktur ist nur in Ausnahmefällen vorhanden. Daher hofft man auf eine lokale Vorort-Versorgung durch Solarpanels, die auf Privathäusern installiert sind. Diese generieren an sonnigen Sommertagen eine Leistung, die bei weiterem Ausbau nicht abgeführt werden kann und im Winter langt sie trotzdem nicht. Eine saisonale Speicherung ist nur mit Pumpspeichern zu erreichen, von denen es nur wenige gibt. Batteriepuffer können nur zum Ausgleich von Tag- und Nachtschwankungen verwendet werden. Zudem werden hierzu häufig knappe Ressourcen wie Lithium verwendet, deren Abbau nicht unproblematisch ist.

Fazit für den Verbraucher

Wer jetzt Wärmepumpen in Deutschland mit regenerativen Energien betreiben will, dem geht es wie dem, der in der Nordsee bei Ebbe schwimmen möchte. Damit geht es nicht, sondern nur mit Kohlestrom. Kohleverstromung plus Wärmepumpe ist aber für das Klima deutlich schlechter als eine moderne Gasheizung mit Brennwerttechnik. Deshalb haben wir uns für den Tausch der Gasbrennwerttherme entschieden, allerdings für ein etwas kleineres Gerät, da die bisherige Therme überdimensioniert war. Durch Optimierung der Regler und Sparmassnahmen im Kleinen wollen wir versuchen, den Verbrauch weiter zu reduzieren. Mir wäre es lieber, wir hätten beim Tausch unserer Heizung eine bessere Alternative gehabt.

Was sollte die Politik tun?

Die meisten Experten sagen den Politikern, was sie hören wollen. Sonst werden sie beim nächsten Mal nicht mehr gefragt. Einwürfe von der Seitenlinie werden von den Mächtigen – anders als beim Fussball – nur selten aufgenommen. Man bleibt lieber unter sich. Aber nur wenn wir Bürger uns trauen, laut nach- und vorzurechnen, werden wir gehört. Ich beschränke mich auf die Frage des klimaneutralen Heizens. Die Lösungen sind alle nicht neu, aber zum Teil etwas aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Wärmepumpen sind eine gute Idee, mit der man sich schon lange beschäftigt. Vor 30 Jahren während meiner Zeit am Institut für Regelungstechnik bei Prof. Isermann hat am Prüfstand gegenüber immer ein Kollege an der Regelung einer Wärmepumpe geforscht, auch im Auftrag von Viessmann. Der Teufel steckte, wie so oft, im Detail. Unser Nachbar Richard, ein findiger Schlesier, hat, als wir gebaut haben, in seinem kleinen Garten Betonrohre verlegt, um eine Wärmepumpe zu speisen. «Die Luft kam mit 6 Grad an», sagte er, aber das Konzept hatte einen Fehler: Wenn die Wärmepumpe das Wasser warm machen musste, langte die Energie nicht mehr zum Heizen, und das Lüftungssystem blies für mehrere Stunden kalte Luft durchs Haus. Seitdem heizt er mit Gas. Solche Probleme sind heute sicher gelöst. In Kombination mit einer Fussboden- oder Wandheizung sind Richards Rohre im Garten eine tolle Sache für ein Reihenhaus. Im Bestand muss dann leider der schön gehegte Garten umgepflügt werden. Im Mehrgeschossbau mit Heizkörpern wird man die Wärme deutlich weniger effizient aus der normalen Umgebungsluft verwenden. Die entscheidende Frage ist: Wo kommt der Strom her?

Entsorgung nicht geklärt

Immer wieder wird gefordert, Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, obwohl die Entsorgung immer noch nicht geklärt ist. Wir trennen brav den Müll in vier verschiedenen Behältern, und dann hinterlassen wir atomaren Dreck, der viele Tausend Jahre gefährlich strahlt. Geht‘s noch? Wenn alles gut geht, schnurren die Kernkraftwerke ohne grosse Kosten vor sich hin, aber Rückbau und Entsorgung sind teuer. Ausserdem haben Kernkraftwerke immer ein Restrisiko, das grösser wird, je älter sie sind. Es gibt keine Versicherung, die einen Reaktorunfall absichert. Ein grosser Unfall gefährdet nicht nur Menschenleben, sondern kann eine ganze Region unbewohnbar machen. Wenn es dumm läuft, haben wir auf diese Weise plötzlich 1000 Tote, ein paar Millionen Binnenflüchtlinge und ein grosses Wirtschaftszentrum weniger. Das Risiko sollten wir nicht eingehen. Zwar ist  mittlerweile die Gefahr eines Atomkriegs in Europa mit vielen Millionen Toten viel grösser als ein Reaktorunfall vom Kaliber Tschernobyls, aber ist das ein Argument?

Strom aus der Wüste

Die Lösung ist Strom aus der Wüste. Gerhard Knies, früher Teilchenphysiker am Deutschen Synchrotron (DESY) in Hamburg, hat 1997 das Projekt «Desertec» angestossen und wichtige Global Player gewinnen können: Siemens, RWE, Greenpeace, Prinz Hassan von Jordanien: Alle waren an Bord.10 Das Projekt wurde leider durch eine klientelorientierte Subventionierung heimischer Solaranlagen und vor allem durch die US-Bomben auf Libyen verhindert. «We came, we saw, he (Ghaddafi) died», lachte Hillary Clinton damals. Die Lage war auch vorher nicht einfach: Die Grenze zwischen Marokko und Algerien ist seit 30 Jahren aufgrund von Grenzstreitigkeiten gesperrt. Die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile könnte die Situation ändern. Dass so etwas möglich ist, zeigt die kürzlich durch China vermittelte Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien. 

In der Wüste oder auch in Südeuropa kann Strom mit CSP (Concentrated Solar Power) gewonnen werden. Vorteil: Die gewonnene Energie lässt sich einige Stunden speichern, so dass auch in den Nachtstunden elektrische Energie abgegeben werden kann.11 Als ich mit Guangru, einem unserer Mitbewohner, der gerade in Darmstadt promoviert, über CSP sprach, zückte er sein Smartphone und zeigte mir auf einer chinesischen Webseite eine solche Anlage in der Nähe seiner Heimatstadt mit einer Leistung von 40 MW Peak mit 12 000 Spiegeln. Es sah beeindruckend aus; im Hintergrund spielte die Internationale. In China laufen gerade über 30 CSP-Projekte12, in Europa gibt es ein Thesenpapier: «Initiative Global Leadership».13 Papiertiger prahlen protzig und sterben still. Guangrus erster Kommentar zu Desertec: «Oh, this would create many jobs in North Africa.» Deutsche, denen ich von Desertec erzählt habe, sagen mir: «Wir dürfen uns von anderen nicht abhängig machen.» Lieber pflastern wir unsere eigenen Dächer mit Panels zu, obwohl wir in der Sahara das Vierfache an elektrischer Energie ernten können. Ich finde kleine autarke Lösungen toll – aber nicht, wenn sie die vierfache Menge an Ressourcen kosten wie eine grosstechnische Lösung. Und der Transport elektrischer Energie über grosse Entfernung ist ja nun nichts, was man neu erfinden müsste. Bereits vor 150 Jahren träumte der Sozialist August Bebel vom Strom aus der Wüste. 120 Jahre später hat Gerhard Knies diesen Traum weit nach vorne gebracht, bis Libyen im Chaos versank. Je zivilisierter die Welt ist, desto stärker die gegenseitige Abhängigkeit, und desto geringer der Wunsch, Krieg zu führen. Splendid Cooperation – wunderbare Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde.14

Herausforderung Netzstabilität

Bis der Strom aus der Wüste kommt, sollten die Gaslieferungen aus Russland über den einen noch verbliebenen Nordstream-Pipeline-Strang wieder aufgenommen werden. Es ist deutlich umweltfreundlicher bei Erzeugung und Transport als Flüssiggas und viel umweltfreundlicher als die Kohleverstromung. Schnell regelbare Gaskraftwerke sind die beste Ergänzung zur volatilen, heimisch erzeugten regenerativen Energie.15 Neue Verbraucher wie Wärmepumpen und E-Autos sowie die volatile Erzeugung von heimischem Solarstrom sind eine riesige Herausforderung für die Netzstabilität. Wir brauchen Speicher, Speicher und noch einmal Speicher, ob durch Elektrolyse von Wasserstoff, Nutzung des Gasnetzes als Druckspeicher oder Pumpspeicherkraftwerke. Man kann den Strompreis für den Verbraucher mit der verfügbaren Energiemenge schwanken lassen, aber da muss man vorsichtig sein.  Auf den Finanzmärkten werden nur Zahlen hin und her geschoben, in den elektrischen Netzen sind es gigantische Mengen unsichtbarer, aber realer Leistung. Jede Massnahme, die das Netz stabil macht, ist willkommen.  Was z. B. ginge: Ladestationen von E-Autos eines Quartiers werden vernetzt und stimmen ihre Ladevorgänge selbstständig miteinander ab und sorgen so für eine gleichmässige Auslastung.

Ressourcen- und Klimaschutz zusammendenken

Was in letzter Zeit vergessen wird: Ressourcen- und Klimaschutz müssen zusammen gedacht werden. Wenn wir auf Biegen und Brechen alle Prozesse «dekarbonisieren» und klimaneutral gestalten und dabei auch die letzten Ressourcen der Erde plündern, ist nichts gewonnen. Und dann ist  da noch der Egoismus der Eliten. Sie bewerten die Energieeffizienz nach der eingesetzten Energie pro Quadratmeter Wohnfläche – nicht nach der Anzahl der Personen, die sie bewohnen. So werden wohlhabende Pärchen aus den eigenen Kreisen in gut gedämmten, aber überdimensionierten Häusern abgefeiert, während Familie Schmalhans mit drei Kindern auf 80 Quadratmetern  im mässig gedämmten Mehrfamilienhaus böse Umweltsünder sind, obwohl ihr ökologischer Fussabdruck deutlich bescheidener ist.

Menschen mit Tatkraft gefragt

Edison hat einmal gesagt, Erfindung bestehe zu 1 % aus Inspiration und zu 99 % aus Transpiration. Uns fehlt beides – und ein Konzept haben wir auch nicht. Mit Angela Merkel waren wir 16 Jahre auf Baldrian und jetzt nehmen wir noch Speed dazu. Es gibt viele Bastler mit guten Ideen, wie etwa Andreas Schmitz,16 aber an den Schalthebeln der Macht fehlen Menschen mit Tatkraft, Kompetenz, nüchternem Sachverstand und Entscheidungsbefugnis, die die Sache zu einem Erfolg machen. 

Vor über 30 Jahren hat Björn Engholm, damals Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, ein Buch über den «öffentlichen Gebrauch der Vernunft»17 geschrieben. Er gibt einen nachdenklichen, selbstkritischen und treffenden Einblick in den Polit-Alltag mit seinem «unehrlichen Omnipotenzbewusstsein»: «Politiker in einer repräsentativen Demokratie meinen, sie müssten sich ständig selbst in Szene setzen, dürften niemals Ratlosigkeit zeigen … 

Vom Paulus zum Saulus

Ich bezweifle, dass die Probleme unserer Zeit mit dieser Art von Populismus, Kurzatmigkeit, Anmassung und begrenzter Perspektive zu lösen sind.» Das Buch enthält auf knappem Raum tiefschürfende Erkenntnisse zu vielen wichtigen Themen. Am Schluss heisst es: «Im immerwährenden Drang, der Wirklichkeit eine Möglichkeit entgegenzusetzen, verbirgt sich jenes Hoffen auf eine gerechte, friedfertige, freie Zukunft, das uns die Kraft gibt, das Gegenwärtige zu tragen, ohne den Elan zu verlieren, das Noch-Nicht-Mögliche zu erstreben … Das mag eine Sisyphusarbeit sein. Aber wer sagt denn, das Sisyphus ein unglücklicher Mensch gewesen ist?» Drei Jahre später stolperte Engholm als SPD-Kanzlerkandidat über eine frühere uneidliche Falschaussage, trat von allen Ämtern zurück und legte sich als Berater ins warme Bett von Preussen Elektra, dem Betreiber der Kernkraftwerke Brokdorf und Brunsbüttel. Als Politiker hatte er diese beiden Standorte vehement bekämpft.18 Hättest du das Geld nicht genommen, wärst du ein Philosoph geblieben.

Quellen (Internetseiten abgerufen im Mai 2023, ausser 14)

¹ www.bdew.de/media/documents/Pub_20191031_Wie-heizt-Deutschland-2019.pdf
² www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Energie/Erzeugung/_inhalt.html
³ www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt.html
4 www.laenderdaten.info/
5 www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/wohnflaeche#entwicklung-von-bevolkerung-und-wohnungsbestand-in-bundeslandern-unterschiedlich
www.heizsparer.de/heizung/heizungssysteme/fernwaerme/fernwaerme-brennstoffe
7 von Oehsen, Ahmani (2021).Potenzialstudie Klimafreundliche Fernwärme ohne GKM 2030. BUND: Heidelberg. www.bund-rhein-neckar-odenwald.de/themen-und-projekte/umwelt-klimaschutz/klimaschutz/
8 RWE Energie (1998), Bau-Handbuch,

15. Auflage Kap. 17: Sonnenenergie, S. 17/5. RWE Energie AG: Essen.
www.wind-energie.de/themen/zahlen-und-fakten
10 Schmitt, Thomas (2018). (Why) did Desertec fail? An interim analysis of a large-scale renewable energy infrastructure project from a Social Studies of Technology perspective Local Environment. Int. Journal of Justice and Sustainability. Mai 2018. Taylor&Francis Online. www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13549839.2018.1469119
11 Nold, Stefan (2021) Kann ein Dackel den Planeten retten? Humane Wirtschaft 01/2021, S. 36–45.
12 www.solarpaces.org/china-now-has-30-csp-projects-with-thermal-energy-storage-underway/
13 European Commission (2/2023). Initative for Global Leadership in Concentrated Solar Power Technologies. Updated implementation plan. setis.ec.europa.eu/implementing-actions/concentrated-solar-thermal-technologies_en
14 Nold, Stefan (2022). Splendid Cooperation – Wunderbare Zusammenarbeit. Humane Wirtschaft 03/2022, Seite 35 – 42.
15 Strössenreuther, Heinrich und  Claas Helmke (12/2019). Der 1,5-Grad Klimaplan für Deutschland. S. 22 German Zero e.V: Hamburg und Berlin. www.germanzero.de (abgerufen 3/2020)
16 www.youtube.com/watch?v=JTLO4eMqSOU
17 Engholm, Björn (1990). Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft. S. 63, S. 66, S. 238–239. Claassen Verlag: Düsseldorf
18 de.wikipedia.org/wiki/Bj%C3%B6rn_Engholm

veröffentlicht 12.Juli 2023

«Klimaschutz» treibt seltsame Blüten: Irland prüft, für die EU-Klimaziele 200 000 Milchkühe zu töten

von Susanne Lienhard

In der «BauernZeitung» vom 23. Juni war Folgendes zu lesen: «Um die EU-Klimaziele zu erfüllen, prüft die irische Regierung eine drastische Massnahme: Laut dem irischen Landwirtschaftsminister Charlie McColalogue könnten in den nächsten drei Jahren 200 000 Kühe getötet werden, um die Methanemissionen des Landes zu reduzieren. Die Milchkuhbestände würden damit um 10 Prozent reduziert.» Dies, obwohl Kühe erwiesenermassen einen unverzichtbaren Beitrag zur Ernährungssicherheit und zur Biodiversität leisten.

Die irischen Bauern tragen massgeblich zu einer gesunden und kostengünstigen Ernährung ihrer Mitmenschen bei, fördern durch die Vollweidehaltung die Biodiversität und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. (Bild zvg)

Die irischen Bauern tragen massgeblich zu einer gesunden und kostengünstigen Ernährung ihrer Mitmenschen
bei, fördern durch die Vollweidehaltung die Biodiversität und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum
Klimaschutz. (Bild zvg)

Rinder sorgen für Humusaufbau

Der Agraringenieur Ulrich Mück, seit über 30 Jahren Grünland-Berater bei Demeter Bayern, betonte in einem Vortrag Ende Mai letzten Jahres, dass die Methanausatmung der Bovinen nicht den menschengemachten Klimafaktoren zugerechnet werden dürfe, da die Rinder über 25 Millionen Jahre weltweit zum Humusaufbau im Dauergrünland beigetragen hätten und massgeblich zur Biodiversität beitragen würden. Laut einer kanadischen Studie leben 267 Insektenarten allein vom Kuhfladen, darunter viele Käfer, von diesen wiederum viele Vögel und Fledermäuse. Alles, was die Kuh auf der Weide tue, wirke in Richtung Vielfalt der ökologischen Nischen und ihrer Bewohner. Selbst die kleinen Zerstörungen durch Tritte gehörten dazu, damit an den geöffneten Bodenstellen die darauf spezialisierten Pflanzen keimen könnten.¹

Gesunde und kostengünstige Ernährung

Viele irische Milchkuhhalter halten ihre Kühe bis zu 10 Monate pro Jahr auf der Weide. Diese Vollweidehaltung trägt dazu bei, die Futterkosten gering zu halten und Kraftfutter nur in geringen Mengen einzusetzen.² Die irischen Bauern tragen also massgeblich zu einer gesunden und kostengünstigen Ernährung ihrer Mitmenschen bei, fördern durch die Vollweidehaltung die Biodiversität und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. 

Die Idee, 200 000 gesunde Kühe zu töten, die für Mensch und Umwelt Unverzichtbares leisten, um die «EU-Klimaziele» zu erreichen, ist an Zynismus nicht zu übertreffen. Dies umso mehr in einer politisch unsicheren Zeit. 

Gemäss einer Umfrage der irischen Beratungsfirma BehaviourWise im August 2022 zur Einstellung zur Verteidigungspolitik äusserten sich die Befragten sehr besorgt über den Krieg in der Ukraine und die Ernährungssicherheit. Sie zeigten sich besonders beunruhigt über steigende Lebensmittelpreise und mögliche Lebensmittelengpässe. 

Irland ist bis anhin kein Nato-Mitglied und betreibt seit langem eine Politik der militärischen Neutralität. Seit dem Einmarsch Russ­lands in die Ukraine wird jedoch verstärkt darüber diskutiert, ob dieser Ansatz beibehalten werden soll oder ob das Land der Nato oder einer allfälligen EU-Armee beitreten sollte. Als Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage hat die irische Regierung im Juli letzten Jahres eine Rekordsteigerung der Verteidigungsausgaben beschlossen. 

Laut einer Schätzung der unabhängigen britischen Wissenschaftsorganisation «Scientists for Global Responsibility» sind Armeen weltweit für fünf bis sechs Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich.³ 

Irland könnte einen nachhaltigeren Beitrag zum Klimaschutz leisten, indem es seine Neutralität wahrt und sich für Friedensverhandlungen einsetzt, anstatt die irische Ernährungssicherheit auf dem Altar der EU-Klimaziele zu opfern und einen Nato-Beitritt in Betracht zu ziehen.

¹ Nikola Patzel: «Kühe und Menschen (und Klima)» in Zeitgeschehen im Fokus Nr. 18/19 vom 12.10.22)
² www.agrarheute.com/tier/rind/milchwirtschaft-irland-vollweide-statt-stallhaltung-522214
³ Martin Angeler: Der Klimafaktor Militär wird übersehen. In «NZZ» vom 30.07.2022

veröffentlicht 12.Juli 2023

«Eine glaubwürdige Neutralität ohne eine zuverlässige Neutralitätspolitik gibt es nicht»

von Thomas Kaiser

Westliche Politiker einschliesslich einzelner Schweizer Bundesräte beschwören seit dem Beginn des Ukrainekriegs die von den PR-Beratern Olaf Scholz’ erfundene «Zeitenwende», die zigfach von den Medien kolportiert und damit regelrecht in die Köpfe der Menschen gehämmert wurde. Auch die Schweizer Bevölkerung blieb davon nicht verschont. Auf einmal waren wir alle Ukrainer. Es gab in der Folge Entwicklungen, die man vorher kaum für möglich gehalten hätte: eine Kriegshysterie wie am Anfang des Ersten Weltkriegs und eine Waffenproduktion ungeahnten Ausmasses. Der Westen war sich einig: Wir sind gut, Russland ist die Inkarnation des Bösen. Doch so einfach gestrickt ist die Welt nicht, und schon gar nicht der Ukrainekonflikt.

Tatsächlich hat der Krieg im internationalen Geschehen vor allem eines bewirkt: Er hat die Fronten geklärt. Was kritische Beobachter schon lange wahrnehmen, zeigt sich nun in aller Deutlichkeit: Die Erweiterung der Nato nach Osten ist gegen Russland gerichtet; die zunehmende Kritik an China beschwört den nächsten Konflikt herauf und die Entwicklung der Nato von einem Verteidigungs- zu einem Kriegsbündnis wird offensichtlich. Gerne wäre die Nato eine von der Uno legitimierte Weltpolizei, die überall auf der Erde eingreifen könnte, wenn westliche Lebensvorstellungen nicht eingehalten werden. Durch massive Reaktion des Westens auf den Ukrainekrieg ist eine Polarisierung entstanden, die sich heute in der globalen Entwicklung zeigt. Schon 2008 warnte Michael Gorbatschow vor einem neuen Kalten Krieg, und er hatte aufgrund seiner politischen Erfahrung ein gutes Gespür dafür, insbesondere, weil er diesen durch seine Versöhnungspolitik mit dem Westen, vor allem mit Deutschland, beendet hatte. Bei seinem Besuch in Bonn sagte er 1989, ein neues Kapitel zwischen beiden Ländern sei aufgeschlagen. Damit sollten die jahrzehntealten Ressentiments der Vergangenheit angehören. Dass Wladimir Putin diese von Gorbatschow begonnene Politik des «gemeinsamen Hauses Europa» hatte weiterführen wollen, kommt in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 25.  September 2001 zum Ausdruck: «Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf, und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.»¹  

Alarmglocken in den USA

Diese Initiativen, die Putin ergriffen hatte, wurden vom Westen nur zögerlich oder gar nicht angenommen. Zu sehr war Europa in die Abhängigkeit von den USA verstrickt. Alle weiteren Versuche, zu einer kooperativen Annäherung zu kommen, die nicht nur auf wirtschaftlichen Vorteilen beruhen sollte, lief mehrheitlich ins Leere. Man beantwortete die Initiativen mit der Nato-Ost-Erweiterung und mit dem Aufstellen eines Raketenschutzschildes in Polen und Rumänien – angeblich um Raketen aus dem Iran(?) abzufangen. Putin erkannte, dass die Raketen gegen Russland gerichtet waren, auch wenn sie als Abwehrraketen definiert wurden. Dass der Schutz vor Irans Atomraketen nur eine Farce war, verstanden die polnischen und rumänischen Befürworter dieses «Schutzschildes»: «Doch Ländern wie Polen oder Rumänien, den beiden einzigen osteuropäischen Standorten für das US-Raketenabwehrsystem, geht es weniger um eine nukleare Bedrohung aus dem Iran. Für sie ist die US-Investition ein Sicherheitsgarant gegen Russland.»² Die Erweiterung der Nato ging ungebremst weiter trotz von russischer Seite klar formulierter Sicherheitsbedenken. Ganz zu schweigen, dass die Erweiterung der Nato einen Bruch der Zusicherung darstellte, die vom Westen der damaligen Sowjetunion gegeben worden war, nämlich dass sich die Nato keinen Zoll Richtung Osten ausdehnen würde.

Als sich nach dem Ende der Sowjetunion konkret die Möglichkeit ergab, ein engeres Zusammengehen mit Russland zu erreichen, und in Europa ein grosser Wirtschafts- und Sicherheitsraum hätte entstehen können, schrillten in den USA die Alarmglocken. Seit Jahrzehnten war es die Politik der USA, ein engeres Zusammengehen Europas mit Russland zu verhindern. Vor einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, der die Vormachtstellung der USA als Weltmacht gefährden könnte, warnte der inzwischen verstorbene Sicherheitsberater verschiedener US-amerikanischer Präsidenten, Zbiginiew Brzeziński, bereits in seinem 1997 erschienen Buch «Die einzige Weltmacht».³

Lange unheilvolle Entwicklung

Es ist offensichtlich, dass der Reaktion des Westens auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine eine lange unheilvolle Entwicklung vorausging, die insbesondere vom Westen betrieben wurde. Hier ist nur ein kleiner Ausschnitt dokumentiert.

Die Pressekonferenz im Februar 2022 nach dem Treffen zwischen Biden und Scholz zeigte in aller Deutlichkeit, welche Chance sich der USA durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine bot: den Energiefluss zwischen Deutschland und Russland mit der Zerstörung der Pipelines Nord Stream 1 und 2 endgültig zu beenden.4 Den ersten Schritt dazu vollzog bereits Donald Trump. Eine Sprengung der Pipeline bzw. physische Zerstörung liessen die politischen Verhältnisse damals noch nicht zu. So griff Trump auf die verbotene Wunderwaffe der USA und des Westens, «unilaterale Sanktionen», zurück und belegte alle Firmen damit, die an der Pipeline bauten.5 Joe Biden vollendete das angefangene Werk Trumps.

Neutralität schon lange unter Beschuss

In Anbetracht dieser «Irrungen und Wirrungen», der Desinformation und Propaganda sowie der Unkenntnis der Situation, besonders wenn man die Vorgeschichte des Konflikts betrachtet, und die unglaubliche Manipulation der meisten Mainstreammedien, müssen sich alle Staaten in ihrer Reaktion äusserste Zurückhaltung auferlegen, vor allem neutrale Staaten. Am Anfang des Konflikts waren die Zusammenhänge nur von wenigen durchschaut worden, alles schien plötzlich und unerwartet und wurde auch dementsprechend den Menschen serviert. Inzwischen lichtet sich der Nebel immer mehr, denn neben vielen anderen haben verschiedene Militärs dazu Stellung genommen und wichtige Zusammenhänge aufgezeigt. Aufgrund der fehlenden Besonnenheit, fehlender Weitsicht und mangelnder Informationen – nicht einmal die eigenen Experten hat man konsultiert –, ist die Schweiz regelrecht in den Konflikt «hineingetaumelt». Es wird nicht ganz einfach sein, wieder eine eigenständige Position zu finden, die der Schweiz und ihren Grundfesten gerecht wird. Das Ausland hat gemerkt, die Schweizer Neutralität ist «verwundbar». Aber es ist möglich trotz Verwundung, sie zurückzuholen, wenn der politische Wille vorhanden ist.

Der Neutralität einen Tiefschlag versetzt

Nachdem Bundesrat Cassis den Schulterschluss mit Selenskij auf dem Bundesplatz zelebriert und der Bundesrat sich gerühmt hatte, innert weniger Tage den Entscheid gefällt zu haben, die Sanktionen der EU in Globo zu übernehmen, wurde der Neutralität ein schwerer Tiefschlag versetzt. «Ausländische Medien haben bereits das Ende der Schweizer Neutralität verkündet», so schreibt die «NZZ»: «Auch wenn nach Ignazio Cassis das alles mit der Neutralität der Schweiz vereinbar sei, nimmt das Ausland dies ganz anders wahr.»⁶ Was nützt die Neutralität, wenn der «Neutrale» nicht mehr so wahrgenommen wird?

Warum das so ist, bringt der langjährige Schweizer Diplomat und Buchautor, Paul Widmer, in seinem neusten Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» auf den Punkt: «Eine glaubwürdige Neutralität ohne eine zuverlässige Neutralitätspolitik gibt es nicht.»7

Der Abbau der Neutralität begann bereits in den 90er Jahren mit dem Beitritt der Schweiz zur Nato-Unterorganisation PfP. Auch gab es immer hohe Militärs bis zum ehemaligen Chef der Armee, Christophe Keckeis, die eine verstärkte Annäherung der Schweiz an die Nato befürworteten. Samuel Schmid, der ehemalige Bundesrat und Vorsteher des VBS, war ebenfalls für eine engere Zusammenarbeit mit der Nato.8 Schweizer Offiziere unter dem Kommando der Nato nach Afghanistan zu schicken, war ein mit der Neutralität kaum zu vereinbarender Entscheid.

Sanktionen mit der Neutralität nicht vereinbar

Hat der Bundesrat 2014 nach der Übernahme der Krim durch Russland die damals verhängten Sanktionen nicht übernommen, sondern nur versucht, mögliche Umgehungsgeschäfte zu verhindern, übernimmt er im aktuellen Konflikt alle Sanktionen gegen Russland und verkauft scheibchenweise unsere Neutralität: «Die Schweiz darf sich nicht einer Staatengruppe anschliessen, die mit Waffenlieferungen die eine Konfliktpartei unterstützt und die andere mit Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen will. Das lässt sich mit dem Gebot der Überparteilichkeit nicht mehr vereinbaren.»⁹ Zwar beschwört der Bundesrat immer wieder, dass die Sanktionen mit der Neutralität vereinbar seien, aber der Fall ist klar, wie Paul Widmer schreibt. 

Sozialdemokraten für Waffenlieferungen

Bei den Waffenlieferungen an die Ukraine hat der Bundesrat bisher «Nein» gesagt und sich dabei nicht nur auf die Neutralität, sondern auch auf das geltende Gesetz berufen. Wie lange dieses Gesetz noch bestehen wird, ist offen. Beide Räte stimmten einer Änderung des Waffenausfuhrgesetzes zu, mit den Stimmen der Sozialdemokraten, die erst vor kurzem eine Verschärfung des Gesetzes veranlasst hatten.10 Dass unser Land wegen der verlangten Waffenlieferungen unter internationalem Druck steht, ist offensichtlich.11 Am letzten Freitag war der deutsche Verteidigungsminister in der Schweiz und drückte an einer Pressekonferenz offensichtlich seine Enttäuschung über die Haltung des Bundesrats aus, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.12 Es scheint so zu sein, dass die EU-Staaten und die USA keinen neutralen Staat mehr in Europa wollen. Damit muss die Schweiz sich noch deutlicher als neutraler Staat positionieren und keine faulen Kompromisse eingehen. Würde die Schweiz am Ende tatsächlich Waffen liefern, ist es um die Neutralität endgültig geschehen. Ähnlich wie der Schweiz ergeht es auch Österreich und Irland, an deren Neutralität heftig gerüttelt wird.

Neutralität Schritt für Schritt entkernen

Die Nato ist immer daran interessiert, als verlängerter Arm der USA ihr Territorium auszudehnen, und findet in der Schweiz eine «leichte Beute». «Leider scheint das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) noch weiter gehen zu wollen. In einem Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine erwägt das VBS eine neue Stufe der Kooperation mit der Nato, ‹indem sich die Schweizer Armee an Übungen der Nato im gesamten Spektrum beteiligen würde› […]. Auch bekäme die Nato das Recht, die Interoperabilität von Armeeverbänden in der Schweizer Armee zu überprüfen. Dieser Bericht verdeutlicht, wie man in einigen sicherheitspolitischen Kreisen innerhalb und ausserhalb der Verwaltung die Neutralität Schritt für Schritt entkernen möchte.»13

Viola Amherd will die Schweiz an die Nato heranführen

Dazu passt, dass die Departementsvorsteherin des VBS, Viola Amherd, die Schweiz bei der Deutschen Sky-Shield-Initiative einbinden möchte. Diese Initiative Deutschlands beruht auf der unbelegten Auffassung, Putin würde demnächst ganz Europa angreifen, mit einer Armee, die nach westlichen Mainstream-Experten in einem «desolaten Zustand» ist, «keine oder rostige Munition» hat und der die «Soldaten reihenweise davonrennen». Also ist es völlig lächerlich, von der Schweiz aus, sich unter diesen Sky Shield zu begeben, an dem bisher 17 Staaten beteiligt sind. Eine Vereinheitlichung der Waffensysteme wird die Schweiz noch näher an die Nato heranführen. Am letzten Freitag unterschrieb die Schweiz zusammen mit Österreich unter Beisein des deutschen Verteidigungsministers eine Absichtserklärung, an diesem Sky Shield mitmachen zu wollen.14 Viola Amherd, für die die Neutralität der Schweiz ein antiquierter Zustand zu sein scheint, kann sich, wie im Folgenden zu lesen ist, gut in die Reihe flatternder Windfahnen stellen. Es wäre eine Karikatur wert, wenn das Ganze nicht an die Substanz unseres Staatswesens ginge.

Neutralität wird sich durchsetzen

Die Schweiz war in Krisenzeiten bei der Auslegung und Einhaltung der Neutralität häufig unter Druck. So überlegte der Zürcher freisinnige Nationalrat zur Zeit des Ersten Weltkriegs, «ob sich die Schweiz nicht der Neutralität entledigen und sich klar auf die vermeintliche Siegerseite positionieren sollte.»14

Der Schweizer General UIrich Wille schlug während des Ersten Weltkriegs vor, «die Neutralität aufzugeben und sich auf die Seite der Mittelmächte zu schlagen.»15

Beruhigend an der ganzen Entwicklung ist, dass sich die Neutralität immer wieder durchgesetzt hat, auch vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Bundesrat hatte die «differenzielle» Neutralität eingeführt, um dem Völkerbund beitreten zu können. 1938 ist die Schweiz dann wieder zur «integralen» Neutralität zurückgekehrt. Auch damals wie heute ging und geht es darum, dass sich das Land selbstbehaupten kann.

Konsequente Neutralität gefordert

Wenn der Bundesrat, wie bei einzelnen Vertretern zu beobachten ist, nicht konsequent neutral handelt, gefährdet er Land und Leute. Wenn sich innerhalb des Gremiums die Neutralität nicht durchsetzen kann, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger in die Hosen steigen und ihren Willen kundtun. Die Neutralitätsinitiative, die die Neutralität in der Verfassung festschreiben will, ist ein Hoffnungsschimmer.16 Die Bürgerinnen und Bürger müssen ihren Willen kundtun und sich nicht von den Medien manipulieren lassen, die Formen von Neutralität entwickeln, die mit ihrem Ursprung und ihrer Zielsetzung nichts mehr zu tun haben.

¹www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966
² www.mdr.de/heute-im-osten/raketenabwehrsystem-usa-rumaenien-polen-100.html
³ Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft; Nachdruck des Originals von 1997 
4 www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Pressekonferenz+Scholz+und+Biden#fpstate=ive&vld=cid:8c8f2f41,vid:MHspFgXXbtE
5 www.atlantik-bruecke.org/die-sanktionsspirale-der-usa-gegen-nord-stream-2/
www.nzz.ch/schweiz/neutralitaet-fand-in-der-schweiz-gerade-eine-zeitenwende-statt-ld.1672706?reduced=true
7 Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr; S. 104
8 www.swissinfo.ch/ger/plaedoyer-fuer-staerkeres-nato-engagement-der-schweiz/5747300
⁹ Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr; S. 104
10 www.tagesanzeiger.ch/fdp-sp-deal-soll-waffenweitergabe-an-die-ukraine-ermoeglichen-967562764491
11 de.euronews.com/2023/05/12/schweiz-waffenlieferungen 
12 www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/amherd-unterschreibt-absichtserklaerung-fuer-sky-shield?urn=urn:srf:video:6f5fb1d2-8a45-4f5e-8540-a6710b9821b1
13 Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr; S. 104
14 www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/amherd-unterschreibt-absichtserklaerung-fuer-sky-shield?urn=urn:srf:video:6f5fb1d2-8a45-4f5e-8540-a6710b9821b1
15 Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr; S. 102
16 neutralitaet-ja.ch/

veröffentlicht 12.Juli 2023

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